Kapitel 19 ~ Dieser Ehrwürdige wird dir eine Geschichte erzählen

Das Mädchen hatte ein reizendes ovales Gesicht mit heller Haut, angenehmen Gesichtszügen und großen, runden Augen. Sie trug einen hellrosa Ruqun mit hochgestecktem Haar und wirkte wie eine junge, unschuldige und unerfahrene Frau. Benommen rieb sie sich die Augen und spähte in die Dunkelheit, die sie umgab.

„Wo... bin ich?"

„Ihr befindet Euch innerhalb der Wiederherstellungsbarriere, die ich errichtet habe“, antwortete Chu Wanning.

Das Mädchen war schockiert. „Wer seid Ihr?", fragte sie verwirrt. „Warum ist es hier stockfinster? Ich kann Euch nicht sehen. Wer spricht?“

„Habt Ihr es vergessen? Ihr seid schon tot“, sagte Chu Wanning.

Die Augen des Mädchens weiteten sich. „Ich bin schon... ich..."

Allmählich kehrten ihre Erinnerungen zu ihr zurück. Sie senkte den Kopf und presste die Hände auf die Brust. Da war kein Herzschlag. Sie stieß einen leisen Laut des Verstehens aus und murmelte: „Ich bin … Ich bin bereits tot…“

„Nur Seelen können in diese Wiederherstellungsbarriere eindringen. Hier drin wird jeglicher Hass ausgelöscht. Diejenigen, die eingeschlossen sind, werden, unabhängig davon, ob sie sich in einen bedrohlichen Geist oder einen normalen Geist verwandelt haben, den Charakter und das Aussehen wiedererlangen, die sie ein Leben lang besessen haben. Daher ‘Wiederherstellung’“.

Verblüfft war das Mädchen für einen Moment in Gedanken versunken, als würde sie sich allmählich an ihr vergangenes Leben erinnern. Dann senkte sie abrupt ihr Gesicht und begann lautlos zu weinen.

„Habt Ihr... etwas zu beklagen", fragte Chu Wanning.

Die Stimme des Mädchens war voller Tränen. „Seid Ihr Fürst Yanluo? Oder sind Sie Bai Wuchang? Seid Ihr hier, um mir Gerechtigkeit zu bringen?“

Chu Wanning legte eine Hand auf seine Schläfe. „Ich bin nicht Fürst Yanluo, und ich bin auch nicht, Bai Wuchang.“

Das Mädchen weinte leise.

Chu Wanning beschloss, diese Annahme nicht zu klären, und fragte stattdessen: „Wisst Ihr, was Ihr getan habt, dass Ihr gestorben seid?“

„Ich weiß nicht... Es ist nicht klar. Ich erinnere mich nur, dass es sehr, sehr traurig war. Ich wollte Rache... Ich wollte sie verfolgen... Und ich wollte ihn finden..."

Wenn die Seelen zum ersten Mal zurückgebracht werden, können sie sich eine Zeit lang nicht an eine Reihe von Dingen erinnern, aber das war in Ordnung. Chu Wanning fragte geduldig: „Wen wolltet Ihr finden?“

„Meinen Mann“, antwortete das Mädchen sanft. „Chen Bohuan.”

Chu Wanning zog sich zurück, Chen Bohuan ‒ war das nicht der Name des ältesten Sohnes der Familie Chen? „Wie... lautet Euer Name? Woher kommt Ihr?"

Tianwens Macht erfüllte dieses Reich der Illusion innerhalb der Barriere und die Verstorbenen, die sich darin manifestierten, würden sich daher wahrheitsgemäß und ehrlich mit Chu Wanning unterhalten. So antwortete das Mädchen: „Mein Name ist Luo Xianxian, ich komme aus der Schmetterlingsstadt."

„Bevor ich hierherkam, habe ich die Ahnenrolle von Schmetterlingsstadt durchgesehen. Diese Stadt hat nur etwa fünfhundert Haushalte, von denen keiner Luo heißt. Wer war Euer Vater?“

Das Mädchen nahm sich Zeit, um sich an die Einzelheiten zu erinnern, und die Qual in ihren Augen wurde deutlicher. „Mein Vater war hier früher ein Gelehrter, ein enger Freund meines Schwiegervaters. Vor einigen Jahren erkrankte er an Tuberkulose und starb. Danach war ich die Einzige im Haushalt.“

„Wie seid Ihr gestorben?"

Das Mädchen war verblüfft und weinte dann heftiger. „Ich hatte keine andere Wahl als den Tod. Sie ‒ sie haben meinen Papa getäuscht und ihn dazu gebracht, mir seine geheime Formel für den Duft zu hinterlassen. Sie haben mich auch geschlagen und angeschrien, mir gedroht, mich gezwungen, Schmetterlingsstadt zu verlassen. Ich... Ich war nur eine schwache Frau, wohin hätte ich sonst gehen können? Ich habe keine anderen Verwandten mehr auf dieser Welt ... Die Welt ist so groß, aber wohin hätte ich gehen können? Außer zur Unterwelt, wo hätte ich sonst hingehen können...?"

Sobald die Erinnerungen an ihr vergangenes Leben zu ihr zurückgekehrt waren, schien ihr Herz von endlosem Leid und Qual überströmt zu sein, was sie begierig darauf machte, jemandem davon zu erzählen. Obwohl Chu Wanning sie nicht weiter aufforderte, sprach sie langsam von sich aus weiter.

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Es stellte sich heraus, dass diese Luo Xianxian ihre Mutter verloren hatte, als sie noch sehr jung war, und laut ihrem Vater hatte sie auch einen älteren Bruder. Ihr Bruder war jedoch während einiger Unruhen im unteren Kultivierungsreich verschwunden und sie würden ihn nie wiedersehen. Sie wussten auch nicht, ob er lebte oder tot war. Sie hatte ihr erstes Lebensjahr noch nicht erreicht, als ihr Bruder verschwand ‒ sie wurde damals noch in Windeln gewickelt. Später, als sie versuchte, sich an ihren älteren Bruder zu erinnern, hatte sie keinen nennenswerten Eindruck von ihm.

Somit bestand der Haushalt der Lous nur aus Xianxian und ihrem Vater, und die beiden waren voneinander abhängig, um zu überleben. Sie ließen sich überallhin treiben, bevor sie sich schließlich in einem kleinen Haus in der Schmetterlingsstadt niederließen.

Luo Xianxian war in diesem Jahr fünf Jahre alt geworden. Der älteste Sohn des Hauses Chen, Chen Bohuan, war zwei Jahre älter als sie.

Damals war das Haus Chen noch nicht reich gewesen. Die ganze Familie lebte zusammengepfercht in einem kleinen Häuschen mit zwei Zimmern, und neben der Mauer im kleinen Hof wuchs ein Mandarinenbaum. Der im Herbst voller Früchte war. Die üppigen Äste wuchsen über die niedrige Mauer und ragten in den Hof der Familie Luo.

Luo Xianxian mochte es ihren Kopf heben, um die Zweige zu betrachten, die an denen Mandarinen baumelten, wie die Laternen, die für das Laternenfest beleuchtet wurden. Sie war ein introvertiertes Kind und spielte nicht mit anderen. Stattdessen saß sie still auf ihrer kleinen Klappbank und schälte Sojabohnen, während sie heimliche Blicke auf die Mandarinen warf, die aus dem Garten der Familie Chen über sie lugten.

Die Mandarinen waren lebendig und verlockend; in die Sonne blickend konnte man sich leicht vorstellen, dass sie mit einem säuerlichen und süßen Saft prall gefüllt waren. Luo Xianxian starrte sie fest an und schluckte von Zeit zu Zeit schwer, ihre Wangen schmerzten vor Hunger.

Trotzdem streckte sie nie die Hand aus, um sie zu pflücken. Ihr Vater war ein mittelmäßiger und untauglicher Gelehrter, der die Beamtenprüfungen nicht bestanden hatte. Er hatte jedoch bei der Wahrung seiner Würde und Integrität nicht versagt. Tatsächlich war der mürrsiche Gelehrte wohl etwas kaputt im Kopf; er sagte seiner Tochter ständig, sie solle ein ‘Gentleman‘ sein.

Im Alter von drei Jahren wusste Luo Xianxian bereits, dass die Moral nicht durch Reichtum korrumpiert werden sollte und Integrität nicht durch Armut beeinträchtigt werden sollte. Sie hätte vielleicht hingesehen, aber ihre Hände kamen nie auch nur einen Zentimeter an diese Mandarinen heran, die so nah in Reichweite waren.

Eines Nachts, als Luo Xianxian das Mondlicht nutzte, saß sie im Hof, um Kleidung zu waschen, und schnaufte und keuchte, während sie arbeitete. Der Gesundheitszustand ihres Vaters war nicht besonders gut, und er war längst zu Bett gegangen. Verarmte Kinder lernen früh, sich um ihren Haushalt zu kümmern, und so hatte das kleine Mädchen den Ärmel hochgekrempelt, ihre dünnen Ärmchen in den Holzeimer getaucht, ihre Wangen aufgeblasen, während sie energisch schrubbte.

Plötzlich ertönte ein kratzendes Husten von der Haustür und ein junger Mann voller Blut stolperte herein, um sie anzustarren. Das kleine Mädchen war so versteinert, dass sie sogar das Schreien vergaß.

Das Gesicht des jungen Mannes war mit Blut und Schmutz verkrustet, doch seine Brauen waren stark und schön. Die beiden musterten einander, der eine groß und die andere klein, erstarrten auf ihren Plätzen. Schließlich konnte sich der junge Mann nicht mehr festhalten und rutschte langsam eine Wand hinunter in eine sitzende Position. Sein Atmen war mühsam, als er krächzte: „Gib mir etwas Wasser.“

Vielleicht lag es daran, dass der junge Mann nicht wie ein Bösewicht aussah, oder vielleicht war es Luo Xianxians eigene Freundlichkeit, aber obwohl sie Angst hatte, rannte sie hinein und füllte einen Becher und brachte sie dann an die Lippen des jungen Mannes.

Auch der junge Mann hielt sich nicht zurück und schluckte das Wasser kräftig hinunter. Als er geendet hatte, wischte er sich über die Mundwinkel, und seine Augen hoben sich, um Luo Xianxians charmantes Gesicht anzustarren. Sein Blick war ein wenig intensiv, aber er sagte kein einziges Wort.

Da er nicht sprach, sprach auch Luo Xianxian nicht. Sie blinzelte ihn nur ängstlich an, blieb in einem Abstand, den sie für sicher hielt, hielt ihre Hände nicht zu nah und nicht zu weit weg, während sie diesen Fremden beobachtete.

„Du siehst aus wie jemand, den ich einmal kannte." Die Lippen des jungen Mannes kräuselten sich plötzlich und seine Augen formten sich zu Halbmonden, als er sie kalt anlächelte. Mit all dem Blut auf seinem Gesicht, das zu seinem Lächeln passte, sah er etwas wild aus. „Besonders die Augen, so groß und rund. Wecken in mir die Lust, sie auszugraben ‒ sie mit einem Finger zu zerdrücken und sie im Ganzen zu schlucken, eines nach dem anderen."

Solche erschreckend finsteren Worte wurden so sanft und beiläufig gesagt und er gab dabei ein kleines Lachen von sich ‒ Luo Xianxian zitterte noch stärker und bedeckte ihre Augen, ohne nachzudenken.

„Heh, was für ein kluges kleines Mädchen“, sagte der junge Mann. „Halte dir weiterhin so die Augen zu; starre mich nicht an. Sonst kann ich nicht sagen, was meine Hände tun werden.“

Er sprach in einem nordischen Dialekt, mit einem ‘r’ am Ende einiger seiner Worte.

Mondlicht fiel in den Hof. Der junge Mann leckte sich gerade seine aufgesprungenen Lippen, als er draußen den Mandarinenbaum entdeckte. Aus irgendeinem Grund leuchteten seine Augen auf. Seine Pupillen flackerten für einen Moment, bevor er mit dem Kinn auf den Baum deutete. „Kleines Mädchen."

Luo Xianxian schwieg.

„Pflücke eine Mandarine und schäle sie für mich."

Luo Xianxian bewegte schließlich ihre Lippen, um zu sprechen. Ihre Stimme war leise und zitternd, aber sie sprach ohne Zögern. „Da-Gege, dieser Obstbaum gehört nicht meiner Familie. Er gehört jemand anderem; ich darf davon nicht pflücken."

Der junge Mann war verblüfft. Als würde er sich an etwas erinnern, drehte sich sein Gesicht langsam zurück.

„Wenn ich pflücken sage, dann geh und pflücke. Ich möchte Mandarinen essen, also pflücke sie gleich für mich!“ Der letzte Teil wurde aggressiv geknurrt, zwischen zusammengebissenen Zähnen ausgespuckt.

Luo Xianxian zitterte vor Angst, aber sie blieb stur, wo sie war. Das kleine Mädchen hatte eine weiche Persönlichkeit, aber ihr moralischer Kern war unnachgiebig starr wie der seines Vaters. „Das werde ich nicht."

Der junge Mann kniff die Augen zusammen und knurrte sie an. „Dummes kleines Mädchen! Weißt du, mit wem du sprichst?!“

„Wenn Sie Wasser wollen, ich ‒ ich gieße Ihnen etwas ein. Wenn Sie Essen wollen, gibt es auch etwas davon in meinem Haus. Aber der Mandarinenbaum gehört nicht meiner Familie, also darf ich nicht davon pflücken. Mein Vater sagt: 'Nehmen ohne zu fragen ist stehlen' Ich bin ein Gentleman; die Moral sollte nicht durch Reichtum korrumpiert werden, und die Integrität sollte nicht durch Anmut beeinträchtigt werden..."

In ihrer Eile drückte sie sich falsch aus und sagte ‘Anmut‘ statt ‘Armut‘. Dieses winzige kleine Mädchen mit rotem und aufgedunsenem Gesicht stotterte und stotterte diese passable Nachahmung der Lehren ihres Vaters nach. Irgendwie brachte sie die Worte heraus, obwohl sie unter dem aufmerksamen Blick des jungen Mannes so heftig schnatterte, dass ihre Knie gegeneinanderschlugen.

Dieser junge Mann schwieg. Wenn die Situation anders gewesen wäre, hätte man bei Sätzen ‘nehmen ohne zu fragen ist stehlen’, ‘Moral sollte nicht durch Reichtum korrumpiert werden und Integrität sollte nicht durch Armut beeinträchtigt werden’ und ‘Ich bin ein Gentleman’ die aus dem Mund eines Kindes erklangen ‒ und noch dazu aus dem eines kleinen Mädchens?! ‒ anders gedacht. Pfft, er hätte sich sein Lachen wirklich nicht verkneifen können.

Aber er konnte nicht lachen. Stattdessen trampelte eine heftige, aufsteigende Wut durch seine Brust, so groß wie eine Pferdeherde und trampelte auf seinem Herzen herum.

„Ich hasse Menschen wie dich am meisten, die sogenannten...“ Er hielt sich an der Wand fest, erhob sich zitternd, Worte quetschten sich zwischen seinen Lippen hervor. „Philanthropen, Gentlemänner, Helden ‒ tugendhafte Menschen."

Unter dem verängstigten Blick von Luo Xianxian stolperte er mühsam auf seinen verletzten Füßen hinüber zum Mandarinenbaum. Er hob den Kopf und schnüffelte mit gieriger Sehnsucht am Duft von Mandarinen. Dann blitzte ein hasserfülltes Rot in seinen Augen auf und bevor Luo Xianxian wusste, was geschah, war er auf diesen Baum geklettert und starrte ihn heftig an, schüttelte ihn, trat ihn, klopfte dagegen und schlug ihn.

Ganze Mandarinenzweige wurden geräuschvoll vom Baum geschüttelt, sie stürzten zu Boden und rollten zur Seite. Das Lächeln dieses jungen Mannes war verzerrt, als er rücksichtslos schrie: „So viel zu ‚nehmen ohne zu fragen ist zu stehlen'! So viel zu ‘Moral sollte nicht durch Reichtum korrumpiert werden!' So viel zum Thema ‘Stärke darf nicht ausgenutzt werden‘!“

„Da-Gege! Was macht Ihr da?! Bitte hört auf! Papa! Papa!"

Luo Xianxian hatte nicht nach ihrem Vater rufen wollen. Er war von schwacher Konstitution, ein Gelehrter ohne Kraft in seinem Körper. Selbst wenn er herauskäme, würde er nicht viel tun können. Aber schließlich war sie ein kleines Mädchen. Nachdem sie an ihrem Standpunkt festgehalten hatte, war sie schließlich über ihre Belastungsgrenze hinaus verängstigt.

„Was zum Teufel schreist du da?! Wenn dein Vater herauskommt, zerhacke ich ihn auch!“

Das kleine Mädchen schwieg vor Angst und Tränen stiegen in ihre großen, runden Augen.

Die Familie Chen nebenan war zu Besuch bei Verwandten im Nachbardorf, und so war keiner von ihnen zu Hause. Niemand war in der Nähe, um diesen Wahnsinnigen zu stoppen.

Der Wahnsinnige schüttelte den Baum, bis die Mandarinen heruntergefallen waren. Selbst dann konnte dieser Wahnsinn nicht gestillt werden und er stampfte geschickt auf den Boden und zerdrückte dabei viele der Früchte. Dann, mit einer plötzlichen Aggression und einem Kraftausbruch von wer weiß woher, sprang er auf und sprang in den Hof der Familie Chen, fand eine Axt und schlug den Baum mit ein paar Hieben nieder. Danach drehte er sich wieder um und lachte herzlich.

Er lachte und lachte, bis er abrupt stehen blieb und sich in einiger Entfernung hinhockte. Er drehte seinen Kopf herum und winkte Luo Xianxian herüber. „Kleines Mädchen, komm her."

Luo Xianxian bewegte sich nicht. Sie blieb, wo sie war, und spielte mit ihren kleinen Stoffschuhen, die mit gelben Blumen bestickt waren.

Der junge Mann sah, dass sie zögerte, und milderte seinen Ton, indem er mit so viel Freundlichkeit sprach, wie er aufbringen konnte. „Komm. Ich habe etwas Nettes für dich."

„Ich… ich will nicht… nein, ich komme nicht rüber", murmelte Luo Xianxian.

Aber bevor sie zu Ende sprechen konnte, brach die Wut des jungen Mannes erneut aus. „Wenn du nicht sofort herkommst, gehe ich in dein Haus und verarbeite deinen Vater zu Hackfleisch!"

Luo Xianxian erschauerte heftig und schlurfte schließlich Stück für Stück zu ihm.

Der junge Mann sah sie schief an. „Beeil dich. Ich habe keine Zeit, dich zu warnen.“

Luo Xianxian näherte sich ihm mit gesenktem Kopf. Als sie noch ein paar Schritte entfernt war, streckte er seine Hand aus und riss sie zu sich. Luo Xianxian stieß einen Schrei aus — oder versuchte es, denn bevor der Ton ihren Mund verlassen konnte, wurde er von einem Gegenstand zurück ins Innere geschoben. Der junge Mann hatte ihr eine Mandarine in den Mund gestopft, ungeschält, ungewaschen und mit Schlamm bedeckt.

Wie konnte Luo Xianxian eine Mandarine mit nur einem Bissen essen? Doch der junge Mann stopfte sie mit Gewalt hinein. Die Mandarine zerriss, als sie gegen in ihren Mund gedrückt wurde, Saft und Schlamm verschmierten ihr halbes Gesicht. Der Verrückte gackerte, zerquetschte die Frucht auf ihrem Mund und versuchte, sie an ihren fest geschlossenen Lippen vorbeizuschieben.

„Bist du nicht ein Gentleman? Wolltest du nicht stehlen? Was isst du denn gerade, huh? Was isst du gerade?!

„Nein… ich will es nicht… Papa … Papa …“, wimmerte Luo Xianxian.

„Schluck sie." Die Augen des jungen Mannes verzogen sich zu Schlitzen und er stopfte Luo Xianxian das letzte Stück Obst in den Mund. Seine Augen leuchteten dunkel, und seine Stimme war frostig und kalt. „Schluck das verdammte Ding!"

Der junge Mann beobachtete Luo Xianxian, als sie gezwungen wurde, die Mandarine zu schlucken, ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle, als sie schwach nach ihrem Vater weinte. Er schwieg einen Moment, dann lächelte er. Dieses Lächeln war erschreckender als sein wilder Gesichtsausdruck,

Zufrieden strich er Luo Xianxian durchs Haar. „Warum rufst du nach deinem Papa?", sagte er herzlich, während er weiter dort hockte. „Solltest du nicht nach deinem Da-Gege rufen? Ist die Mandarine, die dein Gege dir gegeben hat, süß? Ist sie gut?“

Dann hob er eine andere vom Boden auf. Diesmal versuchte er nicht, sie ihr in den Mund zu zwingen. Stattdessen schälte er aufmerksam die Schale ab — er entfernte sogar die weißen Fasern, die am Fleisch hafteten — bevor er seine Hände abwischte, ein Stück herauszog und es an Luo Xianxians Lippen brachte. Er sagte mit tadelnder, sanfter Stimme: „Wenn sie dir schmeckt, dann iss noch etwas."

Luo Xianxian verstand, dass sie jemandem begegnet war, der geistesgestört war. Sie hatte keine andere Wahl, senkte den Kopf und knabberte wortlos an der Mandarine, die der Verrückte ihr reichte. Ihr süß-säuerlicher Saft verteilte sich in ihrer Kehle und sorgte dafür, dass sich ihr Magen umdrehte.

Der junge Mann hockte weiter dort und fütterte sie mit der Mandarine, Stück für Stück. Er schien wieder gute Laune zu haben und summte sogar eine Melodie. Seine Stimme war rau und grob, wie ein beschädigter Korb, durch dessen Löcher eine Brise weht, verschwommen und undeutlich, aber einige der Worte schwebten zu Luo Xianxians Ohren.

Drei vier Tropfen von Blütenblättern auf dem Teich

Ein, zwei Saitenklänge ertönen von Land aus.

Die Jugendjahre verkünden die besten Jahre,

Leichter Hufschlag, schnelles Pferd,

Sieh dem Ende der Welt entgegen ...

„Kleines Mädchen", sagte er plötzlich.

Luo Xianxian antwortete nicht.

„Tsk." Er presste seine Lippen zusammen und streckte die Hand aus, um Luo Xianxains kleines Gesicht zu packen. „Lass mich deine Augen sehen."

Luo Xianxian zitterte, aber ohne die Kraft, sich zu wehren, konnte sie nur zulassen, dass der junge Mann ihre Augen gründlich untersuchte, während die blutigen Finger Zentimeter für Zentimeter über ihre Brauen fuhren.

„So eine starke Ähnlichkeit“, sagte er.

Die Augen von Luo Xianxian waren fest geschlossen.

Der junge Mann lachte verärgert. „Ich werde dir nicht die Augen ausgraben — jetzt öffne sie!", sagte er mit heiserer Stimme. Dann: „Glaubst du, ich kann dir nicht die Augen ausstechen, selbst wenn du sie geschlossen hast?!"

Luo Xianxians konnte nur gehorchen. Sie öffnete ihre großen, runden Augen. Ihre langen, weichen Wimpern zitterten und große Tränentropfen fielen von ihnen herab. Der tränenreiche und erbärmliche Ausdruck auf ihrem Gesicht schien dem mysteriösen jungen Mann irgendwie zu gefallen. Er nahm die Hand weg, die ihre Wange drückte. Sie schwebte einen Moment lang in der Luft, dann tätschelte sie zärtlich ihren Kopf.

Er starrte ihr intensiv in die Augen, ein zitterndes Lächeln kräuselte sich um seine Lippenwinkel. Dieses Grinsen war zu sieben Teilen verdreht, zu zwei Teilen wild und zu einem Teil traurig. Er sagte: „Es gab einen Mann aus Linyi, dessen Herz mit zwanzig starb."

Als er mit dem Sprechen fertig war, drehte er sich um und seine Gestalt verschwand langsam in den Schatten.

Das einzige Anzeichen dafür, dass diese Person jemals dort gewesen war, eine Person, die mitten in der Nacht blutverschmiert auftauchte, war die Sauerei, die sie auf dem Boden hinterlassen hatte.

 

 

Erklärungen:

Ruqun, 襦裙, ist eine Kleidung in Hanfu (schlichte chinesische Seidenrobe), die aus einer kurzen Jacke besteht, die typischerweise ru, 襦; pinyin rú, genannt wird und unter einem langen chinesischen Rock namens qun, 裙; pinyin: qún, getragen wird.

Bai Wuchang, 白無常,’Weiße Unbeständigkeit’ ist eine von zwei Entitäten, die andere ist, 黑無常, ‘Schwarze Unbeständigkeit’; die beiden sind in Weiß bzw. Schwarz gekleidet und Untergebene von Fürst Yanluo, dem obersten Richter der Unterwelt. Sie arbeiteten zusammen, um verstorbene Seelen für das Gericht zu sammeln.

Das Laternenfest, 燈節 / 灯节, oder Yuanxiao-Fest, 元宵節 / 元宵节, ist ein traditioneller chinesischer Feiertag, der das mehrtägige Neujahrsfest abschließt.

Das System der Beamtenprüfung ( / 科举, kējǔ) im kaiserlichen China war ein Prüfungssystem, mit dem die fleißigsten und gelehrtesten Kandidaten für die Ernennung zu Bürokraten in der chinesischen Regierung ausgewählt werden sollten. Die Prüfungen stellten den wichtigsten Weg zum sozialen Aufstieg und damit für die Angehörigen der gebildeten Stände ein zentrales Lebensziel dar.

Da- ist eine Vorsilbe, was ‘der Älteste‘ bedeutet.

Gege ist die vertraute Art, sich auf einen älteren Bruder oder einen älteren männlichen Freund zu beziehen. Wird von jemandem verwendet, der wesentlich jünger oder von niedrigerem Status ist.




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