Kapitel 104 ~ Shizuns Wan Tans

Die Seelenruf-Laterne bahnte sich ihren Weg durch den Sisheng-Gipfel auf der Suche nach dem Fragment der zurückgekehrten Seele.

Sobald die Seelenruf-Laterne entzündet war, wurde Mo Ran für die Lebenden unsichtbar. Es war, als sei er selbst ein halber Geist. Er stieg die blauen Steinstufen hinauf, durchquerte die Säulengänge und Balkone und suchte.

Der Rote-Lotus-Pavillon, die Frosthimmel-Halle, die Drei-Leben-Plattform...

Er suchte überall, aber Chu Wanning war nirgends zu finden. Mo Ran machte sich Sorgen, dass sein Shizun des Lebens überdrüssig geworden war und ihn im Tod nicht mehr sehen wollte. Der Gedanke ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Er ging schneller, wobei der Saum seiner Robe über das wilde Gras unter seinen Füßen strich.

Plötzlich bemerkte er eine Person, die am Ende der Naihe-Brücke stand, kühl und unnahbar, wehmütig und verzweifelt. Ihm brach der Schweiß aus den Handflächen, und sein Herz schlug wie eine Trommel in seinen Ohren, als er auf die Gestalt zulief.

„Shizun‒"

Doch das Gesicht, das sich ihm zuwandte, gehörte zu einer Seele, die er nicht erkannte, wahrscheinlich ein Schüler, der beim Himmlischen Riss umgekommen war. Was Mo Ran von seinem Gesicht sehen konnte, war blutverschmiert, und er starrte Mo Ran mit stumpfen und verwirrten Augen an.

„Tut mir leid, ich dachte, du wärst jemand anderes", stammelte Mo Ran und eilte weiter. Die Seele hatte ihr Gedächtnis verloren und sah nur noch starr und regungslos zu, wie Mo Ran an ihr vorbeiging. Sein leichenblasser Körper stand wie erstarrt an seinem Platz, wie eine Hülle, die in der Welt der Sterblichen zurückgelassen wurde.

Mo Ran spürte, wie sich seine Brust zusammenzog. Was, wenn die menschliche Seele seines Shizun auch so war, ein wandelnder Leichnam? Selbst wenn er ihn finden würde, würde er ihn bis zum Tagesanbruch bewachen können?

Sein Herz schlug wie wild, während sich seine Füße immer schneller bewegten. Ohne zu wissen, wie er hierher gekommen war, blickte er auf und fand sich vor der Mengpo-Halle wieder. Chu Wanning kümmerte sich nicht sonderlich darum, was er aß, und Mo Ran bezweifelte, dass seine zurückgekehrte Seele ausgerechnet hierher kommen würde. Er wollte sich gerade umdrehen und gehen, als er aus der Halle ein leises Seufzen hörte.

Die Stimme war sehr, sehr leise. Aber in Mo Rans Kopf war sie wie ein Donnerschlag. Er stolperte durch die Tür, und seine Hand zitterte unkontrolliert, als er die Seelenruf-Laterne anhob. Das Licht dieser Laterne war wie eine neu aufgegangene Sonne, warm und doch mild, als sie ihren Schein auf eine weiß gekleidete Gestalt warf. Mo Rans Fingerknöchel wurden weiß und seine Nägel gruben sich in seine Handfläche. „Shizun...", murmelte er.

Das Seelenfragment von Chu Wanning stand allein, eine einsame Gestalt in der Leere der großen Küche. Seine Silhouette war schwach verwaschen, wie Tinte, die durch den Lauf der Zeit ausgebleicht wurde, aber es war zweifellos er. Er trug dieselbe weiße Robe aus gefrorener Nebelseide, die er bei seinem Tod getragen hatte und deren Säume rot von Blut befleckt waren. Gegen diesen auffälligen und lebendigen Farbton wirkte seine Haut noch blasser, fast durchscheinend, wie Rauch und Nebel ‒ als ob er sich vor einem Windstoß verflüchtigen könnte.

Mit der Laterne in der Hand betrachtete Mo Ran die Fata Morgana vor ihm ‒ wie das Bild von Blumen in einem Spiegel, wie die Reflexion des Mondes im Wasser.

Er wollte schneller gehen, weil er fürchtete, Chu Wanning könnte ihm entwischen, wenn er zögerte. Er wollte langsamer gehen, weil er fürchtete, der Traum könnte zerplatzen, wenn er sich beeilte. Tausend Gedanken verknoteten sich in seinem Kopf. Bedauern und Schuldgefühle durchfluteten seine Brust, und seine Augenränder färbten sich leicht rot. Er hatte das Gefühl, dass er diesem Mann viel zu viel schuldete. Mo Ran blieb in einiger Entfernung von ihm stehen, zu beschämt, um sein Gesicht zu zeigen.

Die Laterne schwankte sanft. Jetzt, da Mo Ran näher kam, konnte er sehen, dass Chu Wanning emsig herumlief. Er sah leicht ängstlich aus, ein wenig unbeholfen. Was tat er da? Mo Ran stellte sich hinter ihn und dachte, er könne der bedauernswerten Seele helfen. Doch was er sah, traf ihn wie ein Blitz. Als der Schock zu verblassen begann, öffnete ein quälender Schmerz seinen blutigen Mund und bohrte sich bösartig in seinen Hals.

Mo Ran taumelte zwei Schritte zurück, schüttelte langsam den Kopf und war unfähig zu sprechen. Wäre ihm in diesem Moment die Brust aufgerissen und das Herz herausgerissen worden ‒ Adern, Fleisch und alles andere - es hätte nicht so weh getan wie jetzt.

Er sah, wie Chu Wannings Hände ‒ gehäutet und blutig von den mehr als dreitausend Stufen, die er mit Mo Ran hinaufgekrochen war, solange er noch lebte - sich vorsichtig am Tisch entlang tasteten. Auf dem Tisch lagen Mehl, Gewürze und Hackfleischfüllung. In der Nähe stand ein Topf mit Wasser über einer starken Flamme. Es kochte bereits, aber Chu Wanning, dieser Dummkopf, wusste nicht einmal, dass er die Flammen ein wenig herunterdrehen sollte. Die dicke Dampfwolke machte alles trübe...

Vielleicht war es aber auch nicht der Dampf, der Mo Rans Sicht trübte, sondern die Tränen, die sich in seinen Augen sammelten.

Chu Wannings menschliche Seele faltete fleißig Wan Tans. Seine Hände waren schon immer flink und geschickt gewesen. Unzählige Rüstungen waren von diesen schlanken Fingern gefertigt worden; immense Barrieren waren zwischen diese Handflächen gezaubert worden. Doch jetzt zitterten diese zerrissenen und beschädigten Hände, während sie sorgfältig einen vollen, prallen Wan Tan nach dem anderen falteten.

Mo Ran hob einen Arm und wischte sich stumm über die geröteten Augen, unfähig, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Chu Wanning stand mit dem Rücken zu ihm. Er schien sich endlich daran zu erinnern, dass das Wasser schon eine ganze Weile kochte, und in der Sorge, dass es völlig verkochen würde, wenn man es unbeaufsichtigt ließ, begann er, mit den Händen nach dem Topf zu tasten.

Ja, er tastete mit seinen Händen herum.

Mo Ran tauchte aus seiner Angst auf und eilte an die Seite seines Shizun. Jetzt verstand er. Als sich die drei Seelen trennten, verlor jede etwas ‒ Erinnerungen, Wahrnehmung, Teile des Körpers. Was diese Seele verloren hatte, war ein Stück ihrer Wahrnehmung.

Dieses Fragment von Chu Wannings Seele, das aus der Unterwelt zurückgekehrt war, konnte kaum sehen. Auch sein Gehör schien gestört zu sein ‒ wenn er etwas vom Tisch stieß, konnte er nicht genau sagen, wo es gelandet war. Trotzdem bemühte er sich, eine Schüssel mit gewöhnlichen, unscheinbaren Wan Tans zuzubereiten. Als wäre dies seine Lieblingsbeschäftigung im Leben gewesen, als würde er sich in diesem Dampfschleier wohlfühlen.

Mo Ran hatte das Gefühl, sein Herz könnte vor Schmerz zerspringen. Die Welt drehte sich schwindlig um ihn herum. Einen Moment lang konnte er nicht einmal denken, sondern blieb wie erstarrt stehen, während sich die Szene vor seinen Augen abspielte.

Es gab einen Zusammenstoß ‒ diese Seele mit ihrer verminderten Sehkraft konnte kaum den Tisch vor sich sehen und hatte beim Suchen versehentlich das Salzgefäß von der Mengpo-Halle umgestoßen. Das schien ihn zu erschrecken. Chu Wanning zog schweigend seine Hand zurück, und auf seinem blutverschmierten Gesicht erschien ein unruhiger Ausdruck.

„Was brauchst du?" Eine heisere Stimme, die von erstickten Schluchzern und Schuldgefühlen zerfressen war, meldete sich neben ihm zu Wort. „Lass mich dir helfen, okay?"

Chu Wanning sah überrascht aus. Aber vielleicht konnte seine unvollständige Seele solch turbulente Emotionen nicht aushalten ‒ nach einem kurzen Augenblick sank er wieder in die Ruhe zurück.

Aber jedes Wort, das Mo Ran über seine Lippen brachte, war schwer und flehend. „Shizun, lass mich dir helfen, okay?"

Das Wasser kochte im Topf. In dieser Küche war der Tote warm und lebendig, aber der Lebende war verstört und kraftlos. Nach einer langen Pause hörte Mo Ran Chu Wannings vertraute Stimme, tief und gleichmäßig wie das Zerbersten von Jade und das Zerbröckeln von Bergen.

„Du bist hier?"

Eine Pause trat ein. „Ja."

„Gut. Warte dort drüben einen Moment. Wenn die Wan Tans fertig sind, bring Mo Ran eine Schüssel."

Mo Ran erstarrte. Chu Wannings Worte ergaben überhaupt keinen Sinn. Er sah zu, wie Chu Wanning blind herumtastete, und beobachtete dann, wie er die prallen, schneebedeckten Wan Tans einen nach dem anderen in den Topf fallen ließ. Im Dunst des Dampfes verlor sein Gesicht seine übliche Strenge, stattdessen sah es sehr sanft aus. „Ich habe ihn gestern zu hart bestraft", sagte er. „Wahrscheinlich hasst er mich jetzt. Xue Meng sagt, er isst nichts. Wenn du ihm die hier bringst, sag ihm nicht, dass ich sie gemacht habe. Er wird sie nicht essen, wenn er es weiß."

Mo Rans Gedanken waren durcheinander. Es war, als ob ein Geheimnis, das ein halbes Leben lang geschlummert hatte, sich zu regen begann und kurz davor war, die Oberfläche zu durchbrechen. „Shizun..."

Chu Wanning lächelte verschmitzt. „Ich fürchte, ich war zu streng mit ihm, aber seine Unbesonnenheit sollte man wirklich zügeln... Nun, egal. Hol mir eine Schüssel, eine dicke, wenn du kannst. Es ist kalt draußen, wir wollen das Essen warm halten."

Im Nu verdunkelte sich der Himmel.

Mo Ran schien das ferne Geräusch von etwas zu hören, das zerbrach. Eine Erinnerung kratzte sich schließlich durch ihre Schale, kreischte wie ein Geist, als sie aufsprang und auf ihn zuraste. Alles wurde dunkel.

Wan Tans. Shi Mei. Shizun...

Dies war das erste Mal, dass er Wan Tans von Shi Mei gegessen hatte. An jenem Tag hatte er versehentlich die kostbare Blüte von Frau Wang gepflückt und war von Chu Wanning bestraft worden. Tianwen hatte ihn blutig gepeitscht und sein Herz in Asche verwandelt.

Mo Ran hatte im Bett gelegen, gegrübelt und sich geweigert, aufzustehen. Er hatte die Blüte gepflückt, weil er sie seinem Shizun schenken wollte, war aber stattdessen mit einer Runde gnadenloser Auspeitschung belohnt worden. Er dachte, dass er blind sein musste, um Chu Wanning zu mögen, dass sein Herz mit Schmalz bedeckt sein musste, um zu glauben, dass Chu Wanning sanftmütig war, oder dass Chu Wanning sich um ihn sorgte.

An jenem Tag war Shi Mei mit einer Schüssel dampfenden Wan Tans in Chili-Öl in sein Zimmer gekommen. Diese weiche Stimme, dieser sanfte Ton und diese warme Schüssel mit Wan Tans hatten Mo Rans Enttäuschung über seinen Shizun in Zuneigung zu Shi Mei verwandelt.

Aber wie hätte er das wissen können... Wie hätte er das wissen können?!

Das Fragment der zurückgekehrten Seele stand neben ihm. Jede menschliche Seele war anders, wenn sie zurückkehrte. Einige waren wie Luo Xianxian, sie kamen zurück, um zu sehen, was nach ihrem Tod geschehen war. Andere waren wie die Person an der Naihe-Brücke, die sinnlos in ihrer ehemaligen Heimat umherwanderte, frei von Sorgen und Ängsten.

Chu Wannings menschliche Seele hatte ihr Augenlicht verloren, konnte eine Stimme nicht von einer anderen unterscheiden, wusste nicht einmal, welcher Tag gerade war. Wahrscheinlich war er in die Welt der Lebenden zurückgekehrt, weil er glaubte, etwas falsch gemacht zu haben, einen Fehler begangen zu haben, und sich deswegen schlecht fühlte. Er wollte es wieder gutmachen.

Und so traf Chu Wanning am Ende eine andere Entscheidung als im Leben. Er schöpfte die Wan Tans aus dem kochenden Wasser und legte sie in die Schüssel. Die Frühlingszwiebeln waren jadegrün, die Brühe war milchig weiß, und das Chili-Öl, das er über alles löffelte, war rot und scharf. Er wollte ‘Shi Mei‘ die Schüssel reichen, doch in letzter Sekunde hielt er inne.

„Ich war wirklich zu unfreundlich zu ihm", murmelte er.

Ein paar Augenblicke herrschte Schweigen.

„Macht nichts. Du brauchst ihn nicht zu überbringen. Ich werde selbst zu ihm gehen und mich entschuldigen."

Mo Ran starrte ausdruckslos vor sich hin, sein Gesicht war leichenblass. Er hatte immer geglaubt, sein Shizun sei zu kalt ‒ kalt wie Eisen, so kalt, dass sein Herz zu Eis erstarrt. Wie hätte er ahnen können, dass Chu Wanning tatsächlich so freundlich zu ihm war... Dass Chu Wannings anhaltendes Bedauern in der Welt der Lebenden ihm galt.

Dass sein letzter Wunsch war, sich zu entschuldigen.

Das Eis schmolz. Verwandelte sich in Wasser. Wurde zu einem Ozean. Langsam hob Mo Ran seine Hände und vergrub sein Gesicht in seinen Handflächen. Seine Schultern zitterten leicht. Ein Herz wie Eisen? Ein Herz wie Eisen?! So war es ganz und gar nicht...

Mo Rans Kehle fühlte sich eng an, und ein Schluchzen entwich ihm, als er auf dem Boden zusammenbrach und vor der Seele kniete, die ihn nicht sehen konnte. Die Seelenruf-Laterne lag auf dem Boden neben seinen Füßen, während er einen gebrochenen Schrei ausstieß und sich heiser schrie, als ob er Blut weinen würde. Schließlich, als er es nicht mehr zurückhalten konnte, schrie er laut und jämmerlich. Er kniete vor Chu Wanning nieder.

So war es aber gar nicht...

Er kroch im Staub und klammerte sich an die Säume von Chu Wannings blutverschmierter Robe.

Es war nicht so, dass dein Herz kalt und hart wie Eisen war. Es lag nicht daran, dass ich unnachgiebig und unbeweglich wie Stein war. Es war nur so, dass ich dich falsch eingeschätzt habe, dass ich dich völlig missverstanden habe... Es war nur so, dass...

„Shizun, Shizun..." Er weinte und rollte sich auf dem Boden zusammen. „Es tut mir leid. Ich habe mich geirrt, bitte... bitte komm mit mir zurück...

Shizun...bitte komm mit mir zurück. Ich habe mich geirrt, es war meine Schuld. Ich mache dir keine Vorwürfe. Ich hasse dich nicht. Es war alles meine Schuld, dass ich dich immer wütend gemacht habe. Wenn du mich das nächste Mal schlägst oder schimpfst, schwöre ich, dass ich mich nicht wehren werde. Shizun, wenn du nur zurückkommst, werde ich auf alles hören, was du sagst... Ich werde dich respektieren, ich werde dich schätzen, ich werde dich gut behandeln..."

Aber Chu Wannings Robe war hauchdünn, als ob sie in seinen Händen zerfallen würde. Mo Ran wünschte sich, er könnte seine eigene Brust aufschneiden und Chu Wanning sein Herz geben, nur um seinen Herzschlag wieder zu hören. Er wünschte, er könnte sein eigenes Blut in Chu Wannings Adern fließen lassen, nur um wieder Farbe in seinem Gesicht zu sehen.

Er würde alles tun, um seine Fehler wiedergutzumachen.

„Shizun." Seine Stimme brach. „Lass uns noch einmal von vorne anfangen, okay?"

Vor dem Himmelsdurchdringen Turm, unter dem Hai-Tang-Baum. Dieser Zongshi, sanft wie eine weiße Katze, hob den Kopf, und seine Phönixaugen weiteten sich leicht. Die Zikaden auf den Ästen zirpten zwei-, dreimal, und der Jugendliche vor ihm grinste strahlend.

‘Xianjun, Xianjun, ich habe dich schon so lange beobachtet. Warum beachtest du mich nicht?‘ In einem Wimpernschlag waren zwanzig Jahre vergangen, zwei Lebenszeiten. Es war alles schon Vergangenheit. Er wusste, dass es gierig und schamlos war, aber er sagte es trotzdem.

Shizun, lass uns noch einmal von vorne anfangen. Einverstanden? Bitte, beachte mich, ja?




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