Kapitel 105 ~ Shizuns menschliche Seele

Die Lampe warf ihr helles Licht auf zwei Personen.

Sie befanden sich nicht mehr in der Mengpo-Halle, sondern im Zimmer von Mo Ran. Chu Wanning hatte den Weg nicht klar sehen können, deshalb hatte Mo Ran ihn an der Hand geführt. Chu Wanning fehlten zwei Seelen, er konnte nicht sagen, welcher Tag es war oder an wessen Hand er sich befand. Wie betäubt ließ er sich mitziehen. Mo Ran führte ihn in den Raum, wischte sich selbst die Tränen von den Wangen und schloss die Tür hinter ihnen.

Chu Wanning stellte die Schüssel mit den Wan Tans ab, die er den ganzen Weg über getragen hatte. Dann tastete er sich an das Bett heran und fragte leise: „Schläft Mo Ran schon?"

Mo Ran sah ihn an, unfähig zu antworten.

Als keine Antwort kam, nahm Chu Wanning an, dass Mo Ran tatsächlich schlief. Er seufzte. Er schien ein wenig enttäuscht zu sein.

Mo Ran konnte es nicht ertragen, zuzusehen, und außerdem hatte er Angst, das Chu Wanning wieder gehen könnte. Also setzte er sich auf das Bett und sagte: „Shizun, ich bin wach."

Als er Mo Rans Ruf hörte, zuckten Chu Wannings Augenbrauen leicht, und er brummte anerkennend. Doch dann schien er zu zögern und verstummte.

Mo Ran wusste, dass Chu Wanning ein dünnes Gesicht hatte. Wenn er glaubte, dass Shi Mei hier war, würde er sicher versuchen, nach einer Handvoll Worte zu fliehen. Mo Ran nahm eine Haarsnadel vom Tisch und warf sie in Richtung Tür, so dass es klang, als sei Shi Mei gegangen und die Tür hinter sich schloss. Dann fragte er: „Was macht Shizun hier? Wer hat dich mitgebracht?"

Natürlich war Chu Wanning mit nur einer halben Seele viel leichter zu täuschen. Er schwankte. „Shi Mingjing hat mich hierher gebracht. Ist er gegangen?"

„Er ist gegangen."

„Mn..."

Ein weiterer Moment verging in Stille. Schließlich sprach Chu Wanning. „Die Wunde auf deinem Rücken..."

„Die Wunde auf meinem Rücken ist nicht die Schuld von Shizun", sagte Mo Ran leise. „Ich habe ohne Erlaubnis ein wertvolles Kraut gepflückt. Ich habe Shizuns Strafe verdient."

Chu Wanning hatte nicht erwartet, dass er so etwas sagen würde, und war ziemlich überrascht. Sein zarter Wimpernvorhang zitterte, als er seufzte. „Tut es noch weh?"

„Nicht mehr."

Chu Wanning hob seine Hand, die eiskalten Fingerspitzen suchten, bis sie Mo Rans Gesicht fanden. Wieder eine Pause. „Entschuldigung. Bitte hasse Shizun nicht."

Der Chu Wanning von früher hätte niemals so zärtliche Worte gesprochen. Aber im Tod, als er an alles zurückdachte, während seine Erdseele in der Unterwelt schwebte, stellte er fest, dass er nur die Unfreundlichkeit gegenüber seinem Schüler bedauerte. Und so fielen ihm bei dieser zweiten Chance die Worte, die er einst unmöglich aussprechen konnte, so leicht von der Zunge.

Mo Ran hatte das Gefühl, dass sein Herz in warmem Quellwasser gebadet wurde. Der Hass, der nach seiner Wiedergeburt geblieben war, die alten Narben, die sich Jahr für Jahr geweigert hatten, zu verblassen, sein hartnäckiger Widerstand, der sich bereits im letzten Atemzug befand ‒ all das war in Stücke zerfallen, Stücke, die nun von diesen herzlichen Worten der Entschuldigung weggespült wurden und nichts zurückließen.

Im Schein der Seelenruf-Laterne betrachtete Mo Ran das Gesicht seines Shizun. Es war, als wären die Blutflecken verschwunden, und ein Hauch von Leben schien wieder in diese blassen Wangen zu kommen. Es war, als ob er durch die unendliche Weite der unwiderruflichen Zeit blickte, um Chu Wannings sanftes Antlitz zu erblicken, wie es gewesen war, als Mo Ran ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Ohne nachzudenken, hob Mo Ran eine Hand, um Chu Wannings eiskalte Finger mit seinen eigenen Warmen zu umschließen. „Ich hasse dich nicht", sagte er. „Du bist gut zu mir, Shizun. Ich hasse dich nicht."

Chu Wanning starrte einen Moment lang ins Leere, dann lächelte er plötzlich.

Obwohl er tot war, obwohl sein Gesicht mit Schmutz und Blut verschmiert war, war sein Lächeln wie das erste Schmelzen eines zugefrorenen Baches, der den Raum mit der Wärme des Frühlings erfüllte. Seine Augen waren geschlossen, aber zwischen seinen Wimpern schien etwas zu glitzern. Es war das strahlende Lächeln eines Menschen, dessen letzter Wunsch in Erfüllung gegangen war, stolz und doch zurückhaltend, strahlend und doch bescheiden. Es war wie das Erblühen des üppigsten und beständigsten Hai-Tang-Baumes, dessen unzählige Blüten wie zarte, schwache Errötungen wirkten. Dessen Blüten sorgfältig seine würdigen Äste übersäten, schön und duftend, zwischen den Blättern verstreut wie ein Himmel voller Sterne.

Es war wie das Aufblühen des üppigsten und standhaftesten Hai-Tang-Baumes, dessen zahllose Blüten wie zarte, schwache Röte seine würdevollen Äste sorgfältig übersähen, schön und duftend, über die Blätter verstreut wie ein Himmel voller Sterne.

Mo Ran konnte nicht anders, als sich in diesem Anblick zu verlieren.

Noch nie in seinen zwei Leben hatte er Chu Wanning mit einem so leichten und glücklichen Gesichtsausdruck gesehen. Mo Ran war nicht klug. Er dachte an das Sprichwort ‘ein blumenhaftes Lächeln‘, fand es aber unpassend. Dann dachte er an ‘ein Lächeln mit hundert Reizen‘, aber das erschien ihm noch absurder.

Obwohl er sich das Hirn zermarterte, fand er keine Worte, um den schönen Anblick, der sich ihm bot, adäquat zu beschreiben. Ihm blieb nichts anderes übrig, als vor Gefühl zu seufzen: Wie wunderschön.

Dieser Mensch war so schön. Wieso hatte er das nie bemerkt?

Mo Ran wurde von einer plötzlichen, zufälligen Eingebung heimgesucht. „Shizun", sagte er mit gedämpfter Stimme, „ich möchte dir etwas sagen."

„Hm?"

„Ich wusste wirklich nicht, wie wertvoll die Hai-Tang-Blüte von Frau Wang war. Als ich sie an jenem Tag pflückte, wollte ich sie dir schenken."

Chu Wanning schien überrascht zu sein. Mo Rans Stimme wurde noch leiser, ein wenig schüchtern, sogar ein wenig hilflos, als er wiederholte: „Sie war für... für dich."

„Aber warum solltest du diese Blüte für mich pflücken?"

Mo Rans Gesicht errötete, obwohl er es war, der sprach. „Ich... ich... ich weiß es nicht. Ich dachte nur, dass sie wirklich hübsch ist. Ich..." Er brach ab und war vage überrascht, dass er sich irgendwie ganz genau daran erinnerte, wie er sich gefühlt hatte, als er vor so langer Zeit diese Blüte für Chu Wanning gepflückt hatte.

Chu Wanning, dem zwei Seelen fehlten, war unerträglich sanft, wie eine Katze ohne Krallen ‒ mit weichem, weichen Bauch und schneeweißen, runden Pfoten. Er tätschelte Mo Rans Kopf und lächelte. „Dummkopf."

„Mn." Mo Rans Augen brannten, als er zu ihm hinaufblickte. Er schniefte. „Ich bin ein Dummkopf."

„Mach das nicht noch einmal."

„Ich werde es nicht noch einmal tun." Mo Ran dachte daran, wie er in seinem früheren Leben, nachdem er die Hoffnung verloren hatte, allerlei Böses getan und andere terrorisiert hatte.

Er hatte Chu Wanning so sehr verärgert, dass sein Shizun ihn schließlich aufgab und ihm das Urteil zuwarf, das er ihm ein Leben lang übel genommen hatte: von Natur aus abscheulich, jenseits von Heilung. Hunderte von Emotionen stiegen in seiner Brust auf. „Shizun, ich verspreche dir, dass ich dich von jetzt an nicht mehr enttäuschen werde. Ich werde gut sein, ich werde nicht böse sein."

Er war kaum belesen und hatte keine mächtigen Eide zu schwören oder durchschlagende Gelübde abzulegen. Aber er spürte, wie das heiße Blut in seiner Brust kochte, als die reine und einfache Seele, die er einst als Kind hatte, aus ihrem Schlummer zu erwachen schien. „Shizun, dieser Schüler ist schwer von Begriff und merkt erst jetzt, wie gut du zu mir gewesen bist." Mit leuchtenden Augen erhob er sich vom Bett, kniete vor Chu Wanning nieder und verbeugte sich tief. Als er den Kopf hob, war sein Gesicht feierlich und ernst. „Von nun an werde ich, Mo Ran, nie wieder Schande über dich bringen."

Meister und Schüler saßen nebeneinander und unterhielten sich lange, wobei Mo Ran den größten Teil des Gesprächs führte. Er war eigentlich ganz reizend, wenn er sich in den Kopf gesetzt hatte, jemanden zu mögen. Chu Wanning hörte schweigend zu und schüttelte ab und zu lächelnd den Kopf. Ehe sie sich versahen, hatte sich der Himmel außerhalb des Fensters aufgehellt, wie Wasser, das die satte Dunkelheit der Huizhou-Tinte durchdringt.

Die lange Nacht neigte sich dem Ende zu.

Meister Huaizui stand an der steinernen Brücke, die Säume seiner Mönchsroben nass von der Gischt des vorbeifließenden Wassers. Doch er schien es gar nicht zu bemerken, denn er wartete schweigend.

Die Sonne ging im Osten stetig auf. Das Licht der Morgendämmerung drang durch die Blätter der Bäume und traf auf das aufgewühlte Wasser der Gelben Quellen, das die rasende Strömung augenblicklich mit schillerndem Gold überzog. Die feine Gischt schimmerte wie die zarten Schuppen eines Drachens, und das Licht flimmerte über die Wasseroberfläche, während es sich zu glitzernden und glänzenden Wellen aufbaute.

Huaizui befand sich derzeit in der leeren Dimension und war nur für den sichtbar, der Chu Wannings Seele fand. Shi Mei und Xue Meng waren beide in diese Richtung gegangen, aber keiner von ihnen konnte den alten Mönch am Ufer sehen. Aus der Ferne wirkte Huaizui ruhig, aber unbewusst bewegte er die Gebetskette in seiner Hand mit jedem Augenblick schneller und drängender.

Ohne Vorwarnung riss die Gebetskette und die Bodhi-Perlen verteilten sich wie Regen auf dem Boden. Huaizuis Augen weiteten sich und er presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Es war ein böses Omen. Er strich über den ausgefransten Rand der zerrissenen Schnur und sah zu, wie die anrollenden Wellen die verirrten Perlen ans Ufer zurückwarfen, und wie die Perlen am Ufer ins Wasser rollten. Er starrte eine Weile ausdruckslos vor sich hin, sein Gesicht wurde immer blasser.

„Großer Meister!", rief ihm plötzlich jemand überschwänglich zu. „Großer Meister!"

Huaizui drehte sich um und sah, wie Mo Ran aus der Ferne auf ihn zu sprintete. Die Seelenruf-Laterne in seinen Händen leuchtete sowohl in scharlachrotem als auch in goldenem Licht. So schillernd die ersten Strahlen der Morgendämmerung auch gewesen waren, die Augen dieses jungen Mannes waren noch heller und funkelten wie ein Paar Kristalle. Er kam vor Huaizui zum Stehen, mit geröteten Wangen, leicht keuchend, aber nicht dazu in der Lage, seine Aufregung zu zügeln.

„Ich habe ihn gefunden", sagte Mo Ran und strich sich mit einer Hand das zerzauste Haar zur Seite, während er die Laterne mit Chu Wannings menschlicher Seele fest an seine Brust drückte. „Er war nicht abgeneigt, mich zu sehen. Er ist ... er ist hier drin." Er deutete auf die Laterne in seinen Armen, zögerte dann aber. Er wollte sie Huaizui übergeben, aber er wollte sich auch nicht von ihr trennen, und seine Hände reichten nur ein paar Zentimeter weit, bevor er sie wieder zurückzog.

Huaizui stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus und betrachtete Mo Ran von oben bis unten. „Ihr braucht sie mir nicht zu geben", sagte er lachend. „Da Ihr ihn gefunden habt, könnt Ihr ihn behalten."

Vorsichtig hielt Mo Ran die Laterne weiter in der Hand.

Huaizui nahm den Mönchsstab, den er an den Baum gelehnt hatte, und klopfte damit leicht auf die Wasseroberfläche. Wie aus dem Nichts erschien ein jadegrünes Bambusfloß, an dessen gebogenem Bug eine weiße Schnur befestigt war. „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Bitte steigt ein."

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Es war allgemein bekannt, dass der Fluss, der den Sisheng-Gipfel durchquerte, in das Geisterreich floss. Aber da es dazwischen eine Barriere gab, war die Reise in die Unterwelt nicht so einfach zu bewerkstelligen, in dem man nur stromabwärts fuhr. Das Bambusfloß von Meister Huaizui war mit einem Zauber versehen, der es ihm ermöglichte, zwischen Yin und Yang zu wechseln, und so kam Mo Ran, nachdem er einen halben Tag lang allein auf dem Floß gesessen und viele Meilen zurückgelegt hatte, zu einem Wasserfall.

Der Wasserfall zur Unterwelt.

Dieser Wasserfall überbrückte den unendlichen Kosmos oben und die tiefsten Bereiche der Hölle unten, ohne definierte Grenzen und ohne Anfang und Ende. Das Wasser donnerte in einer großen Kaskade herab, und die Gischt der Tropfen ließ einen nebligen Dunst aufsteigen.

Mo Ran hatte kaum Zeit, diesen Anblick zu verarbeiten. In wenigen Augenblicken trug ihn das Bambusfloß geradewegs auf diesen Vorhang aus rauschendem Wasser zu, der so gewaltig war wie ein prähistorisches Biest. Bevor er reagieren konnte, waren die mächtigen Ströme über ihm wie unzählige Klingen, die Fleisch und Knochen zerreißen wollten.

„Shizun!"

Inmitten dieser Gefahr war Mo Rans einziger Gedanke die Seelenruf-Laterne, die er in seinen Armen hielt. Er hielt sie fest an seinen Körper gepresst, um sie zu schützen, und lockerte nicht ein einziges Mal seinen Griff, selbst als er in den tosenden Strudel hineingezogen wurde. Alles war ein dunkles, stürmisches Chaos...

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Mo Ran wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als das ohrenbetäubende Geräusch des Wasserfalls zusammen mit der messerscharfen Sintflut verschwand. Er öffnete langsam die Augen und atmete erst erleichtert auf, als er sich vergewissert hatte, dass die Seelenruf-Laterne sicher und unversehrt war. Als er schließlich aufblickte, war er sprachlos über den Anblick, der sich ihm bot.

Der Wasserfall, der die Reiche von Yin und Yang durchquerte, war nirgends zu sehen. Das Bambusfloß trieb nun sanft auf der Oberfläche eines großen, ruhigen Sees. Sein tiefblaues Wasser war von Sternenlicht durchflutet, und blasse Seelen schwammen wie Fischschwärme in seiner Strömung. An seinen Ufern blühte der Schilf mit seinen zarten Blüten, die im Wind hin und her wehten.

Aus den Tiefen des Schilfs an beiden Ufern drangen die Stimmen eines Mannes und einer Frau, die ein Lied anstimmten. Die Töne schwebten wie aus einem Traum, traurig und doch heiter. „Mein Schädel fiel in den Himmel, und mein Haar wurde zu Staub zermahlen. Scharlachrote Ameisen fressen mein Herz und Geier zerreißen meine Eingeweide... Nur die Seele kehrte zurück... Nur die Seele kehrte zurück..."

Das grüne Wasser der Gelben Quellen fließt nach Osten, die Vergangenheit ist weg und kehrt nie mehr zurück.

Mo Ran trieb eine Zeit lang auf dem Bambusfloß, bis sich in der schweren Dunkelheit der Nacht ein großes Tor erhob, das in den schwarzen Himmel ragte.

Als das Floß näher kam, konnte er sehen, dass das riesige Bauwerk majestätische Ausmaße hatte und mit feinen, exquisiten Details versehen war. Es stand in der Dunkelheit, wie schon seit ewigen Zeiten, wie ein gewaltiges Ungetüm aus Gold und Jade, das mit bernsteinfarbenen Perlen geschmückt war. Dieses prächtige, tückische Ungeheuer kauerte mit seinem blutigen, fauligen Schlund, bereit, unzählige einsame Seelen und verlorene Geister in seinen Schlund aufzunehmen.

Er kam noch näher. Das Stück von Chu Wannings Seele in der Laterne schien nervös zu werden, sein goldener Schein pulsierte und schwankte.

„Es ist alles in Ordnung", Mo Ran spürte die Unruhe der Seele und umarmte die Laterne fest. Er beugte sich vor, wobei seine Lippen fast die Seide berührten, und flüsterte beruhigende Worte, während er mehr spirituelle Energie in die Laterne leitete, um Chu Wanning Gesellschaft zu leisten. „Hab keine Angst, Shizun. Ich bin da."

Das Licht zitterte einen Moment, dann nahm es wieder einen gleichmäßigen Schein an.

Mo Ran senkte seine dichten Wimpern, schaute in die Laterne und konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Er streckte die Hand aus und streichelte den Rand der Laterne, dann umarmte er sie fester.

In der dunklen Nacht waren die Worte “Geistertor“ groß und fett geschrieben, so auffällig und lebendig, als ob sie jeden Tag neu mit dem frischen Blut der Lebenden geschrieben werden würden. Das Bambusfloß erreichte das Ufer, und Mo Ran betrat den Weg in die Unterwelt. Der Boden war mit dem Geruch von Blut gesättigt.

Je weiter er ging, desto mehr Menschen erschienen um ihn herum. Männer und Frauen, Alte und Junge, sogar weinende Säuglinge, die fast so schnell gestorben waren, wie sie geboren worden waren ‒ sie alle trieben in Richtung des Inneren der Unterwelt. Es spielte keine Rolle, ob sie zu Lebzeiten Kaiser, Generäle oder Minister mit ungeahntem Reichtum und Prunk gewesen waren, oder einfache Leute und Bauern ohne einen Pfennig, noch mit wie viel Geld oder welchen Gütern sie begraben worden waren. In dieser Zeit, an diesem Ort, waren alle gezwungen, den letzten Weg allein zu gehen.

Mo Ran folgte der wimmelnden Seelenschar bis zum Eingang des Geisterreichs.

Am Tor saß ein Mann, der sich mit einem Fächer aus Palmblättern Luft zufächelte ‒ ein Soldat, seiner Kleidung nach zu urteilen. Er war mit aufgeschnittenem Magen gestorben, und seine Eingeweide quollen von Zeit zu Zeit hervor. Der Pförtner benutzte den Griff des Fächers, um seine Organe ungeduldig wieder hineinzustopfen, und blickte dann träge auf, um den frisch Verstorbenen vor sich zu befragen.

„Name?"

„Sun Erwu."

„Wie seid Ihr gestorben?"

„I-ich bin an Altersschwäche gestorben."

Der Torwächter nahm einen großen Stempel in die Hand und stempelte nachlässig einen Eintrittsausweis für die Unterwelt mit den Worten ‘An Altersschwäche gestorben‘. Er reichte ihn Sun Erwu. „Verliert ihn nicht, sonst müsst Ihr zur Siebzehnten-Halle gehen und einen Ersatz beantragen. Ihr könnt gehen. Der Nächste!"

Sun Erwu war äußerst nervös. Fairerweise muss man sagen, dass es jedem frisch Verstorbenen, egal wie tapfer oder kenntnisreich er zu Lebzeiten gewesen war, wahrscheinlich genauso ergehen würde. „Wird man mich vor Gericht stellen? Ich bin ein verdammt guter Mensch gewesen, ich habe in meinem Leben noch nie ein Huhn getötet. Ich frage mich nur, ob ich bei der nächsten Verhandlung vielleicht ein besseres Los ziehen kann, oder wenigstens genug Geld habe, um mir eine Frau zu kaufen..." Der alte Mann plapperte ängstlich weiter und weiter.

Der Pförtner hatte schnell genug von seinem Geplapper. „Gericht?" Er winkte abweisend mit der Hand. „Das liegt noch in weiter Ferne. Hier im Geisterreich gibt es so viele Seelen, dass es mindestens acht Jahre dauern wird, bis man an in der Schlange zur Reinkarnation an der Reihe ist, wenn nicht sogar zehn. Wartet es einfach ab, bis Ihr an der Reihe seid. Es ist nicht viel anders als in der lebenden Welt. Hebt Euch das mit den Hühnern und den Frauen für den obersten Richter auf, wenn es so weit ist. Der Nächste!"

Sun Erwu war verblüfft. „Acht oder zehn Jahre?!", stammelte er in seinem schweren Akzent.

Ein paar Köpfe weiter hinten in der Reihe war Mo Ran ebenso schockiert. „Wa‒? Dauert es so lange, bis man für die Reinkarnation verurteilt wird?"

„Natürlich. Allerdings ist es eine andere Geschichte, wenn man wirklich verwerflich ist oder etwas Seltsames mit der eigenen Seele los ist." Der Torwächter kicherte hämisch über seine eigene Bemerkung. Die Bewegung ließ seine Eingeweide wieder herausrutschen, und er musste innehalten, um sie wieder hineinzustopfen. „Diejenigen, die für die achtzehn Höllen bestimmt sind, müssen nie lange warten."

Mo Ran starrte ihn an.

Der dumme Halbidiot Sun Erwu hatte noch mehr Fragen, aber die Geduld des Torwächters war am Ende. Er verscheuchte ihn mit den Worten: „Geht schon, geht schon, weg mit Euch. Ihr seid nicht der Einzige, der auf seine Wiedergeburt wartet, wisst Ihr. Haltet die Schlange nicht auf. Der Nächste! Der Nächste!"

So wurde Sun Erwu mit einem Schwenken des Palmblattfächers des Wächters vertrieben.

Die nächste Person in der Schlange war eine junge Frau, die ihr hübsches Gesicht gekonnt geschminkt hatte. Als sie ihre Lippen zum Sprechen öffnete, verriet ihr Blick die Selbstsicherheit und Koketterie, die einem bestimmten Beruf eigen sind. „Mein Herr", sagte sie mit sanfter Stimme, „diese bescheidene Person heißt Jin Hua'er. Ich wurde von einem brutalen Schurken zu Tode geprügelt..."

Die Geister reihten sich an der Spitze der Schlange ein, und jeder hatte seine eigenen Gedanken und seine eigene Art zu sterben. Es gab nur wenige Anblicke, die so hektisch und durcheinander waren wie dieser ‒ jede chaotische Facette des Lebens schien hier vertreten zu sein. Inmitten dieser Menschenmenge hielt Mo Ran die Laterne in seinen Armen, so fest er konnte. Er stand in der Schuld seines Shizun; alles andere war ihm egal. Alles, was ihn interessierte, war, das letzte Stück der Seele von Chu Wanning zu finden.

„Name?" Der Torwächter gähnte. Er hob den Blick und schaute Mo Ran an.

Mo Ran wollte gerade antworten, als der Mann zusammenzuckte, als ob er spürte, dass mit diesem jungen Mann etwas nicht stimmte. Abrupt stand er auf und starrte Mo Ran aufmerksam ins Gesicht.

Mo Ran fluchte im Geiste - er war schon einmal gestorben. Was, wenn es etwas Seltsames in seiner Seele gab? Ganz zu schweigen davon, dass er gerade ein Stück der Seele eines anderen Menschen in der Hand hielt, was an sich schon ziemlich fragwürdig war. Aber es gab nur einen Zugang zum Geisterreich, also hatte er keine andere Wahl. Mo Ran spannte sich an und begegnete dem Blick des Torwächters mit klarem Blick.

Der Mann verengte seine Augen.

Mo Ran täuschte eine Gelassenheit vor, die er nicht spürte, als er seinen Namen nannte. „Mo Ran."

Der Torwächter wartete.

Mo Rans Herz klopfte wie eine Trommel, während er sich zwang, seine Miene ruhig zu halten. „Ich hatte eine Qi-Abweichung und bin auf der Stelle gestorben. Ich hätte gern eine Eintrittskarte, bitte."

 

 

 

Erklärungen:

blumenhaftes Lächeln: Die wörtliche Übersetzung dieses Ausdrucks lautet ‘lächelnde Blume‘ oder ‘lachende Blume‘, was im Deutschen vielleicht etwas seltsam klingt, aber im Koreanischen fängt dieser schöne und unübersetzbare Ausdruck die Bewegung von einem Lächeln zu einem Lachen ein und wie Lachen und Glück den ganzen Körper erobern kann.

Huizhou ist eine Stadt in China, die in der Region Südchina und in der Provinz Guangdong liegt.




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2 Kommentare:

  1. Wieder kommt mein Review mit Verspätung *sigh* Ich kam erst heute zum lesen und ich sage vielen herzlichen Dank, das du uns zwei Kapitel zum lesen gegeben hast.
    Mo Ran hat Chu Wannings Seele gefunden. Man litt wieder förmlich mit. Chu Wanning ist in der Szene, als er Wan Tans gemacht hat. Zuerst dachte ich, es sei dieser Moment als Shi Mei gestorben war und Chu Wanning Wan Tans zubereitet. Aber dann kam raus, das es eine andere Szene war. ich war ehrlich gesagt sehr überrascht, das diese Wan Tans von Chu Wanning waren, denn man dachte ja, das Shi Mei sie zubereitet hatte. Mo ran war sauer, denn er hatte die Blüte für ihn gepflückt und die Strafe dafür war schon heftig. Es entstanden wieder Missverständnisse, nur diesmal wurde sie geklärt und Mo Ran sah Chu Wannings Seite. Es zerrreist ihn innerlich förmlich ihn in seinem jetzigen Zustand zu sehen. Aber er hat es geschafft, die Seele einzufangen. Der erste Schritt wäre geschafft. Nun kommt der nächste Part. Ich musste dennoch kurz lachen, als man den Torwächter las, der so ganz nebenbei seine Gedärme wieder reinschiebt XDD
    Aber hier erfahren wir auch, das die Reinkarnation ein paar Jahre dauert. Aber was ist das schon, wenn man die Hoffnung hat, ihn wieder zurückzuholen, oder ihn für immer zu verlieren.
    Aber der Wächter spürt etwas an Mo Ran. Fliegt er auf oder nicht? Ich bin gespannt.
    Ich wollte mehr über Mo Ran schreiben, aber es blutet einem ja selber beim Lesen das Herz.

    Mit Thousand Autumns bin ich bis auf das heutige Kapitel auf den neusten Stand. Review wird dann wirklich morgen, spätestens die Tage folgen. Dann hast du da mich auch an der Backe XD
    Ich bin jetzt erstmal unterwegs. Aber die Vorschau auf das neue Kapitel, macht mich hibbelig. Ich will es gleich lesen *sigh*

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    1. Ihr hattet einfach Glück, diese beiden Kapitel sind unter meine 3.000 Wörtermarke gefallen, weswegen ich sie im Doppelpack veröffentlicht habe.
      Dieses Kapitel wird nicht das letzte in diesem Abschnitt sein, in dem man Rotz und Wasser heult. Aber diese Szene mit den Wan Tans zerbricht einem aber auch das Herz.
      Shi Mei hat halt nie die Wahrheit über die Wan Tans gesagt und Chu Wanning hat es sich schlicht und einfach nicht getraut, selbstverständlich, dass er auf das nicht kommt. Aber dabei hätte er diesen Beweis von Chu Wannings Gunst gebraucht, um nicht mehr so schlecht von sich selbst zu denken oder über Chu Wanning.
      Diese Szene mit dem Torwächter wird auch noch sehr interessant werden, denn du darfst nicht vergessen, dass Mo Ran eigentlich immer noch Taxian-Jun ist und dieser unzählige Sünden begangen hat, die einen in die unendlichen Höllen befördern würden.

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