Chu Wannings Kopf wirbelte. Es war seine eigene Schuld, dass er auf dem Sisheng- Gipfel zu beschäftigt war und nicht aufpasste, bis zu dem Punkt, an dem er nicht einmal bemerkt hatte, dass ihm jemand so nahegekommen war.
Was war passiert? Woher war dieses Kind gekommen? Ah, warte, war er das
Mo-irgendwas... Mo-wer noch einmal? Mo Shao? Mo Zhu? Mo.. .Yu?
Mit geübter Leichtigkeit ordnete er seinen Gesichtsausdruck wie ’Fremde:
Nähert euch nicht’, und fegte schnell das Aufschrecken und die Aufregung aus
seinen Phönixaugen und ersetzte sie durch seine übliche stattliche
Distanziertheit. „Du‒"
Er wollte gerade den Mund öffnen und aus Gewohnheit schimpfen, als seine
Hand ergriffen wurde.
Chu Wanning war fassungslos. Sein ganzes Leben lang hatte sich noch nie
jemand getraut, ihn so lässig am Handgelenk zu packen. Er war für einen Moment
wie erstarrt, mit dunklem Gesicht, ohne eine Ahnung zu haben, wie er reagieren
sollte.
Seine Hand wegreißen, gefolgt von einem Rückhandschlag? Aber dann müsste
er nur noch ‘Schänder!‘ schreien und er wäre das Ebenbild einer gekränkten
Dame.
Also, seine Hand wegreißen und keine Ohrfeige? Aber würde er dann nicht
ein wenig zu gelassen wirken?
Chu Wanning war immer noch vor Unentschlossenheit erstarrt, als der
Junge grinste. „Was hast du in deiner Hand? Es ist so hübsch. Bringst du
Schülern bei, wie man dieses Zeug herstellt? Alle anderen haben sich bereits
vorgestellt und du bist der Einzige, der noch nichts gesagt hat. Welcher
Älteste bist du? Ah, ist dein Kopf in Ordnung? Weil du gerade gegen den Baum
geprallt bist?“
Wenn Chu Wannings Kopf vorher nicht wehgetan hatte, tat er es jetzt,
nachdem er von so vielen Fragen hintereinander heimgesucht wurde. Sein Kopf
pochte, als würde er gleich aufplatzen.
In seiner Aufregung begann sich ein schwaches goldenes Leuchten in
seiner anderen Hand zu sammeln und signalisierte Tianwens bevorstehendes
Erscheinen. Die anderen Ältesten waren entsetzt ‒ war Chu Wanning von Sinnen?
Würde er es wagen, sogar Mo-Gongzi zu peitschen?
Aber Mo Ran griff auch nach dieser Hand.
Nun hatte der Junge beide Hände von Chu Wanning erobert. Mo Ran hatte
keine Ahnung, in welcher Gefahr er sich befand, als er vor Chu Wanning stand,
seine Hände hielt und mit einem lächelnden Gesicht aufblickte. „Ich bin Mo Ran.
Ich kenne hier niemanden, aber allein nach den Gesichtern mag ich dich am
liebsten. Wie wäre es, wenn du mein Lehrer wärst?“
Niemand hatte mit dieser Wendung der Ereignisse gerechnet, und sie alle
wurden noch entsetzter. Ein paar Gesichter der Ältesten sahen aus, als wären
sie zu Stein geworden und in zwei Hälften gebrochen.
„Ah?", sagte der Xuanji Ältester.
„Wow!", sagte der Pojun Ältester.
„Oh?", sagte der Qisha Ältester.
"Äh ...", sagte der Jielü Ältester.
„Hah, das ist urkomisch", sagte der Tanlang Älteste.
Der Lucun Älteste wirbelte in seiner vollen Pracht eine Haarsträhne um
einen Finger und klimperte mit seinen pfirsichfarbenen Augen. „Aiya, der kleine
Gongzi ist sicher mutig. Wirklich jung und mutig, um es zu wagen, sogar den
Arsch des Yuheng Ältesten zu begrapschen."
„Könntest du es bitte nicht so widerlich sagen?", sagte der Qisha
Älteste mit Verachtung.
Der Lucun Älteste rollte anmutig mit den Augen und summte. „Hm, dann
sage ich es etwas raffinierter: Wirklich jung und mutig, er wagt es, sogar den Hintern
des Yuheng Ältesten zu begrapschen."
Dieser Qisha Älteste schwieg. Töte ihn einfach und fertig.
Von allen Ältesten war der freundliche und sanfte Xuanji Älteste am
beliebtesten. Seine Kultivierungsmethode war leicht zu erlernen und er war
großherzig und aufrecht, sodass die meisten Schüler von Sisheng-Gipfel unter
ihm studierten. Chu Wanning dachte, Mo Ran wäre da keine Ausnahme. Selbst wenn
er sich nicht für den Xuanji Ältesten entscheiden würde, würde er sich
definitiv für den direkten und temperamentvollen Pojun Ältesten entscheiden. Auf
jeden Fall, wen auch immer Mo Ran wählen würde, es würde sicherlich nicht er
selbst sein.
Aber es war Chu Wanning, vor dem Mo Ran stand. Mo Ran, der nur wenige
Zentimeter entfernt war, mit einem Gesicht voller Intimität und Zuneigung —
Dinge, mit denen Chu Wanning überhaupt nicht vertraut war. Er fühlte sich
plötzlich so, als ob ihm die Rolle des Clowns zugeteilt worden wäre, und er
fühlte sich ohne jeden Grund nervös und wusste nicht, was er tun sollte.
Chu Wanning wusste nur, wie man mit ‘Respekt’, ‘Angst’ und ‘Abscheu’
umgeht. So etwas wie ‘Zuneigung’ war viel zu schwierig.
Er lehnte Mo Ran sofort, und ohne nachzudenken, ab.
Mo Ran stand fassungslos da, das Augenpaar unter den langen Wimpern wie
erwartet niedergeschlagen ‒ aber unbeirrt. Er dachte eine Weile mit gesenktem
Kopf darüber nach, dann murmelte er hartnäckig mit kleiner Stimme: „Nun, du
wirst es sowieso sein.“
Chu Wanning hatte keine Worte.
Der Sektenanführer sah amüsiert von der Seite zu und konnte sich ein
Lachen nicht verkneifen. „A-Ran, weißt du überhaupt, wer er ist?"
„Woher soll ich das wissen? Er hat es mir nicht gesagt."
„Haha, wenn du es nicht einmal weißt, warum bist du dann so auf ihn
fixiert?"
Mo Ran, der immer noch Chu Wannings Hände hielt, drehte sich um und
antwortete mit einem Lächeln. „Weil er natürlich am sanftesten und
unbeschwertesten aussieht."
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In der Dunkelheit flogen Chu Wannings Augen abrupt auf, und die Vision
verschwamm.
Was zur verdammten Hölle?
Was genau war damals mit Mo Rans Augen nicht in Ordnung gewesen, ihn
sanft zu finden? Chu Wanning war mit dieser Frage auch nicht allein; der
gesamte Sisheng- Gipfel hatte von dem Vorfall gehört, und alle hatten Mo
Ran-Gongzi mit besorgten Ausdrücken angesehen, ‘was für ein dummes Kind’.
Chu Wanning hob eine Hand, um sie gegen seine pochende Schläfe zu
drücken. Seine Schulter schmerzte, seine Gedanken waren durcheinander, sein
Magen war leer und ihm war schwindelig. Es schien, als würde er nicht schlafen
können.
Er hockte eine Weile benommen auf dem Bett, bevor er sich aufsetzte. Er
wollte gerade ein Räucherstäbchen anzünden, um sich zu beruhigen, als es wieder
an der Tür klopfte.
Es war Mo Ran.
Chu Wanning ignorierte es, sagte aber nicht: „Bleib verdammt noch mal
draußen, oder „komm verdammt noch mal rein“.
Doch dieses Mal öffnete sich die Tür von selbst. Chu Wanning hob düster
den Kopf, aber das bereits angezündete Streichholz zwischen seinen Fingern
blieb in der Luft stehen, ohne den Weihrauch zu berühren, und erlosch nach
einer Weile von selbst.
„Bleib verdammt noch mal draußen“, sagte Chu Wanning.
Mo Ran kam verdammt noch mal rein.
In seinen Händen hielt er eine Schüssel mit dampfenden Nudeln, frisch
zubereitet. Es war einfacher dieses Mal, einfache Nudeln in reiner weißer
Brühe, bestreut mit gehackten Zwiebeln und weißem Sesam, einige
Schweinerippchen lagen darauf, Chinakohl und ein pochiertes Ei, das an den
Rändern leicht knusprig war.
Chu Wanning war am Verhungern, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos. Er
betrachtete die Nudeln, sah Mo Ran an und wandte dann sein Gesicht ab, ohne ein
Wort zu sagen.
Mo Ran stellte die Schüssel auf den Tisch und sagte leise. „Ich habe
diese Nudeln vom Koch des Gasthauses machen lassen."
Chu Wanning senkte die Wimpern. Natürlich hatte Mo Ran sie nicht selbst
gemacht.
„Versuch etwas zu essen“, sagte Mo Ran. „Diese Schüssel ist nicht scharf
und es gibt keine Rindfleisch- oder Erbsensprossen."
Dann ging er und schloss die Tür auf dem Weg nach draußen. Er fühlte
sich schlecht wegen Chu Wannings Verletzung, aber es war so ziemlich alles, was
er tun konnte.
Im Zimmer saß Chu Wanning gedankenverloren am Fenster, die Arme
verschränkt, während er auf die weit entfernte Schüssel mit
Schweinerippchen-Nudeln starrte, bis der Dampf verschwand und die Nudeln kalt
wurden, ohne einen Hauch von Wärme zu hinterlassen.
Erst dann ging er endlich hinüber und setzte sich hin, um die kalten,
geronnenen Nudeln mit den Essstäbchen zu betrachten und langsam zu essen.
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Und so kam der Spukvorfall der Familie Chen zu seinem Abschluss. Am
nächsten Tag holte die Gruppe ihre schwarzen Pferde aus dem Pensionsstall und
kehrte auf demselben Weg, den sie zur Mission genommen hatten, zur Sekte
zurück.
In der ganzen Schmetterlingsstadt, von den Teeständen bis zu den
Imbissständen, sprachen alle darüber, was mit der Familie Chen passiert war. In
einer so mittelmäßigen Siedlung wäre ein Skandal wie dieser mindestens ein Jahr
lang Stadtgespräch.
„Wer hätte gedacht, dass Chen-Gongzi Fräulein Luo bereits hinter
verschlossenen Türen geheiratet hat? Ah, arme Miss Luo.“
„Wenn ihr mich fragt, wäre dies nicht passiert, wenn die Chens nicht
reich geworden wäre. Man kann Männer wirklich nicht reich werden lassen, oder
sie werden all ihre schlimmsten Impulse von der Leine lassen, um die ganze
Stadt zu zerstören."
Ein Mann war ziemlich unzufrieden, als er das hörte. „Chen-Gongzi hat
nichts falsch gemacht, es waren alles seine Eltern. Ich hoffe, dass die
zukünftigen Kinder und Enkel dieses Bastards Hausherrn Chen ohne Arschlöcher
geboren werden."
„Die Toten sind sicherlich erbärmlich, aber was ist mit den Lebenden?",
sagte jemand anderes. „Schaut euch Frau Chen-Yao an, geschätzte Tochter der
Familie Yao — sie hat das kürzeste Ende des Stocks erwischt, egal wie man es
betrachtet. Diese alte, schwarzhaarige Chen Schlampe hat das arme Mädchen
betrogen. Was sollte sie überhaupt tun jetzt?"
„Natürlich wieder heiraten."
Die Person verdrehte die Augen, schnaubte zahnlos und stocherte in der
Lücke zwischen seinen Zähnen herum. „Wenn meine Frau damit einverstanden ist,
warum dann nicht? Miss Yao ist wirklich hübsch, also wird mir die Sache mit der
Witwe nichts ausmachen.“
„Puh, träumt weiter, selbst als Gebrauchtware ist sie weit außerhalb
Eurer Liga."
Mo Ran saß auf dem Rücken des Pferdes und spitzte die Ohren. In bester
Laune lauschte er nach links und rechts. Hätte Chu Wanning nicht die Augen
geschlossen, die Stirn in Falten gelegt und sich die Worte ‘extrem laut’ auf
die Stirn geschrieben, wäre Mo Ran vielleicht hinübergegangen, um mit den
Stadtbewohnern zu plaudern.
Seite an Seite reitend schafften sie es schließlich aus der eigentlichen
Stadt heraus und kamen am Stadtrand an.
Shi Mei stieß ein überraschtes Geräusch aus und deutete in die Ferne. „Shizun,
schau da drüben."
Vor dem zerstörten Tempel versammelte sich eine große Gruppe von Bauern
in groben Kleidern und transportierte eifrig Ziegel herum. Sie schienen darauf
bedacht zu sein, den Tempel wieder aufzubauen und den Status der Geisterherrin
der Zeremonien zu rekonstruieren.
„Shizun, die vorherige Geisterherrin ist weg, aber sie machen eine
neue“, sagte Shi Mei besorgt. „Wird diese sich zu einer Gottheit kultivieren
und auch Ärger machen?“
„Ich weiß nicht", sagte Chu Wanning.
„Sollen wir versuchen, es ihnen auszureden?"
„Schmetterlingstadts Tradition der Geisterhochzeit gibt es seit
Generationen. Es ist nicht die Art von Dingen, die durch alles, was wir sagen,
geändert werden kann. Lass uns gehen."
Dann setzte er sich im Trab in Bewegung, Staubwolken hinter sich
herziehend.
Es war Abend, als sie wieder am Sisheng-Gipfel ankamen. Am Haupttor wies
Chu Wanning seine Schüler an: „Geht beide zur Loyalitätshalle und meldet euch.
Ich gehe zum Disziplinierungshof.“
Mo Ran verstand nicht. „Warum gehst du dorthin?"
Doch die Sorge stand Shi Mei deutlich ins Gesicht geschrieben.
Chu Wannings Gesicht war ausdruckslos. „Um eine Strafe zu erhalten."
Das Sprichwort besagte, dass ein Verbrechen ein Verbrechen sei, ob von
einem Bauern oder dem Kaiser begangen, aber welcher Kaiser war jemals
tatsächlich ins Gefängnis geworfen worden, um auf seine Enthauptung zu warten,
weil er einen Mann getötet hatte? In der Kultivierungswelt war es nicht anders.
Eine Übertretung war eine Übertretung, ob sie von einem Schüler oder
einem Ältesten begangen wurde ‒ das waren leere Worte in der großen Mehrheit
der Sekten. In Wirklichkeit könnte ein Ältester, der eine Übertretung begangen
hat, höchstens einen Entschuldigungsbrief schreiben. Welcher Idiot würde
tatsächlich hingehen und gehorsam seine Peitschenhiebe oder ein paar Dutzend
Schläge entgegennehmen?
Deshalb war das Gesicht des Jielü Ältesten grün, als er sich Chu
Wannings Geständnis zu Ende gehört hatte. „Nein, es ist nur so, Yuheng
Ältester, du hast wirklich... du hast den Klienten wirklich geschlagen?"
„Mn“, erwiderte Chu Wanning sanft.
„Du bist wirklich zu..."
Chu Wanning blickte auf und warf ihm einen bösen Blick zu. Der Jielü
Älteste hielt den Mund.
„In Übereinstimmung mit den Regeln beträgt die Strafe für diese
Übertretung zweihundert Hiebe, drei Tage langes Knien in der Yanluo-Halle und
drei Monate Hausarrest“, begann Chu Wanning. „Ich bestreite die Übertretung
nicht und bin bereit, die Strafe zu erhalten."
Verblüfft blickte der Jielü Älteste nach links und rechts und krümmte
dann seinen Finger. Die Türen zum Disziplinierungshof schlossen sich mit einem Knall
und ließen nur die beiden in der Stille von Angesicht zu Angesicht stehen.
„Was soll, das bedeuteten?", sagte Chu Wanning.
„Wie soll ich das sagen… Yuheng Ältester, es ist nicht so, dass du es
nicht wüsstest ‒ die Regeln müssen die Regeln sein, aber sie gelten nicht wirklich
für dich. Die Türen sind geschlossen; das bleibt zwischen dir und mir. Was
sagen wir, wir lassen es einfach schleifen? Wenn ich dich tatsächlich schlage
und der Sektenanführer es herausfindet, wird er dann nicht zornig auf mich
sein? "
Chu Wanning hatte keine Lust, seinen Atem zu verschwenden, also sagte er
einfach: „Ich halte andere an die Regeln und
ich werde mich auch daranhalten." Dann kniete er genau dort vor der Halle
nieder, mit Blick auf die Tafel über der Tür, auf der stand: Disziplin.
„Führe die Strafe aus."
Erklärungen:
Mo Shao? Mo Zhu? Mo.. .Yu?: Chu Wannings Vermutungen beziehen sich alle aufs Essen, basierend auf Mo Rans Vor- und Höflichkeitsnamen.
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