Kapitel 29 ~ Dieser Ehrwürdige will nicht, dass du stirbst

In dieser Nacht lag Mo Ran mit den Händen hinter dem Kopf in seinem Bett auf dem Sisheng-Gipfel. Er starrte auf die Dachbalken über ihm und war nicht dazu in der Lage einzuschlafen. Vergangene Ereignisse spielten sich in seinem Kopf ab, eines nach dem anderen, bis schließlich am Ende jedes Stückchen und Fragment nur noch Chu Wannings Gesicht war, elegant und eiskalt.

Um ehrlich zu sein, hatte Mo Ran nie verstanden, was er für diese Person empfand.

Chu Wanning hatte er zum ersten Mal unter dem blühenden Baum vor dem Himmelsdurchdringenden Turm gesehen. Er hatte ein lockeres Robe mit weiten Ärmeln getragen ‒ der Einzige der zwanzig Ältesten, der nicht die silbrig-blaue Rüstung des Sisheng-Gipfels trug. Als er an diesem Tag mit gesenktem Kopf geistesabwesend mit der gepanzerten Kralle an seiner Hand herumgespielt hatte, hatte sein Profil konzentriert und doch sanft ausgesehen wie eine weiße Katze, die in warmes goldenes Sonnenlicht getaucht war.

Mo Ran starrte ihn aus der Ferne an, unfähig, den Blick abzuwenden.

Sein erster Eindruck von Chu Wanning war geradezu strahlend gewesen. Aber er hatte der Vernachlässigung, den Bestrafungen und der bitteren Strenge, die auf die jeweils vorangegangenen folgten, nicht standgehalten. Die scharfen Zähne und Krallen dieser weißen Katze hatten Mo Ran mit Wunden übersät.

Mo Ran hatte sich an einem seidenen Faden ans Leben geklammert, als sein Onkel ihn aus dem Feuermeer rettete. Er hatte gedacht, dass er auf dem Sisheng-Gipfel einen Shizun finden würde, der ihn mit Mitgefühl behandeln und sich aufrichtig um ihn kümmern würde.

Aber so sehr er auch versucht hatte, seinem Shizun zu gefallen, wie viel Arbeit er auch investiert hatte, es war, als würde Chu Wanning nichts davon sehen. Umgekehrt brachten ihm die kleinsten Fehler eine Runde rücksichtsloser Peitschenhiebe ein, wodurch Mo Ran jedes Mal wund und blutend zurückblieb.

Später erfuhr er sogar, dass Chu Wanning ihn aus tiefstem Herzen verachtete. Diese Person, die mit schneeweißen Roben unter dem blühenden Baum stand, hatte ihn für ’von Natur aus abscheulich, jenseits von Heilung’ gehalten.

Einst hatte er Chu Wanning als den kalten Mond am Himmel angesehen, ihn von ganzem Herzen verehrt. Aber was war er wirklich für diesen kalten Mond?

Ein Schüler hatte keine andere Wahl, als zu akzeptieren. Ein verabscheuungswürdiger Abschaum. Ein wertloses Kind, das in einem Bordell aufgewachsen ist. Ein dreckiger Bastard.

Obwohl Mo Ran immer ein sorgloses und leichtfertiges Verhalten an den Tag gelegt hatte, begann er langsam, Chu Wanning zu hassen ‒ einen Hass, gemischt mit einer aggressiven Abneigung, nachzugeben. Er weigerte sich, sich einfach hinzulegen und es anzunehmen.

Danach hielt er an seinem Groll fest, der von Tag zu Tag wuchs, und er provozierte Chu Wanning in dem Versuch seine Aufmerksamkeit, sein Lob, seine Verwunderung zu gewinnen.

Aber wenn Chu Wanning bereit gewesen wäre, ihm ein ’nicht schlecht’ zu geben, hätte er gerne sein Leben gegeben.

Chu Wanning hatte ihn jedoch nie gelobt. Egal, wie sehr sich Mo Ran bemühte, wie fleißig er war, wie gut er es tat, sein unnahbarer Shizun gab ihm nie mehr als ein leichtes Nicken, bevor er sein Gesicht wegdrehte.

Mo Ran war kurz davor gewesen, sich zu verlieren. Der Himmel wusste, wie sehr er Chu Wanning am Gesicht packen und ihn dazu bringen wollte, sich umzudrehen, um seinen Shizun zu zwingen, ihn anzusehen, ihn zu sehen, um dieses ‘von Natur aus abscheulich, jenseits von Heilung‘ zurückzunehmen!

Aber er konnte nichts anderes tun, als wie ein folgsamer streunender Hund vor Chu Wanning niederzuknien, den Kopf zu senken und mit größtem Respekt zu sagen: „Dieser Schüler wird sich an Shizuns Lehren halten."

Vor Chu Wanning war Mo Weiyu bis auf die Knochen bescheiden gewesen. Auch wenn er ein ‘junger Meister’ war, war er immer noch wertlos. Endlich verstand er, dass jemand wie Chu Wanning ihn niemals mit etwas anderem als Verachtung ansehen würde.

Noch später, nachdem viel geschehen war ....

_____________________________

 

Mo Ran übernahm den Sisheng-Gipfel, strebte dann nach dem Höchsten der Höchsten und wurde der allererste Kaiser der Kultivierungswelt. Unter seinem dunklen Banner zitterten alle vor Angst, und niemand wagte es, seinen Namen mehr als ein leises Flüstern auszusprechen. Niemand erinnerte sich an den Makel seiner unsäglichen Herkunft.

Fortan gab es kein Mo Weiyu mehr, sondern nur noch Taxian-Jun.

Taxian-Jun. Jeder hasste ihn — hasste ihn aufs Äußerste. Monströser Mo Weiyu, möge er ohne Wiedergeburt und Erlösung zur Ewigkeit verdammt sein!

Tanxian-Jun Mo Weiyu Taxian-Jun Mo Weiyu Taxian-Jun‒

Ta. Xian. Jun.

Aber was wäre, wenn sie Angst hätten? Der Sisheng Gipfel vibrierte immer noch vom Grollen der Stimmen, die im Einklang schrien, als sich Tausende vor ihm vor dem Wushan Palast niederwarfen und all diese Köpfe sich in Ehrfurcht vor ihm neigten.

„Lang lebe Kaiser Taxian-Jun."

Er fühlte sich fantastisch. Bis er Chu Wannings Gesicht in der Menge sah.

Chu Wannings Kultivierung war zu diesem Zeitpunkt zunichtegemacht worden. Er wurde unterhalb der Halle gefesselt und war zu einem bloßen Gefangenen am Fuß der Treppe reduziert worden.

Mo Ran hatte beschlossen, ihn hinzurichten. Aber er wollte Chu Wanning keinen schnellen und einfachen Tod gönnen, also fesselte er seine Gliedmaßen, schnitt ihm eine kleine Wunde in die Halsschlagader und verzauberte die Wunde, damit sie nicht gerinnt. Sein Blut sickerte nach unten, während sein Leben Stück für Stück versiegte.

Die Sonne brannte über ihnen. Die Krönungszeremonie war schon eine Weile im Gange, und Chu Wannings Blut hätte beinahe komplett abgeflossen sein müssen. Mit dem Tod dieser Person würde Mo Ran endlich von seiner Vergangenheit befreit sein. Daher hatte er absichtlich dafür gesorgt, dass er bei seiner Krönung verblutete. Auf diese Weise würde der Moment, in dem er Meister der Kultivierungswelt wurde, der Moment sein, in dem Chu Wanning zu einem leblosen Leichnam wurde. Und alles, was in der Vergangenheit passiert war, würde ausgelöscht werden.

Alles war Perfekt.

Aber warum war dieser Mann selbst an der Schwelle des Todes noch so gleichgültig? So elegant, dass er nur noch kalt war ... Chu Wannings Gesicht war völlig farblos, aber sein Ausdruck blieb teilnahmslos. Als er Taxian-Jun ansah, war es weder Anerkennung noch Furcht. Nur Abscheu, Verachtung und‒

Mo Ran dachte, er muss verrückt geworden sein, oder dass Chu Wanning verrückt geworden sein musste‒

Und ein Hauch von Mitleid.

Chu Wanning, der am Rande des Totes stand und von Taxian-Jun besiegt worden war, bemitleidete ihn! Er tat ihm tatsächlich leid, er, der über allen anderen an der Spitze stand, der über grenzenlose Macht verfügte. Er... er hat tatsächlich ‒ er hat es tatsächlich gewagt!

Die Wut, die sich über zehn Jahre in Mo Ran aufgebaut hatte, machte ihn schließlich wahnsinnig. Genau dort in der Loyalitätshalle ‒ zu diesem Zeitpunkt umbenannt in den Wushan Palast ‒ vor den Tausenden von versammelten Menschen, umgeben vom Donner ihres Jubels und ihrer Schmeicheleien, stand er abrupt mit wehenden schwarzen Roben auf und ging die Stufen hinunter.

Vor all diesen Leuten packte er Chu Wanning am Kiefer, ein süßes, aber bedrohliches Lächeln lag auf seinem verzerrten Gesicht. „Shizun, heute ist ein glücklicher Anlass für diesen Schüler. Warum feierst du nicht?“

Die tausend Leute verfielen augenblicklich in Totenstille.

Chu Wanning war weder ehrerbietig noch herrschsüchtig, sein Gesicht war eiskalt, als er sagte: „Ich habe keinen Schüler wie dich.“

Mo Ran brach in Gelächter aus, der Klang seines hemmungslosen Lachens umkreiste wie Geier die goldene Halle.

„Shizun ist so herzlos. Dieser Ehrwürdige ist enttäuscht.“ Er lachte weiter, während er sprach, hallte seine Stimme wider. „Du hast keinen Schüler wie mich? Wer hat mich dann gelehrt, mich zu kultivieren? Wer hat mir die Kampfkünste beigebracht? Und meine kaltblütige Rücksichtslosigkeit ‒ wer hat mir die beigebracht?! Und die Peitschennarben überall auf meinem Körper, die immer noch nicht verblasst sind ‒ lass mich dich fragen, wer hat mir die gegeben?!"

Er hörte auf zu lächeln, sein Ton wurde plötzlich bösartig und ein kaltes Leuchten lag in seinen Augen.

„Chu Wanning! Schämst du dich so sehr, einen Schüler wie mich zu haben? Sind meine Knochen so minderwertig oder ist mein Blut zu schmutzig? Lass mich dich fragen, Chu Wanning, lass mich dich fragen ‒ was meinst du mit 'von Natur aus abscheulich, jenseits von Heilung'?"

 Er verlor den Verstand, seine Stimme verzerrte sich, als er brüllte.

„Du hast mich nie als deinen Schüler gesehen, nie etwas von mir gehalten! Aber ich ‒ ich habe dich einmal... wirklich als meinen Lehrer gesehen. Ich habe dich wirklich respektiert. Ich habe dich verehrt! Warum hast du mich so behandelt? Warum hast du mir nie auch nur ein einziges Wort des Lobes entbehrt? Warum konnte ich, egal was ich tat, nie auch nur das kleinste bisschen Anerkennung von dir bekommen?!"

Chu Wannings ganzer Körper erzitterte und sein Gesicht wurde noch blasser. Diese Phönixaugen weiteten sich leicht, als er Mo Ran anstarrte. Seine Lippen bewegten sich, als wollte er etwas sagen, aber am Ende kam nichts heraus.

Alle, die einmal auf dem Sisheng-Gipfel gewesen waren, waren fort. Die beiden letzten verbliebenen Personen aus jenen vergangenen Tagen starrten sich gegenseitig an.

In der darauffolgenden unangenehmen Stille schien sich Mo Ran endlich zu beruhigen. Er schloss die Augen, und als sie sich öffneten, trug er wieder dieses abscheuliche Lächeln, das die Menschen erschaudern ließ. Er sagte freundlich und herzlich: „Shizun, hast du nicht immer auf mich herabgesehen? Hast du nicht immer gedacht, ich sei minderwertig?“

Er hielt inne, und sein Blick schweifte über die Tausend, die vor seinem Palast knieten wie ein Haufen kauernder Hunde. Sie taten dies, um ihn als Herrscher der Kultivierungswelt anzuerkennen, der über den Angelegenheiten der Sterblichen steht.

Mo Ran lächelte schwach. „Wie ist es jetzt? Bevor du stirbst, lass mich dich noch einmal fragen: Wer ist in dieser Welt der Minderwertige und wer der Respektable? Wer tritt auf wen? Wer hat am Ende gewonnen? Wer hat verloren?“ Chu Wannings Wimpern waren gesenkt, als wäre er immer noch in Mo Rans Geständnis von vorhin versunken. Schließlich packte Mo Ran sein Kinn und hob sein Gesicht energisch nach oben.

Aber in diesem Moment erstarrte Mo Ran. Es war das erste Mal, dass er Reue auf Chu Wannings Gesicht gesehen hatte. Dieser Ausdruck war viel zu ungewohnt. Mo Ran zog abrupt seine Hand zurück, als hätte er sich verbrannt, „Du…“

Chu Wannings Blick war gequält. Er schien im Stillen eine Art Qual zu erleiden, die sich in seine Knochen bohrte, eine Art Angst, die seine Organe zerfetzte. Seine Stimme war leise. Sie schwebte im Wind, nur von Mo Ran gehört. Er sagte: „Es tut mir leid, Mo Ran. Es war die Schuld dieses Meisters…“

Plötzlich war die Welt still. Das Rauschen des Windes, das Rascheln der Blätter, das Rascheln der Roben, all das verschwand. Da war nur Chu Wannings Gesicht, das ihn ansah. Es war das Einzige auf der ganzen Welt, das klar war ‒ alles, was er sehen konnte.

In diesem Moment hätten ihm viele Dinge durch den Kopf gehen müssen. Freude, Selbstgefälligkeit, Ekstase. Aber nichts davon war es. Es gab nur einen seltsamen Gedanken in seinem Kopf, und nur diesen einen: Wann war er... so viel größer geworden als Chu Wanning?

Es war wirklich viel Zeit vergangen. Und vieles hatte sich verändert. Mo Rans Lippen bewegten sich stockend im Flüstern. „Was… hast du gesagt?"

Aber Chu Wanning lächelte nur. Ein Lächeln, das Mo Ran kannte, aber auch nicht, und in diesem Paar Phönixaugen sah er das Spiegelbild seiner eigenen verzerrten Gesichtszüge.

Dann schlossen sich diese Augen langsam und Chu Wanning fiel nach hinten. In diesem Augenblick packte Mo Ran ihn an den Schultern, sein wahnsinniges, wütendes Brüllen klang wie das einer Bestie, die in Stücke zerfällt.

„Chu Wanning! Chu Wanning, was hast du gesagt? Sag es noch einmal!"

Die Person in seinen Armen antwortete nicht, die Lippen blass wie Birnenblüten. Dieses seltsame Gesicht hatte immer so distanziert gewirkt, aber jetzt, kurz vor dem Tod, war es in einem traurigen Lächeln erstarrt, eine leichte Kurve lag um seine Mundwinkel. Es war genau wie das Gesicht in Mo Rans Erinnerungen, als er Chu Wanning zum ersten Mal vor dem Himmelsdurchdringenden Turm gesehen hatte. Ein kleines, sanftes Lächeln.

„Chu Wanning!"

Die Sanftheit zerschmettert; die Hai-Tang-Blüten verwelkten und verstreuten sich über den Boden.

Mo Ran hatte endlich, was er wollte. Er hatte das Leben seines Shizun mit Füßen getreten, als er an die Spitze der Welt kletterte.

Aber was das? Was war das! Die Qual und der Hass in seiner Brust wurden nur noch schlimmer. Was zum Teufel war das?

Ein schwacher schwarzer Nebel sammelte sich in Mo Rans Hand, als er schnell Chu Wannings Meridiane berührte und die letzten Überreste seines Lebens versiegelte.

„Hattest du gehofft, einfach so zu sterben?" Mo Rans Augen traten hervor, sein Gesichtsausdruck bösartig. „Ich habe noch eine Rechnung mit Ihnen offen ‒ ich bin noch nicht fertig! Ich bin verdammt noch mal noch nicht fertig! Wenn du es mir nicht deutlich sagst ‒ werde ich Xue Meng, den Kunlun-Taxue-Palast und alle übrig gebliebenen, die du beschützen wolltest, vernichten! Ich werde sie alle in Fetzen reißen! Du denkst besser noch einmal darüber nach!“

Vergiss die Zeremonie und scheiß auf die Tausenden von Menschen, die vor ihm knien. Er hatte seine Meinung geändert. Er wollte nicht länger, dass Chu Wanning starb. Er hasste Chu Wanning, und er wollte, dass er lebte ‒ lebte...

Mit einer ausholenden Bewegung hob er diese Person hoch, die zu viel Blut verloren hatte, und beschwor sein Qinggong herauf, um mit einem einzigen Satz auf den hohen überhängenden Dachvorsprung zu springen, wobei seine Roben flatterten wie ein einsamer Adler, der seine Flügel entfaltet. Er flog schnell über ein Dach nach dem anderen, steuerte direkt auf den Südgipfel zu ‒ direkt auf den Roten-Lotus-Pavillon, in dem Chu Wanning einst gelebt hatte.

An diesem Ort gab es eine Fülle von spiritueller Energie und zahlreiche Heilkräuter. Mo Ran wollte Chu Wanning zurückbringen.

Eine Person musste leben, um gehasst zu werden; wenn diese Person starb, gäbe es keinen Grund mehr, sie zu hassen. Hatte er vorhin den Verstand verloren, als er Chu Wanning eigenhändig töten wollte?

Wenn Chu Wanning sterben würde, was würde ihm dann überhaupt noch auf dieser Welt bleiben...?

_______________________________

 

Mo Ran lag im Bett, den Geschmack vergangener Erinnerungen auf seiner Zunge. Es war schon spät in der Nacht, aber er konnte nicht schlafen.

Mo Ran stand auf, wusch sich das Gesicht, zog sich an und machte sich mit der Laterne in der Hand auf den Weg zur Yanluo-Halle.

Chu Wanning hatte zweifellos nur seine Wunden achtlos verbunden, bevor er zu seiner knienden Bestrafung dorthin ging. Mo Ran wusste, wie er war ‒ hartnäckig und unnachgiebig, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, ob sein Körper das Aushalten würde ‒ Xue Meng hätte ihn nicht aufhalten können, selbst wenn er es versucht hätte.

Tatsächlich war von außerhalb der Yanluo-Halle eine kleine Lampe zu sehen. Sie brannte von selbst, als die Kerze langsam tropfte. Chu Wanning kniete mit dem Rücken zur Tür, seine Haltung gerade und aufrecht wie eine Kiefer.

Als Mo Ran diese Gestalt sah, verspürte er einen Anflug von Bedauern. Es war mitten in der Nacht ‒ was tat er, war er gekommen, um Chu Wanning zu sehen? War er verrückt geworden? Aber er war schon da, und es wäre ihm albern vorgekommen, sich einfach umzudrehen und wieder zu gehen.

Er dachte nach und entschied sich für einen Kompromiss. Leichtfüßig stellte er die Laterne zu seinen Füßen ab. Er würde nicht weggehen, aber er würde auch nicht hineingehen. Er stand vor dem Fenster, stützte die Ellbogen auf den Rahmen, stützte die Wangen in die Hände und starrte Chu Wanning aus der Ferne an.

Die Kupferglöckchen, die an den Ecken des Daches hingen, schwankten sanft, und der süße Duft von Blumen und Pflanzen erfüllte die Nachtluft. Die beiden ‒ einer stehend, einer kniend ‒ waren durch ein rotes Sprossenfenster und die leere Stille der Halle getrennt.

Wenn dies vor seiner Wiedergeburt geschehen wäre, hätte Mo Ran die Befugnis gehabt, in die Halle zu schreiten und Chu Wanning zu befehlen, mit dem Reflektieren aufzuhören und sich wieder auszuruhen. Wenn Chu Wanning sich weigerte, würde er die Fähigkeit haben, die Bewegungen seiner Gliedmaßen zu versiegeln und ihn gewaltsam wegzutragen.

Aber im Moment hatte er weder die Autorität noch die Fähigkeiten. Er war nicht einmal so groß wie Chu Wanning.

Mo Rans Kopf war völlig durcheinander. Er sah von außerhalb des Fensters zu, aber die Person drinnen bemerkte ihn nie. Er konnte Chu Wannings Gesicht nicht sehen und Chu Wanning konnte seines nicht sehen.

Und so kniete die weiße Katze nachts und drehte sich nie um.

Und so stand der dumme Hund die ganze Nacht da und ging kein einziges Mal weg.




 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen