Kapitel 3 ~ Der Shige dieses Ehrwürdigen

Hm ... Da Mo Rans Seele in die Vergangenheit zurückversetzt worden war, hatte er vielleicht seine Kultivierung mitgenommen?

Mo Ran rezitierte eine Beschwörung und spürte, wie die spirituelle Energie in seinem Körper aufstieg. Obwohl reichlich davon vorhanden war, war sie nicht stark. Das hieß, seine Kultivierung war nicht fortgeschritten.

Egal. Er war schlau, scharfsinnig und mit angeborenem Talent gesegnet. Er könnte sie einfach noch einmal kultivieren, keine große Sache. Die Wiedergeburt war bereits ein gesegnetes Ereignis von beispiellosem Ausmaß — es lag nahe, dass es hier und da einige kleine Unvollkommenheiten geben würde. Als Mo Ran das dachte, änderte er schnell seinen düsteren Gesichtsausdruck in einen, der für einen fünfzehnjährigen Jugendlichen angemessener war, und machte sich fröhlich auf den Weg zurück zur Sekte.

Es war mitten im Sommer. Eine Pferdekutsche raste mit rollenden Rädern vorbei, und niemand achtete auf den fünfzehnjährigen Mo Ran. Nur eine herkömmliche Dorffrau, die eine Pause von der Feldarbeit einlegte und aufblickte, um sich den Schweiß abzuwischen, bemerkte diesen außergewöhnlich gut aussehenden Jugendlichen und starrte ihn an. Mo Ran erwiderte diese Blicke mit seinen eigenen und lächelte dabei, bis die verheiratete Frau stark errötete und wegsah.

Gegen Abend kam Mo Ran in der Stadt Wuchang an. Die Stadt war nicht weit vom Sisheng-Gipfel entfernt, dessen hoch aufragender Gipfel in der Ferne auftauchte, umrahmt von Wolken, die von der blutrot untergehenden Sonne beleuchtet wurden.

Etwas hungrig ging er in ein Restaurant. Während er einen Blick auf die Speisekarte warf und an die Theke klopfte, gab er schnell eine Bestellung auf.

„Ladenbesitzer, ein Bon-Bon-Huhn, einen Teller würzige Fuqi-Feipian-Rinderkutteln in Chilisauce, zwei Jin Wein und einen Teller mit geschnittenem Rindfleisch, bitte.“

Dieses Restaurant war ein beliebter Rastplatz und es herrschte derzeit ein reges Treiben. Ein Geschichtenerzähler stand auf der Bühne, schüttelte seinen Fächer und erzählte auf lebhafte Weise die Geschichte vom Sisheng-Gipfel. Seine Spucke flog überall herum. Mo Ran suchte sich eine Nische am Fenster und hörte ihm beim Essen zu.

„Wie sicher jeder weiß, ist die Kultivierungswelt in das obere und das untere Kultivierungsreich eingeteilt. Heute sprechen wir über die größte Sekte im unteren Kultivierungsreich, dem Sisheng Gipfel. Wusstet ihr, dass vor hundert Jahren unsere Stadt Wuchang ein armer und verlassener Ort in der Nähe des Eingangs zum Geisterreich war? Niemand wagte es, nach Einbruch der Dunkelheit hinauszugehen. Wenn man wirklich nachts reisen musste, musste man eine Exorzismusglocke läuten und Weihrauchasche und Papiergeld verstreuen, während man sang: ‘Menschen werden von den Bergen ausgeschlossen, Dämonen werden vom Papier ausgeschlossen’ und so schnell wie möglich weiterziehen. Aber heutzutage blüht und gedeiht unsere Stadt nicht anders als anderswo, und dass alles dank der Fürsorge des Sisheng-Gipfels. Diese rechtschaffene Sekte steht direkt am Tor zum Geisterreich, zwischen der Grenze von Yin und Yang. Obwohl die Sekte vor nicht allzu langer Zeit gegründet wurde ...“

Mo Ran hatte diese Geschichte schon so oft gehört, dass seinen Ohren schon verdammte Schwielen gewachsen waren, und so schaute er sich stattdessen außerhalb des Fensters um. Zufälligerweise war gerade unter dem Fenster eine Stand aufgebaut worden. Dort waren mehrere Fremde von außerhalb der Stadt in Roben von Kultivierern gekleidet und etwas war mit einem schwarzen Tuch bedeckt, während sie am Straßenrand Tricks vorführten.

Das war viel interessanter als die Geschichte des Geschichtenerzählers, und Mo Rans Aufmerksamkeit wurde darauf gelenkt.

„Kommt, kommt alle! Werft einen Blick auf die Pixiu-Jungen, wilde mythische Bestien, die wir gezähmt haben, um gehorsam Tricks auszuführen — sie können sogar rechnen! Es ist nicht einfach, zu reisen, um galante Taten zu vollbringen; daher erübrigt ein paar Trinkgelder und bleibt in der Nähe. Kommt und seht euch den ersten Trick an — einen Pixiu Abakus!“

Mit einem Schwung rissen die Kultivierer das schwarze Tuch weg, um ein paar Monster mit Menschengesichtern und Bärenkörpern im Käfig zu enthüllen.

Mo Ran war sprachlos. Das sind doch nur ein paar wuschelige Bärenjungen. Und ihr wagt es, tatsächlich zu behaupten, dass sie Pixius sind?!

Das war ziemlicher Blödsinn. Nur Dummköpfe würden es glauben.

Aber Mo Rans Weltanschauung wurde bald erweitert, als sich etwa zwanzig oder dreißig Dummköpfe versammelten, um zuzuschauen, zu jubeln und zu klatschen. Sie zogen auch die Aufmerksamkeit aller im Restaurant auf sich, was die Sache für den Geschichtenerzähler ziemlich unangenehm machte.

„Der derzeitige Anführer vom Sisheng Gipfel ist ein Mann, der weit und breit für seine Stärke und Brillanz bekannt ist—“

„Schön! Noch einmal!"

Ermutigt sah der Geschichtenerzähler auf den Besitzer der Stimme — nur um einen Kunden zu finden, dessen Gesicht vor Aufregung rot glühte, dessen Blick aber nicht auf ihn, sondern auf die Straßenkünstler gerichtet war.

„Oh? Der Pixius macht Mathe auf einem Abakus?“

„Wow, ziemlich beeindruckend!“

„Gute Show! Lass den Pixiu wieder mit den Äpfeln jonglieren!“

Das gesamte Restaurant lachte, während sich alle an den Fenstern versammelten, um die Szene unten zu beobachten.

Der Geschichtenerzähler versuchte pathetisch weiterzumachen: „Der Meister ist am besten für seinen Fächer bekannt. Er…“

„Ah ha ha ha, dieser helle Pixiu will den Apfel essen. Sieh ihn dir an, wie er auf dem Boden rollt!"

Der Geschichtenerzähler wischte seinen Fächer mit einem Handtuch ab, seine Lippen zitterten vor Wut.

Mo Ran schürzte die Lippen zu einem Lächeln und rief gemächlich hinter dem Perlenvorhang hervor: „Vergiss den Sisheng Gipfel. Erzähle stattdessen eine Geschichte aus den Achtzehn Liebkosungen. Ich garantiere, dass es die Aufmerksamkeit aller auf sich ziehen wird."

Der Geschichtenerzähler wusste nicht, dass die Person hinter dem Vorhang einer der jungen Meister vom Sisheng Gipfel höchstpersönlich war, Mo Ran. Er nahm all die moralische Integrität zusammen, die er hatte, um zu stottern: „V-vulgäre Geschichten sind nicht für einen eleganten Saal geeignet.”

Mo Ran lachte. „Ihr nennt diesen Ort einen eleganten Saal? Wieso schämst Ihr Euch nicht?“

Von unten kamen laute Geräusche.

„Ah! Was für ein schnelles Pferd!“

„Das muss ein Kultivierer vom Sisheng-Gipfel sein!“

Inmitten des Geschwätzes galoppierte ein schwarzes Pferd aus Richtung des Sisheng-Gipfels und stürmte blitzartig in den Straßenzirkus.

Auf dem Pferd saßen zwei Personen. Einer trug einen schwarzen Bambushut und war in einem schwarzen Umhang gehüllt, der ihn so vollständig bedeckte, dass es unmöglich war, das Alter oder Geschlecht zu bestimmen. Die andere Person war eine dreißig- oder vierzigjährige Frau mit rauen Händen und einem schweißnassen Gesicht.

Die Frau fing an zu weinen, sobald sie die Menschenbären sah. Sie kletterte vom Pferd und stolperte auf sie zu, kniete nieder und umarmte einen von ihnen, während sie jammerte. „Mein Sohn! Oh, mein Sohn—“

Das Publikum war fassungslos.

„Eh? Sind das nicht Pixiu-Jungen?“, murmelte jemand, während er sich am Kopf kratzte, „Warum nennt diese Frau es ihren Sohn?"

„Vielleicht ist es eine Pixiu-Mutter?“

„Oh ho, das wäre dann schon was, wenn die Weibchen Menschengestalt annehmen können.“

Diese Dorfbewohner hatten keine relevanten Kenntnisse oder Erfahrungen und schwafelten nur Unsinn, aber Mo Ran verstand sofort, was los war.

Gerüchten zufolge entführten einige abtrünnige wandernde gerne Kinder, rissen ihnen die Zunge heraus, damit sie nicht sprechen konnten, verbrannten ihnen die Haut mit kochendem Wasser und klebten ihnen dann Tierhäute auf den blutigen Körper, so dass, sobald das Blut geronnen war, Kind und Fell eins wurden und sie wie ein Monster aussahen. Diese Kinder konnten weder sprechen, noch schreiben, noch hatten sie keine andere Wahl, als die Misshandlungen zu erleiden und gehorsam Tricks wie 'Pixiu Abakus' vorzuführen. Jeder Widerstand brachte ihnen nur Schläge ein.

Kein Wunder, dass er keine dämonische Energie gespürt hatte. Diese 'Pixius' waren überhaupt keine Monster, sondern tatsächlich lebende Menschen.

Während Mo Ran darüber nachdachte, sagte die Person im schwarzen Umhang leise etwas zu den Kultivierern, die in Wut gerieten.

„Eine Entschuldigung? Das ist nicht in meinem Vokabular vorhanden!“

„Was solls, wenn Sie vom Sisheng Gipfel sind?“

„Kümmern Sie sich um Ihre eigenen verdammten Angelegenheiten! Schlagt ihn zusammen!“

Sie stürzten sich auf die schwarz gekleidete Person, um sie zu verprügeln.

„Herrje“, als Mo Ran zusah, wie sein Mitschüler verprügelt wurde, stieß er nur ein leises Glucksen aus, „Wie gruselig.“

Er hatte keinerlei Absichten zu helfen. Selbst wenn es um sein eigenes Leben ginge, hatte er die rechtschaffenen und aufdringlichen Wege seiner Sekte immer verabscheut. Ein Großteil von ihnen war immer schnell damit, sich wie so viele Idioten in jeden Ärger zu stürzen, der auftauchte. Sie würden sich sogar um kleine Unannehmlichkeiten kümmern, wie zum Beispiel die Katze von Frau Wang, die in einem Baum stecken blieb.

Jedes einzelne Mitglied der gesamten Sekte — vom Anführer bis hinunter zu den Dienern — war ein Dummkopf.

Es gab unzählige Ungerechtigkeiten auf der Welt, also was war da der Sinn der Fürsorge? Es war genug, um einen Menschen zu Tode zu erschöpfen.

„Sie kämpfen, sie kämpfen! Ho! Was für ein Schlag!“

Innerhalb und außerhalb des Restaurants versammelten sich alle zum Zuschauen.

„So viele von euch verbünden sich gegen eine Person! Schämt ihr euch nicht?!“

„Passt auf! Hinter Ihnen! Oh je! Nah dran! Wa‒"

„Gut ausgewichen!“

Diese Leute liebten einen guten Kampf, aber Mo Ran wollte nicht zuschauen. Er hatte schon zu viel Blutvergießen gesehen. Für ihn waren die Ereignisse, die sich derzeit abspielten, wie das Summen einer Fliege. Er staubte träge Erdnusskrümel von seiner Kleidung und stand auf, um zu gehen.

Unten waren die Kultivierer und die schwarz gekleidete Person mit schwingendem Schwert ins Stocken geraten. Mo Ran lehnte mit verschränkten Armen an der Tür des Restaurants. Es brauchte nur einen Blick, um ihn vor Ärger mit der Zunge schnalzen zu lassen. Was für eine Schande.

Jeder vom Sisheng Gipfel war ein erbitterter Kämpfer, jeder glich zehn Männern, aber die schwarz gekleidete Person war erbärmlich. Selbst als sie ihn vom Pferd herunterzerrten, umzingelten und traten, hielt sie sich zurück.

Stattdessen rief diese Person höflich aus: „Ehrbare Männer sprechen mit ihrem Mund, nicht mit ihren Fäusten. Ich versuche, mit euch zu reden — warum hört ihr mir nicht zu?!“

Die Kultivierer waren genauso sprachlos wie Mo Ran.

Der Kultivierer dachte: Was zur Hölle? Diese Person wurde schon so gründlich verprügelt und sie predigt immer noch diesen Unsinn? Hat er ein ‘Mantou’ als Gehirn und ist innen ganz leer?

Aber Mo Rans Gesicht veränderte sich abrupt, als ihm für eine Sekunde der Kopf schwirrte. Er hielt den Atem an, die Augen ungläubig geweitet. Diese Stimme ...

„Shi Mei!“, schrie Mo Ran und stürmte aufgeregt vorwärts. Er entfesselte einen Angriff voller spiritueller Energie, der sofort fünf der Jianghu-Kultivierungsschwindler umwarf und sie in den schlammigen Stiefelspuren niederknien ließ. Seine Stimme konnte nicht anders, als leicht zu zittern, während er fragte: „Shi Mei, bist du das?“

 

 

Erklärungen:

Fuqi feipian (chinesisch: 夫妻肺片; pinyin: fūqī fèipiàn; wörtlich: "Lungenstücke von Ehemann und Ehefrau") ist ein beliebtes Gericht aus Sichuan, das kalt oder bei Zimmertemperatur serviert wird und aus dünn geschnittenem Rindfleisch und Rindfleischinnereien besteht. Zu den üblichen Zutaten der modernen Version gehören Rinderherz, Zunge und Kutteln sowie eine großzügige Menge verschiedener Gewürze, darunter auch Sichuan-Pfeffer.

Jin ist die Bezeichnung für das chinesische Gewichtsmaß, . Ein Jin entspricht in der Volksrepublik China 500 g.

Pixiu ist ein chinesisches mythisches Mischwesen. Pixiu gelten als mächtige Beschützer der Seelen der Toten und Feng-Shui-Praktizierenden und ähneln starken, geflügelten Löwen. Ein Pixiu ist eine Erd- und Meeresvariante ein besonders einflussreiches und glückverheißendes Geschöpf für Reichtum und soll einen unersättlichen Appetit ausschließlich auf Gold, Silber und Juwelen haben. Daher gelten Pixiu bei den Chinesen traditionell als glücksverheißende Kreaturen, die mystische Kräfte besitzen und in der Lage sind, Cai Qi (財氣 Reichtum) aus allen Richtungen anzusaugen und laut dem chinesischen Tierkreis ist es besonders hilfreich für diejenigen, die ein schlechtes Jahr durchmachen.

Mantou / 饅頭 / 馒头, wird oft als chinesisches gedämpftes Brötchen bezeichnet. Es ist eine weiße und weiche Art von gedämpftem Brot oder Brötchen, die in Nordchina beliebt ist.




⇐Vorheriges Kapitel        Nächstes Kapitel⇒

GLOSSAR

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen