Ihr Training begann ohne Verzögerung, am liebsten sammelte Mo Ran Federn. Es war nicht so, als hätte er wirklich erwartet, etwas von den Verlierern zu lernen, nachdem er sie in seinem letzten Leben besiegt hatte. Trotzdem war es an der Zeit, die Mittel zu haben, um sich etwas zu gönnen.
Jeden Tag vor Tagesanbruch gingen sie in den Abgrund der Ahnen, um
goldene Federn zu sammeln. Als Nächstes stand die Meditation in der Zhoung-Höhle
an, um die Kultivierung zu verfeinern, indem sie ihre innere spirituelle
Energie mit der brennenden Yang-Energie der Höhle regulierten. Vier Stunden
danach war Dämonenunterdrückungsübung mit dem gefiederten Stamm dran. Weitere
vier Stunden davon, und sie gingen in die Asura-Arena, um sich zu messen und
Kämpfe gegeneinander zu üben.
Schließlich, am Abend vor Einbruch der Dunkelheit, hielt Fräulein
Achtzehn ihnen einen Vortrag über Das Dämonenkompendium und Die Kunst
des Exorzismus an den Sterndeutungsklippen von den Pfirsichblütenquellen.
Diese nächtliche Unterrichtsstunde war natürlich Mo Rans
Lieblingstageszeit, weil dies die einzige Unterrichtsstunde war, an der
Kultivierer aus allen drei Fachabteilungen teilnahmen. Er wusste, dass Shi Mei
nicht gut in Qinggong war und machte sich Sorgen, ob er genug zu essen hatte,
also stellte er sicher, dass er Shi Mei jeden Tag die Hälfte seiner geernteten
Federn gab. Abgesehen davon hatten sie kaum die Möglichkeit, miteinander zu
interagieren. Stattdessen verbrachte Mo Ran jeden Tag mit Chu Wanning, und die
beiden wurden allmählich unzertrennlich.
Während dieser Zeitspanne konnte man sie oft zusammen sehen, Tag für
Tag, bei Regen oder Sonnenschein. Chu Wanning saß vielleicht auf dem Geländer einer Brücke und spielte eine Melodie auf
einem Blatt, neben ihm Mo Ran, die Wange in eine Hand gestützt, oder Chu
Wanning fütterte die Fische im Fluss, während Mo Ran mit einem Regenschirm an
der Seite stand und die Sprünge der Koi-Fische beobachtete, deren goldene
Schuppen gegen das Wasser aus klarer Jade schimmerten.
Wenn es in den Pfirsichblütenquellen regnete, hielt Mo Ran Chu Wanning
an der Hand, während sie einen Fußweg aus Kalkstein entlanggingen, dessen
Fliesen vom Alter rissig geworden waren, und hielt einen Regenschirm aus
Ölpapier gleichmäßig über sie beide. Wenn sich das Regenwasser auf dem Boden zu
sammeln begann, nahm Mo Ran seinen kleinen Shidi in die Hand und trug ihn auf
seinem Rücken, und der Junge klammerte sich leise an seine Schultern, während
die Regentropfen um sie herum prasselten.
Wenn der enge Kontakt etwas zu warm wurde und Schweiß auf Mo Rans Stirn
zu perlen begann, griff der hilflose Shidi auf seinem Rücken nach ihm und
wischte ihm den Schweiß mit einem Taschentuch weg. Das Taschentuch war schlicht
weiß mit einer Hai-Tang-Blüte an einer Ecke. Mo Ran dachte immer wieder, es
käme ihm bekannt vor, als hätte er es schon einmal irgendwo gesehen, aber der leichtfertige
Gedanke flog ihm durch den Kopf und war bald verloren, wie das Nieseln von
Regen, der in einen tiefen Teich mündet.
__________________________________________
Eines Tages ruhte sich Chu Wanning im Hof aus, als Mo Ran aus einer
Laune heraus den Zopf des Jungen löste und stattdessen seine Haare zu einem
hohen Pferdeschwanz zusammenband. Er war halb damit fertig, seinen kleinen
Shidi die Haare zu bürsten, als Ye Wangxi hereinkam, während er sich mit
düsterer Miene an seiner linken Schulter hielt.
Mo Ran, stets aufmerksam, hob leicht die Augenbrauen. „Hat sich Ye-Xiong
verletzt?“
„Mn." Ye Wangxi hielt inne und runzelte dann die Stirn. „Das ist
nichts, ich wurde nur bei einer Schlägerei gestreift. Aber der Typ ist wirklich
so ein verdorbener Wüstling ‒ wie verabscheuungswürdig!"
Mo Ran stotterte ungläubig, bevor er es schließlich schaffte, zu fragen:
„Wurdet Ihr befummelt?“
„Was genau stellt Ihr Euch vor?", fragte Ye Wangxi barsch und
starrte sie an.
„Hahaha, ich mach nur Spaß." Mo Ran lachte verlegen, aber er konnte
seiner eigenen Neugier nicht widerstehen. „Aber wer war es?"
„Wer könnte es sonst sein, wenn nicht dieser Witzbold des
Kunlun-Taxue-Palastes?", antwortete Ye Wangxi.
Mo Ran stieß bei diesen Worten ein: „Ah!“, aus. Könnte es dieser Typ
sein?
Kürzlich war er Schülerinnen begegnet, die miteinander flüsterten und
sagten. ‘Da-Shixiong‘, dies ‘Da-Shixiong‘ das. Es war eine Sache, wenn die
Jüngeren so weitermachten, aber erst gestern hatte er eine vierzig- oder
fünfzigjährige Kultiviererin hysterisch bei den Blumensträuchern gesehen, wie
sie mit weit aufgerissenen Augen murmelte: „Kein einziger Mann auf dieser Welt
könnte auch nur hoffen, Da-Shixiong das Wasser reichen zu können… Wenn er nur
in meine Richtung schauen oder sogar mit mir sprechen würde! Ich würde
bereitwillig ohne Reue zur Hölle gehen!“
Mo Ran hatte sich genau dann und dort verloren und brach in Gelächter
über die liebeskranke Darstellung aus. Er hatte einen schleichenden Verdacht,
wer dieser ‘Da-Shixiong‘ sein könnte, aber die Pfirsichblütenquellen war voll
von Kultivierern, die kaum miteinander interagierten, also hatte er den Typen
nie gesehen, obwohl er diese Person immer wieder erwähnt hatte. Er hatte auch
genug Scham, sich nicht in den Klatsch der Schülerinnen einzumischen, also
konnte er sich nicht sicher sein.
„Ich habe in der Geistersee Taverne auf dem westlichen Markt etwas
getrunken“, sagte Ye Wangxi. „Dieser Bastard war zufällig auch da, mit einem
Mädchen an jedem Arm. Es war verdorben, aber das ist ihre Entscheidung und
nicht meine Sache, also kann ich nichts genau sagen.“
„Macht Sinn“, stimmte Mo Ran zu.
„Dann rannte eine Gyueye-Schülerin herein und suchte die Menge mit einem
ängstlichen Gesichtsausdruck ab. Sie suchte eindeutig nach jemandem.“
Mo Ran lachte. „Lass mich raten, sie war hinter dieser 'Da-Shixiong'
her?"
„Ihr habt auch von diesem Da-Shxiong gehört?"
„Ha ha ha, ich meine, wenn sogar eine aufrechte Person, wie Ihr von
seinen Tändeleien gehört hat, wie könnte ein geschwätziger Bursche wie ich es
nicht wissen?"
Ye Wangxi warf ihm einen wortlosen Blick zu und fuhr dann fort. „Dieser Da-Shxiong
ist ein wahres Prachtstück. Es stellte sich heraus, dass das Gyueye-Mädchen
kam, weil er vor einigen Tagen ein Zeichen der Zuneigung mit ihr ausgetauscht
hatte und sagte, er würde ihr Kultivierungspartner sein und für immer an ihrer
Seite sitzen.“
Mo Ran lachte wieder. „Ja, das ist Schwachsinn. Ich wette, Da-Shixiong
hat ungefähr siebzehn Kopien dieses ‘Zeichen der Zuneigung‘, eine für jedes
Mädchen, hinter dem er her ist. Er spuckt wahrscheinlich auch Wort für Wort das
gleiche Versprechen auf unsterbliche Liebe aus."
Chu Wanning hatte still zugehört, aber jetzt blickte er Mo Ran an und
sagte verärgert: „Natürlich würdest du so was wissen.“
Zu seiner Überraschung stellte sich Ye Wangxi auf die Seite von Mo Ran.
„Mo-Shixiong hat recht damit. Das ist genau der Fall. Dieses Mädchen war von
Anfang an eine heimliche Bewunderin von Da-Shxiong, also hatte sie ihn beim
Wort genommen und ihm noch in derselben Nacht ihre Jungfräulichkeit geschenkt.“
„Aiyo!" Mo Ran hielt Chu Wanning hastig die Ohren zu.
„Was machst du da?", fragte Chu Wanning unbeeindruckt.
„Kleine dürfen so etwas nicht hören. Es ist schlecht für deine
Kultivierung.“
Chu Wanning warf ihm einen vernichtenden Blick zu.
Nachdem Mo Ran sich sicher war, dass Chu Wannings Ohren fest bedeckt
waren, fragte er mit funkelnden Augen. „Und dann?"
Ye Wangxi war ein respektabler Mensch. Er hatte keine Ahnung, dass Mo
Ran, ein Schurke, seine Erzählung von der gerechten Empörung wie einen
Schundroman verschlang. Daher antwortete er mit einem Hauch von Integrität: „Was
denkt Ihr? Da-Shixiong bestritt es natürlich. Er wollte ihr nicht einmal die
Tageszeit nennen, geschweige denn ein paar Worte. Das Mädchen holte die
Schwertquaste hervor, die er ihr hatte als Zeichen gegeben, aber zu ihrer
Überraschung zogen die beiden Mädchen in Da-Shixiongs Armen jeweils ihre eigene
hervor. Sie sagten, dass er jedem Freund eine gibt und dass es nicht etwas ist,
das einem Kultivierungspartner vorbehalten ist."
„Tsk, tsk, das ist schamlos, oder."
„Oder? Ich konnte nicht einfach dasitzen und zusehen, also bin ich
hinübergegangen, um mit ihm zu sprechen.“ Ye Wangxis Gesichtsausdruck
veränderte sich leicht und es entstand eine Pause, bevor er fortfuhr. „Das
Gespräch führte zu nichts, also haben wir am Ende gekämpft.“
Mo Ran lächelte. „Ich verstehe."
Tatsächlich vermutete er, dass dies wahrscheinlich nicht die ganze
Geschichte war. Wenn dieser ‘Da-Shixiong‘ tatsächlich die Person war, die Mo Ran
vermutete, dann hatte er nicht die Art von Persönlichkeit, die ihn dazu bringen
würde, sich wegen so etwas zu prügeln. Wahrscheinlich hatte Ye Wangxi aus
Verlegenheit Details ausgelassen.
Da Ye Wangxi jedoch nicht näher darauf einging, ging Mo Ran auch nicht
näher darauf ein und wechselte das Thema. „Dieser Da-Shixiong muss also
ziemlich gut im Kampf sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendeine beliebige
Person Ye-Xiong treffen kann."
Das war offensichtlich das Falsche, denn es schien Ye Wangxi nur noch
unzufriedener zu machen. Wut flackerte wie ein Lauffeuer in diesen dunklen
Augen. „Ziemlich gut? Ja, richtig“, sagte Ye Wangxi empört. „Er könnte sie
nicht mittelmäßiger machen. Die Frauen haben den ganzen Kampf für ihn erledigt.
Was für ein Taugenichts!"
„Hä? Ha ha ha ha ha." Mo Ran sah sich Ye Wangxi genauer an und
stellte fest, dass neben der Schwertwunde an seiner Schulter ein paar blutige
Kratzer auf seiner Wange waren, die offensichtlich von den Fingernägeln einer
Frau stammten. Er wäre vor Lachen fast umgefallen. „Da-Shixiong wird seinem Ruf
sicher gerecht, ha ha ha ha.“
Chu Wanning sagte nichts. Er schien über etwas nachzudenken, als Ye Wangxi
sagte: „Das Gespräch führte zu nichts, also haben wir am Ende gekämpft.“ Er
wartete, bis Ye Wangxi seine Wunden in seinem Wohnsitz verbunden hatte, bevor
er sagte: „Mo Ran“.
Mo Ran knuffte seinen Kopf. „Nenn mich Shixiong."
Nach einem langen, würdevollen Schweigen fuhr Chu Wanning fort. „Ist
dieser Da-Shixiong, Mei Hanxue?"
„Das vermute ich“, sagte Mo Ran mit einem Grinsen.
Chu Wanning schwieg wieder, tief in Gedanken versunken. Dann, als wäre
er zu einer Erkenntnis gekommen, öffneten sich seine Augen weit: „Könnte es
sein, dass Ye Wangxi‒“
„Shh! Ruhe!” Mo Ran hob mit einer beschwichtigenden Geste einen Finger
an die Lippen, dann kauerte er sich lächelnd auf Chu Wannings Höhe. „Bist du
nicht ein bisschen zu jung, um über so was nachzudenken?“
„Ich habe schon oft gehört, dass diese Mei Hanxue sehr…unkonventionell
ist. Dass er alle möglichen absurden Dinge getan hat. Zu glauben, dass er es
wagen würde, es mit einem Schüler von der Rufeng-Sekte zu versuchen…“
Mo Ran lachte. „Ha ha ha, unkonventionell ist auch eine Möglichkeit, ihn
zu beschreiben. Wie auch immer, wir halten uns aus den Angelegenheiten anderer
heraus. Hier, lass Shixiong deine Haare fertigmachen. Ich habe eine hübsche
Haarspange gesehen, als ich vorhin auf der Westlichen Straße war, und sie war
auch nicht zu teuer, also habe ich sie mir geschnappt. Lass mich sie dir
aufsetzen."
So wie Mo Ran sich nicht für Chu Wannings Geschmack interessierte, war
Chu Wanning weniger als beeindruckt von Mo Rans. Er starrte schweigend auf die
allzu lebendige und allzu knallige Haarspange, die mit goldenen Orchideen und
Schmetterlingen geschmückt war. „Bist du sicher, dass das für mich ist?"
„Yep! Kleine Kinder sollten lebhafte Farben wie Rot und Gold tragen."
Chu Wanning starrte ihn weiterhin in stummem Entsetzen und Faszination an. Er
wollte sie um ehrlich sein nicht haben, aber als er daran dachte, war dies das
erste Mal, dass Mo Ran ihm etwas schenkte. Also schloss er den Mund und sagte
nichts, sein Gesicht voller Finsternis, als Mo Ran die Spange an seinem
Pferdeschwanz befestigte. Die goldenen Orchideen und Schmetterlinge schimmerten
grell auf seinem langen, tintenschwarzen Haar.
Chu Wanning senkte seine Wimpern. Plötzlich fühlte er, dass das nicht schlimm
war. Diese Art von Farbe, diese Art von Mo Ran, diese Art von ihm selbst. Wenn
er in seiner wahren Gestalt wäre, wäre nichts davon passiert.
Es war, als wären die Schmetterlinge aus einem Traum gekommen.
______________________________
Die Wolken über ihnen bewegten sich und färbten sich, als Sonne und Mond
einander über den Himmel jagten. Ein halbes Jahr des Trainings bei den
Pfirsichblütenquellen verging wie im Fluge. Miss Achtzehn hatte gesagt, dass
sie bis zum Halbjahr getestet würden, um ihre Fortschritte zu messen.
„Dies wird eure erste Prüfung sein, seitdem ihr hierhergekommen seid“,
verkündete Achtzehn anmutig der Versammlung. „Der Inhalt des Prozesses wird je
nach Abteilung unterschiedlich sein, mit den drei verschiedenen
Katastrophenszenarien. Diejenigen von Ihnen in der Verteidigungsabteilung
werden das Gebiet des Blutflusses betreten, diejenigen von Ihnen in der
Heilungsabteilung werden das Gebiet der großen Sorgen betreten, und diejenigen
in der Angriffsabteilung werden in das Gebiet der bösen Geister betreten.”
„Jedes dieser drei Szenarios wird sich in einem illusorischen Reich
entfalten, das mit Erinnerungen an die Invasion des Geisterreichs vor Hunderten
von Jahren konstruiert wurde. Ihr werdet in keiner Gefahr sein, während ihr euch
in ihnen befinden, und ihr werdet hierher zurückkehren, sobald die Krise gelöst
ist.”
„Bis zu zwei Personen können gleichzeitig ein illusorisches Reich
betreten. Mit anderen Worten, Sie können sich der Herausforderung alleine
stellen oder eine andere Person einladen, Sie zu begleiten. Die Reihenfolge der
Prüfungen wird von den Gesandtinnen gleich bekannt gegeben.“
Die Versammlung wurde aufgelöst, und die Prüfungen begannen. Mo Ran
wusste nicht, wie die Dinge in der Verteidigungs- und Heilungsabteilung liefen,
aber zumindest für die Angriffsabteilung, ein halbes Dutzend Leute hatten es
bereits geschafft und alles ziemlich gut gemacht. Es schien, dass der Weg nicht
zu schwer war.
Zehn Tage später war Mo Ran an der Reihe.
Achtzehn war verantwortlich für die Angriffsabteilung und lächelte, als
sie fragte: „Wird Mo-Xianjun mit einem Partner gehen?“
Mo Ran dachte darüber nach. „Wenn ich jemanden auswähle, der mit mir
geht, wird er dann davon ausgenommen, den Prozess erneut zu durchlaufen?"
„Natürlich."
„Dann nehme ich meinen Shidi mit.“ Mo Ran deutete auf Chu Wanning. „Er
ist noch jung, also mache ich mir Sorgen, wenn er es alleine macht."
Der Mond hing hell über ihnen, als sie Achtzehn zu einer pechschwarzen
Höhle folgten. Eine dünne Schicht aus rötlich-goldenem Nebel bedeckte den
Eingang.
„Bitte hört gut zu", sagte Achtzehn. „Die Szene im Gebiet der bösen
Geister stammt von der Katastrophe vor zweihundert Jahren: dem ersten
Durchbruch der Barriere des Geisterreichs. Da die Barriere nicht rechtzeitig
repariert werden konnte, flohen eine Masse rachsüchtiger und böswilliger
Geister in das Reich der Sterblichen und schlachtete unzählige Lebewesen. Dieses
illusorische Reich ist eine Nachbildung des Ereignisses, die auf den
Erinnerungen eines Überlebenden aus Lin'an aus jener Zeit beruht. Wenn ihr
diese Höhle betreten, gelangt ihr in die kampferschütterte Stadt Lin'an vor
zwei Jahrhunderten. Tötet den Geisterkönig, der die Armee anführt und der
Willen der Illusion löst sich von selbst auf."
Mo Ran warf einen Blick auf Chu Wanning und lächelte dann Achtzehn an.
„Große Schwester, ich bin stark, also ist es was auch immer. Aber mein Shidi
ist erst sechs und Schwerter haben keine Augen. Was ist, wenn er verletzt
wird?“
„Es besteht kein Grund zur Angst. Die Waffen in der Illusion werden euch
keinen wirklichen Schaden zufügen“, erklärte Achtzehn. „Jede Verletzung, die
ihr erleidet, wird mit einem spirituellen Zeichen gekennzeichnet, mehr passiert
nicht. Wenn ihr jedoch in einem lebenswichtigen Bereich mit einer tödlichen
Verletzung gekennzeichnet werdet, werdet ihr die Prüfung nicht bestehen."
Erleichtert klatschte Mo Ran in die Hände und grinste. „Ich verstehe.
Vielen Dank für die Art der Rücksichtnahme." Und so gingen Mo Ran und Chu
Wanning ohne Angst in die erste Prüfung. Die Höhle war pechschwarz. Einen Fuß
hineinzusetzen, fühlte sich an, als würde man einen Schritt verpassen. Es war,
als würden ihre Körper abrupt in der Luft schweben. Dieser Empfindung folgte
unmittelbar eine Reihe von verstörten Bildern, die vor ihren Augen aufblitzten.
Eine Legion verzerrter Gesichter floss zusammen in einen Fluss, der unter ihnen
hindurchfloss.
Als sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, fanden sie sich im
alten Lin'an wieder, an einer Straße am Rande der Stadt. Oben brannte die
Mittagssonne, und ein fauliger Geruch erfüllte die Luft.
Der Anblick der alten Stadt Lin'an vor zweihundert Jahren ‒ geplagt von
Nächten durch Horden von Geistern und begleitet von dem schweren Gestank des
verrottenden Fleisches ‒ entfaltete sich langsam vor ihren Augen wie eine
verwitterte Schriftrolle, die von den Flammen des Krieges versengt wurde.
⇐Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel⇒
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen