Kapitel 83 ~ Dieser Ehrwürdige will dich

Dieser wahnwitzige Gedanke ließ Mo Ran rotsehen. Die Vernunft hatte ihn verlassen. Er zitterte unkontrolliert, als sich seine Hände fester um Chu Wannings Kehle schlossen und mit einem tiefen Brüllen auf eine Antwort drängten.

Wenn Chu Wanning den Rest sagte ‒ wenn er sagte: ‘Im Leben oder im Tod‘ ‒ dann könnte es keinen Zweifel geben… Keinen Zweifel…

„Ngh!"

Ein unterdrücktes Stöhnen an seinem Ohr. Chu Wanning konnte nicht atmen. Sein Gesicht errötete durch den Luftmangel, als seine Kämpfe schwächer wurde.

Mo Ran hielt inne, Wahnsinn und Klarheit jagten einander über seine rot gefärbten, weit geöffneten Augen ‒ bevor er ausrastete und hastig losließ. Chu Wanning ließ sich schwerfällig zurück aufs Bett fallen. Die fünf deutlichen Streifen fingerförmiger Blutergüsse an seinem Hals brachten Mo Ran allmählich wieder zur Besinnung.

Er öffnete seinen Mund, um ‘Shizun‘ zu sagen, aber es kam nicht heraus. Er versuchte ‘Chu Wanning‘ zu sagen, aber seine Stimme versagte auch dort, bis er schließlich zögernd heiser: „Du …“, ausstieß.

Mo Rans Kehle war ausgedörrt, als wäre sie von Feuer versengt worden. Er schluckte mühsam, während er die verstreuten Bruchstücke seiner Rationalität wiedererlangte. Szenen aus den Tagen zuvor blitzten vor seinen Augen auf: Chu Wanning hatte sich in diesem Leben noch nie seltsam verhalten. Auf keinen Fall hätte er wiedergeboren werden können.

Warum hat er dann diese Worte gesagt? Seine letzten Worte aus ihrem vergangenen Leben: ‘Ich war es, der dir Unrecht getan hat‘? Warum gerade jetzt?

Hatte Chu Wanning diese Worte nicht nur geäußert, um Xue Meng zu retten? Um diese scheinheiligen Kultivierer zu retten? Waren es nicht leere Worte, die er nur gesagt hatte, weil er keine andere Wahl hatte?

Mo Ran hatte nie geglaubt ‒ hatte nie glauben wollen ‒ dass Chu Wanning seine Missetaten aufrichtig zugeben würde. Dass er tatsächlich ein paar sanfte Worte zu ihm sagen würde. Wie dem auch sei, Chu Wanning hatte offensichtlich gelogen. Offensichtlich verabscheute er Mo Ran. Egal, was passierte, sein Shizun hatte immer auf ihn herabgesehen ‒ hatte ihn nie aufrichtig behandelt.

Mo Ran bereute es überhaupt nicht, ihn getötet zu haben. Er hat es nicht bereut...

Mo Ran wandte sich ab und schloss langsam die Augen. Er wollte keine Sekunde länger hierbleiben. Was ging es ihn an, ob Chu Wanning lebte oder starb?

Er drehte sich um, um zu gehen. Er wollte gehen. Aber seine Füße wollten sich nicht bewegen.

Ich war es, der dir Unrecht getan hat.

In diesen Erinnerungen hatte dieses kalte, hübsche Gesicht am Ende sanft gewirkt, selbst als es mit Blut bedeckt war. Am Rande von Kunluns Himmlischen-See hatte dieser Wahnsinnige in einer Blutlache gelegen und langsam eine Hand gehoben, um Mo Rans Stirn zu berühren. Seine Finger waren eiskalt gewesen, doch in seinen Phönixaugen war Wärme gewesen.

Mo Ran war sich damals sicher gewesen, dass er nur Dinge sah.

Ich werde dir nicht die Schuld geben, weder im Leben noch im Tod..., flüsterte Chu Wanning, selbst als eine Blutspur langsam aus seinen Augen tropfte.

„Mo Ran..."

Der Mann auf dem Bett murmelte in seinen Träumen. Nur zwei leise Silben, und der Gerufene begann am ganzen Körper zu zittern. Als Mo Ran realisierte, was passierte, stand er neben dem Bett, stützte sich mit einer Hand gegen das Kopfteil, beugte sich über Chu Wanning und starrte unverwandt in sein blasses Gesicht.

Diese dünnen, hell gefärbten Lippen öffneten sich, um noch einmal zu sagen: „Mo Ran..."

Mo Ran schloss die Augen und zog die Brauen fest zusammen, während sich seine Finger in die kalte, harte Oberfläche des Quittenholzes gruben, als ob er sich bemühte, etwas zurückzuhalten. Letztendlich konnte er es nicht, und es kam in einem rohen Flüstern heraus. „Chu Wanning, hast du es ernst gemeint? Alles, was du gesagt hast, hast du alles ernst gemeint?“

Seine Brust schmerzte so schrecklich, dass es sich anfühlte, als würde sie explodieren. Auf keinen Fall war auch Chu Wanning wiedergeboren worden. Wenn er diese Worte jetzt sagte, konnte das nur bedeuten, dass er zu diesem Zeitpunkt in seinem Herzen bereits Reue empfand, wie er Mo Ran behandelt hatte.

Hat er es ernst gemeint?

Chu Wanning sprach nur im Schlaf, also antwortete er natürlich nicht. Trotzdem wartete Mo Ran und wünschte sich eine.

Keine Antwort. Lange wartete er mit geschlossenen Augen, doch da war nur Stille.

Mo Ran seufzte leise und öffnete widerstrebend die Augen, nur um unerwartet von einem Paar verschwommener, halb geschlossener Phönixaugen getroffen zu werden, die zwischen Wachheit und Schlummer gefangen waren.

Er wusste nicht, wann Chu Wanning seine Lider gehoben hatte, aber seinem Gesichtsausdruck war deutlich anzusehen, dass er nicht wirklich wach und bei Bewusstsein war. Dies war nur eine vorübergehende Regung zwischen Anfällen von Qualen. Dieses Augenpaar in der Farbe des Nachthimmels war leer und glasig, als hielten sie die Ewigkeit.

Der Yuheng des Nachthimmels war immer aufmerksam. Selten sah er so desorientiert aus. Ohne seine üblichen scharfen Kanten sah der Mann, der dort lag, unerwartet schön aus. Seine Augenwinkel waren leicht rot gefärbt, als er Mo Ran ohne jede Vorsicht ansah.

Mo Ran fühlte ein heftiges Zittern in seinem Herzen und ein Engegefühl in seiner Kehle. Mit leiser Stimme murmelte er: „Du…“

Diese Szene war der Szene zu ähnlich, als er in seinem früheren Leben mit ihm geschlafen hatte. Etwas regte sich in Mo Ran, und für einen Moment fühlte er sich, als wäre er immer noch im Wushan-Palast und Chu Wanning wäre sein Gefangener, sein persönliches Spielzeug. Der Gedanke machte seinen Mund trocken und seinen Atem schwer.

Ich kann nicht... Ich mag ihn nicht. Ich fass ihn nicht mehr an. Das sind die Sünden eines vergangenen Lebens aus der Vergangenheit. In diesem Leben sind wir nichts weiter als Meister und Schüler.

Und so blieb Mo Ran, wie er war, sah Chu Wanning an, stützte sich mit einer Hand gegen das Kopfteil und hielt sich davon ab, diese Grenze zu überschreiten. Sein Haar lag über seiner Schulter, wo es zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war, und die Spitzen streiften das Kissen.

Chu Wanning lag da, vollständig angezogen, sein langes Haar locker um ihn ausgebreitet. Zuerst war sein Gesichtsausdruck benommen, und einige Zeit verging, bevor Mo Rans Spiegelbild langsam in seinen Augen erschien. Chu Wanning zögerte. Dann, als wäre er immer noch in den Fängen seines Albtraums gefangen, unfähig zu erkennen, wann und wo er war, streckte er langsam eine Hand aus, sie blieb einen Moment in der Luft stehen und berührte schließlich Mo Rans Stirn.

„Ich war es, der dir unrecht getan hat…“ Er sprach die Worte mit einer untypischen Sanftheit aus, wie er es in ihrem vergangenen Leben getan hatte.

Etwas in Mo Ran brach mit einem lauten Knall zusammen. Mit kochendem Blut und einem fiebrigem Kopf brach all die Vernunft und Rationalität, die er sich so hart erarbeitet hatte, in einem Augenblick zusammen. Ohne darüber nachzudenken, gab er es diesem vertrauten Verlangen nach. Er beugte sich hinunter und eroberte diese leicht geöffneten Lippen gierig mit seinen eigenen.

Die Vergangenheit brach in einer Welle zusammen und schmolz ihre Umgebung weg wie Schnee und Reif. Mo Ran fühlte sich, als wäre er zurück im Wushan-Palast, umgeben von seidig rotem Satin, beleuchtet durch das Licht von Kerzen, die mit Drachen und Phönix vergoldet waren. Unter diesem purpurroten Vorhang kämpfte dieser Mann und spuckte Flüche aus, keuchend und gedemütigt, aber unfähig zu entkommen, hilflos gegen seinen unnachgiebigen Griff.

„Nn..."

Das Geräusch, das Chu Wanning zwischen den Rutschen der warmen Nässe von sich gab, machte Mo Ran wahnsinnig. All diese Worte darüber, ihn nicht zu mögen, ihn zu hassen und ihn nie wieder zu berühren, sie alle lösten sich in Luft auf.

Mo Ran fühlte sich, als wäre er noch nie gestorben ‒ dass der leicht zitternde Körper unter ihm, immer noch ihm gehörte. Er wollte Chu Wanning küssen, ihn halten, ihn demütigen und quälen, bis dieser erhabene, makellose Mann es nicht mehr ertragen konnte. Bis er weinte und bettelte, zwischen den Kissen den Verstand verlor.

„Chu Wanning", murmelte Mo Ran heiser. Eine Hitzewelle durchströmte ihn und überflutete seine ganze Seele. Selbst die Spitzen seiner Finger fühlten sich an, als hätten sie Feuer gefangen.

Erneut schloss er seine Lippen über diesem kühlen, weichen Paar, das immer noch leicht nach der bitteren Medizin schmeckte. Das Schlagen seines Herzens war wie Trommeldonner in seiner Brust, als er ihn hingebungsvoll küsste, verrückt vor Verlangen. Mo Ran kannte diese Person durch und durch. Seit der Wiedergeburt hatte er es abgelehnt, mit Chu Wanning intim zu sein, weil er einen Groll gegen ihn hegte, aber ihn jetzt zu küssen, war pure Ekstase.

Es war so intensiv, dass es ihn verzehrte, wie der erste Geschmack von süßem Tau auf der Zunge eines Reisenden, der in der Wüste verdurstet, wie in die weiche Wärme eines Pelzmantels gehüllt zu werden, der in der bitteren Kälte einer eiskalten Nacht bei einem Feuer erwärmt wird.

Mo Ran hatte gedacht, dass er in diesem wiedergeborenen Leben sicher nichts mit Chu Wanning zu tun haben würde. Er hatte nicht damit gerechnet, sich nach nur wenigen Worten zu verlieren, endlich seinen Wünschen nachzukommen und ihn so zu küssen.

Wenn es nicht die Tatsache gegeben hätte, dass er Chu Wannings Roben nicht öffnen konnte ‒ und dabei von etwas gestochen wurde, das aus der Robe seines Shizun fiel ‒ hätte Mo Ran vielleicht auf der Stelle nachgegeben und Chu Wanning genommen, ohne und irgendeinen Gedanken zu verschwenden, und die Folgen verdammt.

Klirren!

Etwas Metallisches stach in Mo Rans Finger und fiel auf das Bett. Es rollte ein wenig, bevor es zum Stehen kam.

Mo Ran war viel zu erregt, um sich um den Kratzer zu kümmern. Er warf dem Objekt nur einen irritierten Blick zu, bevor er wieder zu Chu Wannings lächerlichen Roben zurückkehrte. Es war eine Sache, wenn er Abstand hielt und ihn nicht berührte, aber jetzt, wo er auf seinem Shizun lag, kamen die Gefühle aus seinem vergangenen Leben zurück. Der bloße Gedanke daran, wie sich Chu Wannings glatte, schmale Taille unter seinen Händen anfühlte, machte ihn unerträglich heiß und schwer.

Aber Chu Wannings seidenweiße Roben ließen sich nicht ausziehen, fast so, als wären sie mit einem Spruch verzaubert worden. Mo Ran verfluchte ihn leise und schlug mit der Faust gegen das Kopfteil, bevor er verärgert vom Bett kletterte, um seine Klinge zu holen. Mit dieser dreifach gewickelten Gürtelschärpe würde er kurzen Prozess machen.

Als er sich aufsetzte, sah er den heruntergefallenen metallischen Gegenstand aus dem Augenwinkel. Zuerst machte es ihm nichts aus, aber dann schoss ein Blitz der Klarheit durch seinen vor Erregung verwirrten Verstand.

Mo Ran beruhigte sich. Sein Kopf fuhr herum, um sich das Ding noch einmal anzusehen.

Es war eine goldene Haarspange, leuchtend und mit Orchideen und Schmetterlingen geschmückt ‒ genau die gleiche, die er nach tagelangem Federsparen für Xia Sini bei den Pfirsichblütenquellen gekauft hatte.

Er hatte es persönlich an Xia Sinis Pferdeschwanz geheftet, um den mürrischen kleinen Shidi aufzumuntern, und sagte: ‘Kleine Kinder sollten lebhafte Farben wie Rot und Gold tragen.‘

Mo Ran hob die Haarspange auf. Er starrte ihn betäubt an und fühlte sich, als wäre er mit kaltem Wasser übergossen worden. Warte mal ... Was hat das zu bedeuten? Warum sollte Chu Wanning etwas haben, das Mo Ran Xia Sini gegeben hatte?

Könnte es sein...

Ein beängstigender Gedanke kam Mo Ran in den Sinn. Er drehte sich langsam um, und sein Blick, immer noch dunkel vor Verlangen, landete auf Chu Wanning. Sein Shizun war wieder ohnmächtig geworden. Mo Ran starrte auf sein Gesicht, nahm diese roten Lippen in sich auf, die von Küssen gerötet waren, und sein Herz setzte ein paar Schläge aus.

Auf keinen Fall, auf keinen Fall. Er musste verrückt sein... Hatte Chu Wanning ihn nicht nur verarscht? War... War Xia Sini ernsthaft Chu Wannings Sohn?

Mo Ran schauderte bei dem Gedanken. Sein Kopf drohte zu explodieren!




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