Als Chu Wanning endlich aufwachte, war es Mittag. Der Tapir-Dufttau hatte seine Wirkung nicht verfehlt; er hatte eine ganze Nacht, ungestört von Träumen geschlafen. Er setzte sich gemächlich auf und gähnte.
„Mo Ran?" Dieser Schüler liebte den Schlaf weit mehr
als er, und so war es eine Überraschung, ihn nicht noch zusammengerollt auf dem
Boden zu finden. Chu Wanning blinzelte, dann rief er erneut nach ihm.
Er antwortete nicht.
Er stand auf, strich seine Robe glatt, bürstete durch die
Strähnen seines langen Haares und band es hoch, während er auf den Wandschirm
zuging, der den Raum teilte. Auf dem Wandschirm war ein elegant gemaltes Bild
von wilden Vögeln zu sehen, die durch eine Wolkenbank zwischen den Berggipfeln
flogen. Dahinter stieg Dampf auf ‒ auf der anderen Seite badete jemand.
Er zögerte vor dem Wandschirm und versuchte es erneut. „Mo
Ran." Doch es kam keine Antwort. Misstrauisch werdend, klopfte Chu Wanning
an den Holzrahmen der Trennwand. Nach mehreren weiteren Versuchen, auf die er
keine Antwort erhielt, runzelte er schließlich die Stirn und ging um den Wandschirm
herum.
Dieser Teil des Raumes war zum Waschen und Baden bestimmt,
und ein großes Badefass aus Kampferholz stand genau in der Mitte. Chu Wanning
warf einen hastigen Blick darauf ‒ es war mit heißem, dampfendem Wasser
gefüllt, und auf seiner Oberfläche schwammen Badekräuter, die das Gasthaus
zuvor verteilt hatte. Aber im Moment war niemand zu sehen.
Er sah sich noch einmal um und entdeckte Mo Rans Kleidung,
die ordentlich über dem Holzrahmen gehangen worden war. Er konnte doch
unmöglich gebadet haben und dann nackt hinausgelaufen sein, oder?
Chu Wannings Schläfen pochten, als er diesen schrecklichen
Gedanken beiseiteschob. Die Lippen waren fest aufeinanderpresste, währenddessen
sein Gesicht leicht aschfahl anlief. Er drehte sich um und wollte gerade gehen,
als er hinter sich ein Glucksen hörte. Chu Wanning blickte zurück und sah, wie
unter den Kräutern und Blütenblättern, die im Fass schwammen, Blasen an die
Wasseroberfläche stiegen. War da jemand drin?
Kaum war ihm der Gedanke gekommen, sprang ein nackter
junger Mann mit einem Platschen aus dem Fass, wie ein Drache, der aus dem
Wasser steigt. Chu Wanning war so erschrocken, dass er versehentlich zwei
Schritte zurückstolperte.
Es schien, als hätte Mo Ran unter Wasser die Luft
angehalten und deshalb nicht gehört, dass Chu Wanning draußen nach ihm rief.
Als er die Luft nicht mehr anhalten konnte, stand er auf und entblößte seinen
Oberkörper vollständig. Wie ein Hund, der sich abtrocknet, schüttelte er das
Wasser aus seinen Haaren und spritzte es direkt auf Chu Wannings Robe.
„Mo Ran!"
„Ah!" Mo Ran erstarrte mitten im Schütteln, die Augen
weit und rund. Er hatte offensichtlich nicht mit Chu Wanning gerechnet und
keuchte: „Shizun!"
„Du..." Chu Wannings Blick schweifte über die
wohlproportionierte Gestalt des jungen Mannes. Mo Rans Schultern waren schon
recht breit geworden, die Linien seines Körpers fest und definiert, geschmeidig
und jugendlich straff. Wassertropfen zeichneten die Konturen seiner durchtrainierten
Brust nach und sammelten sich in dünnen Rinnsalen, die an ihm hinunterliefen
und im Sonnenlicht schimmerten.
Er sah aus wie ein wunderschöner Wassermann halb aus dem
Wasser, die Augen funkelnd, ein paar verirrte Blütenblätter in den nassen
Haaren, die an seinem Körper klebten. Mo Ran wischte sich das Wasser aus dem
Gesicht und beugte sich grinsend zu Chu Wanning hinüber. Seine Schulterblätter
spannten sich wie die eines Leoparden, als er seine Arme über den Rand des
Badefasses verschränkte und den Kopf neigte, um ihn strahlend anzustrahlen.
Chu Wanning fühlte sich ein wenig schwindelig, sein Gesicht
war ein wenig warm, und er fragte, ohne nachzudenken: „Was machst du da?"
„Ich nehme ein Bad."
„Am Morgen?"
„He he." Mo Ran gluckste schuldbewusst ‒ er hatte sich
gerade mit kaltem Wasser abgewaschen, um das Feuer in seinen Lenden zu löschen.
Es hatte gut funktioniert, aber da er sich bereits entkleidet hatte, wollte er
auch gleich ein Bad nehmen, wenn er schon dabei war. Das Bad hatte ihn in gute
Laune versetzt, und so war er abgetaucht, um zu üben, den Atem anzuhalten. Er
hatte sicher nicht damit gerechnet, dass Chu Wanning einfach so hereinspazieren
würde.
„Was soll dieses alberne Lächeln?" Chu Wanning zog die
Brauen zusammen und versuchte, die Hitze, die in seinem Gehirn brodelte, mit
einem kühlen Tonfall zu überspielen. „Warum hast du mich nicht geweckt, wenn du
schon so früh wach bist? Du treibst dich hier herum, wirfst deine Klamotten
durch die Gegend, wo sind deine Man‒?"
„Shizun. Du hast etwas Wasser im Gesicht." Es
plätscherte, als Mo Ran seine Hand hob, um Chu Wannings Wange abzuwischen.
„‒nieren."
Mo Ran lachte. Er hatte vergessen, dass auch seine Hand
nass war und Chu Wannings Wange nur noch nasser machen würde.
Chu Wanning stand wie erstarrt da, die Luft um ihn herum
kühlte um einige Grad ab. Seine Miene war angespannt, die Lippen
zusammengepresst, nur seine Wimpern zuckten ab und zu. Er fühlte sich, als
würde er versuchen, einen Jagdhund abzurichten, nur um stattdessen von dem verschlagenen
Welpen beschnüffelt zu werden. „Steig aus und zieh dich an. Wir müssen zurück
zur Sekte." Schließlich sagte Chu Wanning diese Worte mit einem frostigen
Gesichtsausdruck und ging mit einem Zischen seiner Ärmel.
Aber dort, wo Mo Ran nichts sehen konnte, waren die Spitzen
von Chu Wannings Ohren rot. Genauso wie dort, wo Chu Wanning nichts sehen
konnte, dieses Paar taufrischer Augen, die immer noch von Sehnsucht
durchdrungen waren und in denen komplizierte Gefühle schwammen, ihm hilflos hinterher
starrten, bis er um die Ecke verschwand.
Das liebenswerte Lächeln verschwand aus Mo Rans Gesicht und
wurde durch einen Blick der Frustration ersetzt. Er klatschte verärgert auf das
Wasser, nahm eine Handvoll davon und schrubbte sich gnadenlos übers Gesicht.
Was zur Hölle.
Was war heute nur los mit ihm? Alles, was er tat,
war, Chu Wanning während des Badens ein wenig anzusehen und kurz seine Wange zu
berühren. Er hatte es gerade geschafft, seine Erregung zu unterdrücken, und
jetzt war er wieder hart...
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„Wolltest du dich nicht gerade anziehen? Warum hast du so
lange gebraucht?", schimpfte Chu Wanning. Er drehte sich sichtlich
verärgert von seinem Platz am Fenster um. Seine Robe flatterte sanft in der
Brise, und feine Haarsträhnen streichelten seine jadefarbenen Wangen.
Mo Ran hustete. „Ich habe mein Haar mit einem Zauber
getrocknet", murmelte er undeutlich, „aber ich bin nicht sehr gut darin,
deshalb hat es eine Weile gedauert. Es tut mir leid, dass ich Shizun warten
ließ."
Diese untypische Anständigkeit überraschte Chu Wanning ein
wenig. Er warf seinem Schüler noch einen Blick zu, bevor er sagte: „Wenn du mit
dem Waschen fertig bist, geh und packe. Wir können ein Boot mieten. Ich habe
keine Lust, auf Schwertern zu reiten, und von Pferden habe ich auch genug. Lass
uns auf dem Wasser fahren und unterwegs ein bisschen die Sehenswürdigkeiten ansehen."
„Okay, klingt gut." Mo Ran wagte es nicht, ihn zu
lange anzusehen und hustete noch ein paar Mal, um sein Unbehagen zu
überspielen.
Chu Wanning runzelte die Stirn. „Was ist denn mit deinem
Hals los?"
„...Nichts." Mo Ran drehte sich hastig um, um zu
packen.
Sie hielten an einem Laden an, um ein paar Snacks und
Trockenwaren für die Reise zu besorgen, und machten sich dann auf den Weg zu
den Docks, um ein Boot zu mieten.
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Die beiden segelten den Jangtse hinunter. Immer, wenn sie
in ein Gebiet kamen, das auf dem Wasser nicht passierbar war, entfalteten sie
die hölzernen Flügel des Bootes und schwebten stattdessen mit einer magischen Brise
durch die Lüfte. Diese Art der Fortbewegung war zwar nicht schnell, aber
friedlich und entspannend.
Acht Tage später erreichten sie den Sisheng-Gipfel. Das
Holzboot glitt die Strömung hinunter und legte am Bergtor an.
Mo Ran lüftete den Bambusvorhang und erlaubte Chu Wanning,
zuerst aus der Kabine zu steigen, bevor er selbst folgte. Es war schon spät,
und der Mond stand hell am Himmel. Der Yuheng Älteste hatte Xue Zhengyong die
ausdrückliche Anweisung gegeben, ihnen keinen Empfang zu bereiten, und so
begegneten sie niemandem, bis sie die Treppe zum Haupttor hinaufgestiegen
waren. Dort bewachten vier Schüler den Eingang.
„Yuheng Ältester!"
„Mo-Gongzi!"
Aus irgendeinem Grund blitzte Panik in den Gesichtern der
Schüler auf, als sie die beiden sahen. Bevor einer von ihnen reagieren konnte,
fielen alle vier auf die Knie und sahen zu den beiden auf. „Älterer Gongzi",
flehten sie eindringlich, „da drinnen sind Leute, die Vergeltung an Euch üben
wollen! Der Sektenanführer hat einen Botenvogel geschickt, um Euch zu sagen,
dass Ihr wegbleiben sollt, aber es sieht so aus, als wäre der fette Vogel zu
langsam gewesen! Bitte versteckt Euch für eine Weile in der Stadt Wuchang ‒ was
auch immer Ihr tut, geht nicht sofort hinein!"
Chu Wanning kniff die Augen zusammen. „Was ist denn los,
warum seid ihr alle so in Panik?"
„Da sind Leute aus dem oberen Kultivierungsreich! Sie
beschuldigen den Ältesten der dämonischen Kultivierung und wollen Euch zur
Untersuchung in den Tianyin-Pavillon schleppen!"
„Tianyin-Pavillon?" Mo Ran wiederholte erschrocken. „Ist
das nicht das Gefängnis, das von allen zehn großen Sekten eingerichtet wurde
und für die abscheulichsten Verbrecher reserviert ist?"
„Genau das ist es! Sie sind wegen des Vorfalls in der
Schmetterlingsstadt hier", sagte eine der vier, eine junge Frau, besorgt. „Erinnert
sich der Älteste? Damals wurdet Ihr zur Strafe verprügelt!"
„Das war höchstens ein Missbrauch von
Kultivierungstechniken oder die Einbeziehung gewöhnlicher Menschen. Außerdem
hat Shizun die Strafe dafür bereits akzeptiert. Warum haben sie diese alte
Angelegenheit plötzlich wieder hervorgeholt ‒ und sind sogar so weit gegangen,
den Tianyin-Pavillon mit einzubeziehen." Mo Ran runzelte die Stirn. „Und
was hat es mit der dämonischen Kultivierung auf sich?"
„Wir kennen die Details auch nicht. Aber wir haben gehört,
dass alle in der Schmetterlingsstadt über Nacht gestorben sind, getötet von
einem Wesen, halb Geist, halb Gottheit, das anscheinend auf Geheiß von jemandem
gehandelt hat. Die Geistergottheit ist unglaublich mächtig, und ein
durchschnittlicher wandernder Kultivierer wäre sicher nicht in der Lage, ihr
Befehle zu erteilen, deshalb vermuten die Leute aus dem oberen Kultivierungsreich,
dass der Yuheng Ältester es getan hat!"
Chu Wanning war sprachlos.
„Pfft", lachte Mo Ran. „Und
ich habe mir schon Sorgen gemacht. Das ist ein einfaches Missverständnis, das
sich leicht erklären lässt. Es gibt keinen Grund, sich zu verstecken." Er
drehte sich um und grinste Chu Wanning an. „Shizun, kannst du diese Leute verstehen?
Wenn du einen kleinen bösen Geist vertreibst, werden sie sagen, du würdest den Schülern
die Gelegenheit nehmen. Wenn du einen großen Dämon vertreibst, werden sie dich
beschuldigen, du würdest dich in dämonischer Kultivierung üben und dass du dir
eine Geistergottheit hältst, die nach deiner Pfeife tanzt. Wenn das so
weitergeht, sollten wir am besten gar nichts mehr tun und den ganzen Tag zu
Hause sitzen und meditieren, so wie sie es tun.“
Aber Chu Wanning lachte nicht. Sein Gesichtsausdruck war
schrecklich, und er stand eine Weile still da, bevor er fragte: „Alle Menschen
in Schmetterlingsstadt sind tot?"
„Das habe ich gehört. Kein einziger hat überlebt."
Chu Wanning schloss die Augen und schwieg.
Die Schülerin bemerkte seinen seltsamen Ausdruck. „Ältester?",
fragte sie beunruhigt.
„Dieser Vorfall war nicht mein Werk, aber er könnte sich
ereignet haben, weil ich beim Exorzismus nicht gründlich genug war. Wenn es
tatsächlich meine Schuld ist, dann werde ich mich nicht vor der Verantwortung
drücken.“ Chu Wanning öffnete langsam seine Augen. „Mo Ran, lass uns
hineingehen."
Die Wände der Loyalitätshalle waren mit zwölf Lampen aus
gewundener Bronze gesäumt. Jede Lampe war zehn Fuß hoch und hatte neun Lagen
von Zweigen, die vom zentralen Ständer ausgingen und nach oben hin kurz und
nach unten hin länger waren. Die dreihundertsechsundfünfzig Kerzenlaternen an
diesen Zweigen beleuchteten die Haupthalle des Sisheng-Gipfels so hell, dass
die Nacht praktisch nicht mehr vom Tag zu unterscheiden war.
Xue Zhengyong, der in voller Kampfmontur gekleidet war,
stand mit geradem Rücken auf dem hohen Podest der Halle. Er sah aus wie eine
gusseiserne Statue und starrte mit den Augen eines Raubtiers auf die Menschen
unter ihm herab. „Li-Zhuangzhu, ich sage es ein
letztes Mal. Der Yuheng Ältester ist zurzeit nicht in der Sekte. Außerdem kann
ich mit meinem Leben dafür bürgen, dass das, was in der Schmetterlingsstadt
passiert ist, nicht seine Schuld ist. Also hören Sie auf, mit diesen grundlosen...
Dingsbums..."
Neben ihm flüsterte Frau Wang diskret hinter ihrem Ärmel: „Anschuldigungen."
„Ähm, hören Sie auf, mit diesen haltlosen Dingsbums-Anschuldigungen
um sich zu werfen!", erklärte Xue Zhengyong mit einer imposanten
Handbewegung.
Frau Wang war sprachlos.
Ohne die Schüler der Wache des Sisheng-Gipfels warteten
etwa dreißig Personen in der Halle. Sie waren in jadegrüne Roben gekleidet, trugen
Pferdeschwanzwedel in den Armen und hatten viereckige Jinxian-Hüte
aus schwarzer Gaze auf ‒ es waren offensichtlich Schüler des kürzlich
gegründeten und rasch aufsteigenden Bitan-Guts des oberen Kultivierungsreichs.
Der Mann an ihrer Spitze war in den Fünfzigern und hatte einen langen Bart, der
an den Seiten seines Gesichts abstand und in der leichten Zugluft wie ein Wels
trieben. Es war niemand anderes als der Anführer des Bitan-Guts selbst, Li Wuxin.
„Xue-Zhangmen", sagte Li Wuxin spöttisch und zwirbelte
einen Schnurrbart, „ich bin nur hier, um mit Euch zu reden, weil Eure Sekte
noch als rechtschaffen gilt. Die Tragödie in der Schmetterlingsstadt ereignete
sich, nachdem Euer Yuheng Ältester und seine Schüler dort einen Exorzismus
durchgeführt hatten. Abgesehen von diesen dreien hatte der Haushalt Chen
keinerlei Kontakt zu Kultivierern. Wir haben sowohl Beweise als auch Zeugen.
Sie haben keine andere Wahl, als Ihre Schuld in dieser Angelegenheit zuzugeben."
Xue Meng, der neben seinem Vater stand, konnte es nicht
mehr ertragen. „Welches verdammte Recht habt Ihr eigentlich, Euch zu äußern?
Wann habt Ihr es jemals auf Euch genommen, Euch um die Probleme des unteren
Kultivierungsreich zu kümmern? Ihr sitzt immer nur auf euren Händen und
versucht, Euch zur Unsterblichkeit zu kultivieren. Wenn dann etwas passiert,
stürzt Ihr hierher und versucht, die Schuld auf meinen Shizun zu schieben! Was
für eine Art von Gerechtigkeit ist das?!"
„Xue-Gongzi." Anstatt wütend zu werden, warf Li Wuxin
ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und lächelte. „Ich habe schon von Euch
gehört, man nennt Euch den Sohn des Phönix. Aber Sie heute persönlich zu
treffen und mit eigenen Augen zu sehen, wie gelassen Sie sind, war eine, sagen
wir, augenöffnende Erfahrung."
„Ihr...!"
Li Wuxin verdrehte die Augen und wandte sich wieder an Xue
Zhengyong. „Xue Zhangmen, wir von dem oberen Kultivierungsreich halten uns
streng an die Gesetze, und wir werden der Sache auf den Grund gehen. Wenn Sie
sich wirklich weigern zu kooperieren und Yuheng, Mo Ran und die anderen nicht
ausliefern, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als die führende Sekte der
Kultivierungswelt, die Rufeng-Sekte, zu bitten, die Ermittlungen selbst in die
Hand zu nehmen!"
Xue Zhengyong hatte schon immer ein hitziges Temperament
gehabt. Er spottete über diese Drohung. „Ich weiß sehr wohl, dass euer Bitan-Gut
mit der Rufeng-Sekte befreundet ist, aber selbst wenn Nangong Liu heute vor mir
stünde, würde ich ihm dasselbe sagen ‒ ich werde sie nicht ausliefern. Das hat
nichts mit Yuheng zu tun."
„Nun denn", sagte Xue Meng, der ihm auf den Fersen
war, „Li-Zhuangzhu, seht Euch bitte vor."
„Habt ihr das gesehen? Haben das alle gesehen?! Seht ihr,
wie schwierig und unvernünftig sie sind ‒ sie leisten Verbrechern Beihilfe!"
Amans zittrige Stimme brach aus der Menge hervor. „So war es auch damals, als
dieser Mo die Sachen meines Freundes gestohlen hat. Wir kamen hierher, um
höflich nach Gerechtigkeit zu suchen, und sie haben uns einfach so
rausgeschmissen! Li-Zhuangzhu, Ihr habt es auch gesehen, nicht wahr? Wenn der
Sisheng-Gipfel sich weiterhin so unverschämt verhält und sich über das Gesetz
stellt, dann ist das untere Kultivierungsreich erledigt!"
Kaum hatte er geendet, ertönte ein leises Glucksen vom
Eingang der Halle.
Alle drehten sich zur Tür. Dort, im Schatten, wohin das
Licht aus der Halle nicht reichte, stand ein junger Mann in blauer Robe und
leichter Rüstung. Er lehnte lässig an dem kunstvoll geschnitzten zinnoberroten
Türrahmen und beobachtete die Szene in der Halle mit trägem Blick. Dieser junge
Mann war äußerst attraktiv, seine geschmeidige und straffe Haut leuchtete
förmlich im Kerzenlicht.
„Sagen Sie, Chang-Gongzi, wann genau habe ich jemals etwas
von Ihrem Freund gestohlen?" Sein Lächeln war sanft und charmant: „Dieser
Rong San... oder war es Rong Jiu? Ich kann mich nicht erinnern. Wie auch immer,
dieser hübsche Junge, ist er Euer Freund oder Euer Geliebter? Es ist ziemlich
trügerisch von Euch, nur einen Teil der Geschichte zu erzählen, hm? Was, wenn Ihr
seine Gefühle verletzt habt?"
Der Mann, der sich so jämmerlich beklagte, war kein anderer
als der Kaufmann Chang aus Yizhou, derselbe, der vor Monaten erklärt hatte, der
Sisheng-Gipfel habe ihn nicht zum letzten Mal gesehen.
Chang-Gongzi riss den Kopf herum und sah erschrocken Mo Ran
an. Doch dann flackerte etwas in seinen Augen auf, und er heulte jämmerlich: „Mo
Weiyu, du Bastard! Meine Freundschaft mit Jiu-er ist wie die von Mörser und
Stößel, völlig unschuldig. Er ist bereits auf so tragische Weise durch die Hand
Eurer teuflischen Leute gestorben, und Ihr wagst es immer noch, seinen Namen zu
verleumden!"
„Was?" Ein Schauer lief Mo Ran über den Rücken, und
seine Augen weiteten sich leicht. „Rong Jiu ist tot?"
„Seine Eltern stammen aus der Schmetterlingsstadt",
fuhr Chang-Gongzi wütend und weinerlich fort. „Ihm widerfuhr vor einigen Tagen
bei einem Besuch in seiner Heimat ein Unglück. So erfuhr ich von den bösen
Taten von Euch und Eurem Shizun! Deshalb bin ich zu Li-Zhuangzhu gegangen, um
Gerechtigkeit zu üben!"
Mo Rans Meinung über Rong Jiu war alles andere als positiv,
und nachdem der erste Schock überwunden war, wies er Chang-Gongzi mit einer
knappen Handbewegung ab. „Freundschaft von Mörser und
Stößel? Ihr seid also der Stößel und er ist der Mörser, wo ist Eure
Unschuld? Ich weiß nicht, inwiefern das unschuldig ist, aber okay."
„M-Mo Ran!" Chang-Gongzi hatte das nicht erwartet und
war ziemlich beleidigt. „D-Du ungebildeter Verwerflicher! Du, du..."
„Ähm..." Das war auch für Frau Wang ein
bisschen viel.
Nur Xue Zhengyong blinzelte und sagte nichts. Mörser dies
und Stößel das, was auch immer das bedeuten mochte, es konnte nichts Gutes sein.
Er hatte das Gefühl, dass die Worte seines Neffen eigentlich ziemlich viel Sinn
ergaben. Daran war nichts falsch.
Aus der Dunkelheit der Nacht außerhalb der Halle kam ein
Seufzen wie das Zerspringen von Jade oder das erste Schmelzen eines
zugefrorenen Sees, tief und unbeschreiblich schön. Eine schlanke,
wohlproportionierte Hand streckte sich aus... und verpasste Mo Ran eine
schallende Ohrfeige mitten ins Gesicht.
„So eine Obszönität. 'Freundschaft von Mörser und Stößel'
bedeutet eine Freundschaft, die sich nicht um Status und Mittel schert, wie die
zwischen Gong Shamu und Wu You." Chu Wanning erschien in der Tür, mit
finsterer Miene und schiefem Tonfall. „Was hängst du hier vor der Tür herum und
machst dich lächerlich? Geh verdammt noch mal rein!"
„Shizun!"
„Shizun!"
Xue Meng und Shi Mei eilten überglücklich nach vorn, um ihn
zu begrüßen. Doch Xue Zhengyongs Augen weiteten sich vor Verärgerung. „Yuheng,
was machst du wieder hier?"
„Wie lange wolltest du es alleine aushalten, wenn ich nicht
kommen würde?" Chu Wanning schritt gelassen in die Loyalitätshalle, sein
hübsches Gesicht war wie das eines Unsterblichen im Kerzenschein, unübertroffen
in Anmut und Eleganz. Er blieb vor dem goldenen Sitz in der Halle stehen,
nickte Xue Zhengyong zu und wandte sich dann mit einer Bewegung seiner weiten
Ärmel den Bittstellern zu.
„Chu Wanning vom Sisheng-Gipfel, demütiger Träger des
Titels Yuheng Ältester. Wie es scheint, habt Ihr Fragen an mich, deren
Beantwortung ich Euch nicht verweigern möchte." Li Wuxin starrte ihn
schockiert an, doch Chu Wanning, dessen Phönixaugen wie Rauch aussahen, warf
ihm nur einen kurzen Blick zu, bevor er in gleichmäßigem Ton fortfuhr: „Ich
bitte Sie, mich aufzuklären."
Erklärungen:
Zhuangzhu bedeutet so viel wie 'angesehener
Anführer‘. Bezieht sich auf einen Sektenanführer. Kann allein verwendet oder an
einen Familiennamen angehängt werden.
Jinxian-Hüte:
(Ich habe leider keine Ahnung, wie ich diesen Hut
beschreiben soll, deshalb habe ich ein Bild eingefügt, damit ihr ihn euch
vorstellen könnt.)
Freundschaft von Mörser und Stößel: Eine Redewendung, die sich auf Leute bezieht, die unabhängig von ihrem Status oder ihren Mitteln befreundet sind. Die Redewendung hat ihren Ursprung in einer Geschichte: Während der östlichen Han-Dynastie zog sich ein Gelehrter namens Gong Shamu, um Geld für den Besuch der kaiserlichen Hochschule zu beschaffen, einfache Kleidung an und fand Arbeit beim Reisstampfen (mit Mörser und Stößel) in der Residenz eines Beamten namens Wu You. Wu You fand ihn kultiviert und wortgewandt, freundete sich mit ihm an und bezahlte ihm die Fortsetzung seiner Ausbildung. Gong Shamu wurde später ein angesehener Beamter.
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