Kapitel 90 ~ Die Idiom-Erklärung dieses Ehrwürdigen ist einfach gut

Als Chu Wanning endlich aufwachte, war es Mittag. Der Tapir-Dufttau hatte seine Wirkung nicht verfehlt; er hatte eine ganze Nacht, ungestört von Träumen geschlafen. Er setzte sich gemächlich auf und gähnte.

„Mo Ran?" Dieser Schüler liebte den Schlaf weit mehr als er, und so war es eine Überraschung, ihn nicht noch zusammengerollt auf dem Boden zu finden. Chu Wanning blinzelte, dann rief er erneut nach ihm.

Er antwortete nicht.

Er stand auf, strich seine Robe glatt, bürstete durch die Strähnen seines langen Haares und band es hoch, während er auf den Wandschirm zuging, der den Raum teilte. Auf dem Wandschirm war ein elegant gemaltes Bild von wilden Vögeln zu sehen, die durch eine Wolkenbank zwischen den Berggipfeln flogen. Dahinter stieg Dampf auf ‒ auf der anderen Seite badete jemand.

Er zögerte vor dem Wandschirm und versuchte es erneut. „Mo Ran." Doch es kam keine Antwort. Misstrauisch werdend, klopfte Chu Wanning an den Holzrahmen der Trennwand. Nach mehreren weiteren Versuchen, auf die er keine Antwort erhielt, runzelte er schließlich die Stirn und ging um den Wandschirm herum.

Dieser Teil des Raumes war zum Waschen und Baden bestimmt, und ein großes Badefass aus Kampferholz stand genau in der Mitte. Chu Wanning warf einen hastigen Blick darauf ‒ es war mit heißem, dampfendem Wasser gefüllt, und auf seiner Oberfläche schwammen Badekräuter, die das Gasthaus zuvor verteilt hatte. Aber im Moment war niemand zu sehen.

Er sah sich noch einmal um und entdeckte Mo Rans Kleidung, die ordentlich über dem Holzrahmen gehangen worden war. Er konnte doch unmöglich gebadet haben und dann nackt hinausgelaufen sein, oder?

Chu Wannings Schläfen pochten, als er diesen schrecklichen Gedanken beiseiteschob. Die Lippen waren fest aufeinanderpresste, währenddessen sein Gesicht leicht aschfahl anlief. Er drehte sich um und wollte gerade gehen, als er hinter sich ein Glucksen hörte. Chu Wanning blickte zurück und sah, wie unter den Kräutern und Blütenblättern, die im Fass schwammen, Blasen an die Wasseroberfläche stiegen. War da jemand drin?

Kaum war ihm der Gedanke gekommen, sprang ein nackter junger Mann mit einem Platschen aus dem Fass, wie ein Drache, der aus dem Wasser steigt. Chu Wanning war so erschrocken, dass er versehentlich zwei Schritte zurückstolperte.

Es schien, als hätte Mo Ran unter Wasser die Luft angehalten und deshalb nicht gehört, dass Chu Wanning draußen nach ihm rief. Als er die Luft nicht mehr anhalten konnte, stand er auf und entblößte seinen Oberkörper vollständig. Wie ein Hund, der sich abtrocknet, schüttelte er das Wasser aus seinen Haaren und spritzte es direkt auf Chu Wannings Robe.

„Mo Ran!"

„Ah!" Mo Ran erstarrte mitten im Schütteln, die Augen weit und rund. Er hatte offensichtlich nicht mit Chu Wanning gerechnet und keuchte: „Shizun!"

„Du..." Chu Wannings Blick schweifte über die wohlproportionierte Gestalt des jungen Mannes. Mo Rans Schultern waren schon recht breit geworden, die Linien seines Körpers fest und definiert, geschmeidig und jugendlich straff. Wassertropfen zeichneten die Konturen seiner durchtrainierten Brust nach und sammelten sich in dünnen Rinnsalen, die an ihm hinunterliefen und im Sonnenlicht schimmerten.

Er sah aus wie ein wunderschöner Wassermann halb aus dem Wasser, die Augen funkelnd, ein paar verirrte Blütenblätter in den nassen Haaren, die an seinem Körper klebten. Mo Ran wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und beugte sich grinsend zu Chu Wanning hinüber. Seine Schulterblätter spannten sich wie die eines Leoparden, als er seine Arme über den Rand des Badefasses verschränkte und den Kopf neigte, um ihn strahlend anzustrahlen.

Chu Wanning fühlte sich ein wenig schwindelig, sein Gesicht war ein wenig warm, und er fragte, ohne nachzudenken: „Was machst du da?"

„Ich nehme ein Bad."

„Am Morgen?"

„He he." Mo Ran gluckste schuldbewusst ‒ er hatte sich gerade mit kaltem Wasser abgewaschen, um das Feuer in seinen Lenden zu löschen. Es hatte gut funktioniert, aber da er sich bereits entkleidet hatte, wollte er auch gleich ein Bad nehmen, wenn er schon dabei war. Das Bad hatte ihn in gute Laune versetzt, und so war er abgetaucht, um zu üben, den Atem anzuhalten. Er hatte sicher nicht damit gerechnet, dass Chu Wanning einfach so hereinspazieren würde.

„Was soll dieses alberne Lächeln?" Chu Wanning zog die Brauen zusammen und versuchte, die Hitze, die in seinem Gehirn brodelte, mit einem kühlen Tonfall zu überspielen. „Warum hast du mich nicht geweckt, wenn du schon so früh wach bist? Du treibst dich hier herum, wirfst deine Klamotten durch die Gegend, wo sind deine Man‒?"

„Shizun. Du hast etwas Wasser im Gesicht." Es plätscherte, als Mo Ran seine Hand hob, um Chu Wannings Wange abzuwischen.

„‒nieren."

Mo Ran lachte. Er hatte vergessen, dass auch seine Hand nass war und Chu Wannings Wange nur noch nasser machen würde.

Chu Wanning stand wie erstarrt da, die Luft um ihn herum kühlte um einige Grad ab. Seine Miene war angespannt, die Lippen zusammengepresst, nur seine Wimpern zuckten ab und zu. Er fühlte sich, als würde er versuchen, einen Jagdhund abzurichten, nur um stattdessen von dem verschlagenen Welpen beschnüffelt zu werden. „Steig aus und zieh dich an. Wir müssen zurück zur Sekte." Schließlich sagte Chu Wanning diese Worte mit einem frostigen Gesichtsausdruck und ging mit einem Zischen seiner Ärmel.

Aber dort, wo Mo Ran nichts sehen konnte, waren die Spitzen von Chu Wannings Ohren rot. Genauso wie dort, wo Chu Wanning nichts sehen konnte, dieses Paar taufrischer Augen, die immer noch von Sehnsucht durchdrungen waren und in denen komplizierte Gefühle schwammen, ihm hilflos hinterher starrten, bis er um die Ecke verschwand.

Das liebenswerte Lächeln verschwand aus Mo Rans Gesicht und wurde durch einen Blick der Frustration ersetzt. Er klatschte verärgert auf das Wasser, nahm eine Handvoll davon und schrubbte sich gnadenlos übers Gesicht.

Was zur Hölle.

Was war heute nur los mit ihm? Alles, was er tat, war, Chu Wanning während des Badens ein wenig anzusehen und kurz seine Wange zu berühren. Er hatte es gerade geschafft, seine Erregung zu unterdrücken, und jetzt war er wieder hart...

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„Wolltest du dich nicht gerade anziehen? Warum hast du so lange gebraucht?", schimpfte Chu Wanning. Er drehte sich sichtlich verärgert von seinem Platz am Fenster um. Seine Robe flatterte sanft in der Brise, und feine Haarsträhnen streichelten seine jadefarbenen Wangen.

Mo Ran hustete. „Ich habe mein Haar mit einem Zauber getrocknet", murmelte er undeutlich, „aber ich bin nicht sehr gut darin, deshalb hat es eine Weile gedauert. Es tut mir leid, dass ich Shizun warten ließ."

Diese untypische Anständigkeit überraschte Chu Wanning ein wenig. Er warf seinem Schüler noch einen Blick zu, bevor er sagte: „Wenn du mit dem Waschen fertig bist, geh und packe. Wir können ein Boot mieten. Ich habe keine Lust, auf Schwertern zu reiten, und von Pferden habe ich auch genug. Lass uns auf dem Wasser fahren und unterwegs ein bisschen die Sehenswürdigkeiten ansehen."

„Okay, klingt gut." Mo Ran wagte es nicht, ihn zu lange anzusehen und hustete noch ein paar Mal, um sein Unbehagen zu überspielen.

Chu Wanning runzelte die Stirn. „Was ist denn mit deinem Hals los?"

„...Nichts." Mo Ran drehte sich hastig um, um zu packen.

Sie hielten an einem Laden an, um ein paar Snacks und Trockenwaren für die Reise zu besorgen, und machten sich dann auf den Weg zu den Docks, um ein Boot zu mieten.

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Die beiden segelten den Jangtse hinunter. Immer, wenn sie in ein Gebiet kamen, das auf dem Wasser nicht passierbar war, entfalteten sie die hölzernen Flügel des Bootes und schwebten stattdessen mit einer magischen Brise durch die Lüfte. Diese Art der Fortbewegung war zwar nicht schnell, aber friedlich und entspannend.

Acht Tage später erreichten sie den Sisheng-Gipfel. Das Holzboot glitt die Strömung hinunter und legte am Bergtor an.

Mo Ran lüftete den Bambusvorhang und erlaubte Chu Wanning, zuerst aus der Kabine zu steigen, bevor er selbst folgte. Es war schon spät, und der Mond stand hell am Himmel. Der Yuheng Älteste hatte Xue Zhengyong die ausdrückliche Anweisung gegeben, ihnen keinen Empfang zu bereiten, und so begegneten sie niemandem, bis sie die Treppe zum Haupttor hinaufgestiegen waren. Dort bewachten vier Schüler den Eingang.

„Yuheng Ältester!"

„Mo-Gongzi!"

Aus irgendeinem Grund blitzte Panik in den Gesichtern der Schüler auf, als sie die beiden sahen. Bevor einer von ihnen reagieren konnte, fielen alle vier auf die Knie und sahen zu den beiden auf. „Älterer Gongzi", flehten sie eindringlich, „da drinnen sind Leute, die Vergeltung an Euch üben wollen! Der Sektenanführer hat einen Botenvogel geschickt, um Euch zu sagen, dass Ihr wegbleiben sollt, aber es sieht so aus, als wäre der fette Vogel zu langsam gewesen! Bitte versteckt Euch für eine Weile in der Stadt Wuchang ‒ was auch immer Ihr tut, geht nicht sofort hinein!"

Chu Wanning kniff die Augen zusammen. „Was ist denn los, warum seid ihr alle so in Panik?"

„Da sind Leute aus dem oberen Kultivierungsreich! Sie beschuldigen den Ältesten der dämonischen Kultivierung und wollen Euch zur Untersuchung in den Tianyin-Pavillon schleppen!"

„Tianyin-Pavillon?" Mo Ran wiederholte erschrocken. „Ist das nicht das Gefängnis, das von allen zehn großen Sekten eingerichtet wurde und für die abscheulichsten Verbrecher reserviert ist?"

„Genau das ist es! Sie sind wegen des Vorfalls in der Schmetterlingsstadt hier", sagte eine der vier, eine junge Frau, besorgt. „Erinnert sich der Älteste? Damals wurdet Ihr zur Strafe verprügelt!"

„Das war höchstens ein Missbrauch von Kultivierungstechniken oder die Einbeziehung gewöhnlicher Menschen. Außerdem hat Shizun die Strafe dafür bereits akzeptiert. Warum haben sie diese alte Angelegenheit plötzlich wieder hervorgeholt ‒ und sind sogar so weit gegangen, den Tianyin-Pavillon mit einzubeziehen." Mo Ran runzelte die Stirn. „Und was hat es mit der dämonischen Kultivierung auf sich?"

„Wir kennen die Details auch nicht. Aber wir haben gehört, dass alle in der Schmetterlingsstadt über Nacht gestorben sind, getötet von einem Wesen, halb Geist, halb Gottheit, das anscheinend auf Geheiß von jemandem gehandelt hat. Die Geistergottheit ist unglaublich mächtig, und ein durchschnittlicher wandernder Kultivierer wäre sicher nicht in der Lage, ihr Befehle zu erteilen, deshalb vermuten die Leute aus dem oberen Kultivierungsreich, dass der Yuheng Ältester es getan hat!"

Chu Wanning war sprachlos.

„Pfft", lachte Mo Ran. „Und ich habe mir schon Sorgen gemacht. Das ist ein einfaches Missverständnis, das sich leicht erklären lässt. Es gibt keinen Grund, sich zu verstecken." Er drehte sich um und grinste Chu Wanning an. „Shizun, kannst du diese Leute verstehen? Wenn du einen kleinen bösen Geist vertreibst, werden sie sagen, du würdest den Schülern die Gelegenheit nehmen. Wenn du einen großen Dämon vertreibst, werden sie dich beschuldigen, du würdest dich in dämonischer Kultivierung üben und dass du dir eine Geistergottheit hältst, die nach deiner Pfeife tanzt. Wenn das so weitergeht, sollten wir am besten gar nichts mehr tun und den ganzen Tag zu Hause sitzen und meditieren, so wie sie es tun.“

Aber Chu Wanning lachte nicht. Sein Gesichtsausdruck war schrecklich, und er stand eine Weile still da, bevor er fragte: „Alle Menschen in Schmetterlingsstadt sind tot?"

„Das habe ich gehört. Kein einziger hat überlebt."

Chu Wanning schloss die Augen und schwieg.

Die Schülerin bemerkte seinen seltsamen Ausdruck. „Ältester?", fragte sie beunruhigt.

„Dieser Vorfall war nicht mein Werk, aber er könnte sich ereignet haben, weil ich beim Exorzismus nicht gründlich genug war. Wenn es tatsächlich meine Schuld ist, dann werde ich mich nicht vor der Verantwortung drücken.“ Chu Wanning öffnete langsam seine Augen. „Mo Ran, lass uns hineingehen."

Die Wände der Loyalitätshalle waren mit zwölf Lampen aus gewundener Bronze gesäumt. Jede Lampe war zehn Fuß hoch und hatte neun Lagen von Zweigen, die vom zentralen Ständer ausgingen und nach oben hin kurz und nach unten hin länger waren. Die dreihundertsechsundfünfzig Kerzenlaternen an diesen Zweigen beleuchteten die Haupthalle des Sisheng-Gipfels so hell, dass die Nacht praktisch nicht mehr vom Tag zu unterscheiden war.

Xue Zhengyong, der in voller Kampfmontur gekleidet war, stand mit geradem Rücken auf dem hohen Podest der Halle. Er sah aus wie eine gusseiserne Statue und starrte mit den Augen eines Raubtiers auf die Menschen unter ihm herab. „Li-Zhuangzhu, ich sage es ein letztes Mal. Der Yuheng Ältester ist zurzeit nicht in der Sekte. Außerdem kann ich mit meinem Leben dafür bürgen, dass das, was in der Schmetterlingsstadt passiert ist, nicht seine Schuld ist. Also hören Sie auf, mit diesen grundlosen... Dingsbums..."

Neben ihm flüsterte Frau Wang diskret hinter ihrem Ärmel: „Anschuldigungen."

Ähm, hören Sie auf, mit diesen haltlosen Dingsbums-Anschuldigungen um sich zu werfen!", erklärte Xue Zhengyong mit einer imposanten Handbewegung.

Frau Wang war sprachlos.

Ohne die Schüler der Wache des Sisheng-Gipfels warteten etwa dreißig Personen in der Halle. Sie waren in jadegrüne Roben gekleidet, trugen Pferdeschwanzwedel in den Armen und hatten viereckige Jinxian-Hüte aus schwarzer Gaze auf ‒ es waren offensichtlich Schüler des kürzlich gegründeten und rasch aufsteigenden Bitan-Guts des oberen Kultivierungsreichs. Der Mann an ihrer Spitze war in den Fünfzigern und hatte einen langen Bart, der an den Seiten seines Gesichts abstand und in der leichten Zugluft wie ein Wels trieben. Es war niemand anderes als der Anführer des Bitan-Guts selbst, Li Wuxin.

„Xue-Zhangmen", sagte Li Wuxin spöttisch und zwirbelte einen Schnurrbart, „ich bin nur hier, um mit Euch zu reden, weil Eure Sekte noch als rechtschaffen gilt. Die Tragödie in der Schmetterlingsstadt ereignete sich, nachdem Euer Yuheng Ältester und seine Schüler dort einen Exorzismus durchgeführt hatten. Abgesehen von diesen dreien hatte der Haushalt Chen keinerlei Kontakt zu Kultivierern. Wir haben sowohl Beweise als auch Zeugen. Sie haben keine andere Wahl, als Ihre Schuld in dieser Angelegenheit zuzugeben."

Xue Meng, der neben seinem Vater stand, konnte es nicht mehr ertragen. „Welches verdammte Recht habt Ihr eigentlich, Euch zu äußern? Wann habt Ihr es jemals auf Euch genommen, Euch um die Probleme des unteren Kultivierungsreich zu kümmern? Ihr sitzt immer nur auf euren Händen und versucht, Euch zur Unsterblichkeit zu kultivieren. Wenn dann etwas passiert, stürzt Ihr hierher und versucht, die Schuld auf meinen Shizun zu schieben! Was für eine Art von Gerechtigkeit ist das?!"

„Xue-Gongzi." Anstatt wütend zu werden, warf Li Wuxin ihm einen bedeutungsvollen Blick zu und lächelte. „Ich habe schon von Euch gehört, man nennt Euch den Sohn des Phönix. Aber Sie heute persönlich zu treffen und mit eigenen Augen zu sehen, wie gelassen Sie sind, war eine, sagen wir, augenöffnende Erfahrung."

„Ihr...!"

Li Wuxin verdrehte die Augen und wandte sich wieder an Xue Zhengyong. „Xue Zhangmen, wir von dem oberen Kultivierungsreich halten uns streng an die Gesetze, und wir werden der Sache auf den Grund gehen. Wenn Sie sich wirklich weigern zu kooperieren und Yuheng, Mo Ran und die anderen nicht ausliefern, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als die führende Sekte der Kultivierungswelt, die Rufeng-Sekte, zu bitten, die Ermittlungen selbst in die Hand zu nehmen!"

Xue Zhengyong hatte schon immer ein hitziges Temperament gehabt. Er spottete über diese Drohung. „Ich weiß sehr wohl, dass euer Bitan-Gut mit der Rufeng-Sekte befreundet ist, aber selbst wenn Nangong Liu heute vor mir stünde, würde ich ihm dasselbe sagen ‒ ich werde sie nicht ausliefern. Das hat nichts mit Yuheng zu tun."

„Nun denn", sagte Xue Meng, der ihm auf den Fersen war, „Li-Zhuangzhu, seht Euch bitte vor."

„Habt ihr das gesehen? Haben das alle gesehen?! Seht ihr, wie schwierig und unvernünftig sie sind ‒ sie leisten Verbrechern Beihilfe!" Amans zittrige Stimme brach aus der Menge hervor. „So war es auch damals, als dieser Mo die Sachen meines Freundes gestohlen hat. Wir kamen hierher, um höflich nach Gerechtigkeit zu suchen, und sie haben uns einfach so rausgeschmissen! Li-Zhuangzhu, Ihr habt es auch gesehen, nicht wahr? Wenn der Sisheng-Gipfel sich weiterhin so unverschämt verhält und sich über das Gesetz stellt, dann ist das untere Kultivierungsreich erledigt!"

Kaum hatte er geendet, ertönte ein leises Glucksen vom Eingang der Halle.

Alle drehten sich zur Tür. Dort, im Schatten, wohin das Licht aus der Halle nicht reichte, stand ein junger Mann in blauer Robe und leichter Rüstung. Er lehnte lässig an dem kunstvoll geschnitzten zinnoberroten Türrahmen und beobachtete die Szene in der Halle mit trägem Blick. Dieser junge Mann war äußerst attraktiv, seine geschmeidige und straffe Haut leuchtete förmlich im Kerzenlicht.

„Sagen Sie, Chang-Gongzi, wann genau habe ich jemals etwas von Ihrem Freund gestohlen?" Sein Lächeln war sanft und charmant: „Dieser Rong San... oder war es Rong Jiu? Ich kann mich nicht erinnern. Wie auch immer, dieser hübsche Junge, ist er Euer Freund oder Euer Geliebter? Es ist ziemlich trügerisch von Euch, nur einen Teil der Geschichte zu erzählen, hm? Was, wenn Ihr seine Gefühle verletzt habt?"

Der Mann, der sich so jämmerlich beklagte, war kein anderer als der Kaufmann Chang aus Yizhou, derselbe, der vor Monaten erklärt hatte, der Sisheng-Gipfel habe ihn nicht zum letzten Mal gesehen.

Chang-Gongzi riss den Kopf herum und sah erschrocken Mo Ran an. Doch dann flackerte etwas in seinen Augen auf, und er heulte jämmerlich: „Mo Weiyu, du Bastard! Meine Freundschaft mit Jiu-er ist wie die von Mörser und Stößel, völlig unschuldig. Er ist bereits auf so tragische Weise durch die Hand Eurer teuflischen Leute gestorben, und Ihr wagst es immer noch, seinen Namen zu verleumden!"

„Was?" Ein Schauer lief Mo Ran über den Rücken, und seine Augen weiteten sich leicht. „Rong Jiu ist tot?"

„Seine Eltern stammen aus der Schmetterlingsstadt", fuhr Chang-Gongzi wütend und weinerlich fort. „Ihm widerfuhr vor einigen Tagen bei einem Besuch in seiner Heimat ein Unglück. So erfuhr ich von den bösen Taten von Euch und Eurem Shizun! Deshalb bin ich zu Li-Zhuangzhu gegangen, um Gerechtigkeit zu üben!"

Mo Rans Meinung über Rong Jiu war alles andere als positiv, und nachdem der erste Schock überwunden war, wies er Chang-Gongzi mit einer knappen Handbewegung ab. „Freundschaft von Mörser und Stößel? Ihr seid also der Stößel und er ist der Mörser, wo ist Eure Unschuld? Ich weiß nicht, inwiefern das unschuldig ist, aber okay."

„M-Mo Ran!" Chang-Gongzi hatte das nicht erwartet und war ziemlich beleidigt. „D-Du ungebildeter Verwerflicher! Du, du..."

Ähm..." Das war auch für Frau Wang ein bisschen viel.

Nur Xue Zhengyong blinzelte und sagte nichts. Mörser dies und Stößel das, was auch immer das bedeuten mochte, es konnte nichts Gutes sein. Er hatte das Gefühl, dass die Worte seines Neffen eigentlich ziemlich viel Sinn ergaben. Daran war nichts falsch.

Aus der Dunkelheit der Nacht außerhalb der Halle kam ein Seufzen wie das Zerspringen von Jade oder das erste Schmelzen eines zugefrorenen Sees, tief und unbeschreiblich schön. Eine schlanke, wohlproportionierte Hand streckte sich aus... und verpasste Mo Ran eine schallende Ohrfeige mitten ins Gesicht.

„So eine Obszönität. 'Freundschaft von Mörser und Stößel' bedeutet eine Freundschaft, die sich nicht um Status und Mittel schert, wie die zwischen Gong Shamu und Wu You." Chu Wanning erschien in der Tür, mit finsterer Miene und schiefem Tonfall. „Was hängst du hier vor der Tür herum und machst dich lächerlich? Geh verdammt noch mal rein!"

„Shizun!"

„Shizun!"

Xue Meng und Shi Mei eilten überglücklich nach vorn, um ihn zu begrüßen. Doch Xue Zhengyongs Augen weiteten sich vor Verärgerung. „Yuheng, was machst du wieder hier?"

„Wie lange wolltest du es alleine aushalten, wenn ich nicht kommen würde?" Chu Wanning schritt gelassen in die Loyalitätshalle, sein hübsches Gesicht war wie das eines Unsterblichen im Kerzenschein, unübertroffen in Anmut und Eleganz. Er blieb vor dem goldenen Sitz in der Halle stehen, nickte Xue Zhengyong zu und wandte sich dann mit einer Bewegung seiner weiten Ärmel den Bittstellern zu.

„Chu Wanning vom Sisheng-Gipfel, demütiger Träger des Titels Yuheng Ältester. Wie es scheint, habt Ihr Fragen an mich, deren Beantwortung ich Euch nicht verweigern möchte." Li Wuxin starrte ihn schockiert an, doch Chu Wanning, dessen Phönixaugen wie Rauch aussahen, warf ihm nur einen kurzen Blick zu, bevor er in gleichmäßigem Ton fortfuhr: „Ich bitte Sie, mich aufzuklären."

 

 

 

Erklärungen:

Zhuangzhu bedeutet so viel wie 'angesehener Anführer‘. Bezieht sich auf einen Sektenanführer. Kann allein verwendet oder an einen Familiennamen angehängt werden.

Jinxian-Hüte:

(Ich habe leider keine Ahnung, wie ich diesen Hut beschreiben soll, deshalb habe ich ein Bild eingefügt, damit ihr ihn euch vorstellen könnt.)

Freundschaft von Mörser und Stößel: Eine Redewendung, die sich auf Leute bezieht, die unabhängig von ihrem Status oder ihren Mitteln befreundet sind. Die Redewendung hat ihren Ursprung in einer Geschichte: Während der östlichen Han-Dynastie zog sich ein Gelehrter namens Gong Shamu, um Geld für den Besuch der kaiserlichen Hochschule zu beschaffen, einfache Kleidung an und fand Arbeit beim Reisstampfen (mit Mörser und Stößel) in der Residenz eines Beamten namens Wu You. Wu You fand ihn kultiviert und wortgewandt, freundete sich mit ihm an und bezahlte ihm die Fortsetzung seiner Ausbildung. Gong Shamu wurde später ein angesehener Beamter.




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