Glücklicherweise hatte Chu Wanning noch nicht viel von Mo Rans Stück der vorgetäuschten Mundstrafe gehört, also schaffte er es, sich mit etwas erfundenem Unsinn durchzuschlagen, wenn auch nur knapp.
Es war schrecklich spät, als Mo Ran in sein Zimmer zurückkam. Er machte
ein Nickerchen und besuchte am nächsten Tag, wie üblich, den Morgenunterricht. Nach
diesem Unterricht kam seine Lieblingsbeschäftigung am Morgen: das Frühstück.
Als der Morgenunterricht endete, füllte sich die Mengpo-Halle allmählich
mit Menschen. Mo Ran nahm gegenüber von Shi Mei Platz. Xue Meng, der zu spät
gekommen war, um sich den Platz neben Shi Mei zu schnappen, wurde widerwillig
gezwungen, mit einem düsteren Gesicht neben Mo Ran zu sitzen, und nur seine
eigene Verspätung war schuld daran.
Wenn jemand Mo Ran bitten würde, den besten Aspekt der Lehren vom
Sisheng- Gipfel zu nennen, würde er definitiv sagen, dass die Kultivierung
dieser Sekte kein Fasten erfordert. Im Gegensatz zu den erhabenen, ätherischen
Sekten des oberen Kultivierungsreichs verlangte die Kultivierungsmethode von
Sisheng-Gipfel keine Abstinenz von Fleisch oder anderen Nahrungsmitteln, daher
waren die Mahlzeiten dort immer üppig.
Mo Ran trank aus einer Schüssel herzhafter, würziger Youcha-Suppe, schlürfte die darin enthaltenen
Erdnussbrösel und knusprigen Sojabohnen und genoss einen Teller mit gebratenen Shengjian-Mantou, die goldenen
knusprig zubereitet wurden und die er nur für Shi Mei bestellt hatte.
Xue Meng warf Mo Ran einen Seitenblick zu. „Mo Ran, es ist wirklich
unglaublich, dass du in die Rote-Lotus-Hölle gegangen bist und es tatsächlich
geschafft hast, auf deinen eigenen Beinen wieder hinauszugehen“, sagte er
spöttisch. „Du bist eine Inspiration."
„Natürlich“, antwortete Mo
Ran, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, den Kopf zu heben. „Was glaubst du,
wer ich bin?"
„Was denkst du, wer du bist?", höhnte Xue Meng. „Nur weil Shizun
dir nicht die Beine gebrochen hat, heißt das nicht, dass du mehr als eine
gehackte Leber bist.“
„Wenn ich gehackte Leber bin, was bist du dann?"
Xue Meng spottete. „Ich bin Shizuns bester Schüler."
„Selbsternannt. Hey, warum fragst du Shizun nicht nach seinem
Gütesiegel, damit du es einrahmen und an die Wand hängen kannst? Du verdienst
am wenigsten den Titel des 'besten Schülers'."
Xue Meng ließ seine Essstäbchen knacken.
Shi Mei beeilte sich, den Schlichter zu spielen. „Bitte kämpft nicht.
Beeilt euch und esst.“
„Hmpf."
„Hmpf“, ahmte Mo Ran Xue Meng nach, ein scheißfressendes Grinsen lag auf
seinem Gesicht.
Xue Meng sträubte sich und schlug auf den Tisch. „Wie kannst du es
wagen!"
Als sich die Situation rapide verschlechterte, hielt Shi Mei Xue Meng
hastig zurück. „Junger Meister, alle schauen zu. Iss, iss ‒ streite nicht.“
Die Horoskope von Mo Ran und Xue Meng waren einfach nicht kompatibel. Obwohl
sie Cousins waren, stritten sie sich jedes Mal, wenn sie sich trafen. Shi Mei
versuchte erfolglos, Xue Meng zur Ruhe zu bringen. Schließlich musste er sich
physisch zwischen die beiden drängen, um die Spannung abzubauen, beschwichtigend
wandte er sich nach links und rechts, während er versuchte, die beiden
abzulenken.
Shi Mei wandte sich an Xue Meng. „Junger Meister, weißt du, wann die
Katze von Frau Wang gebären wird?"
„Oh, du meinst A-Li? Mama hat sich geirrt. Sie ist nicht schwanger, sie
hatte nur einen dicken Bauch, weil sie zu viel gefressen hat.“
Shi Mei hielt inne und wandte sich dann an Mo Ran. „A-Ran, musst du
heute noch zu Shizun gehen, um Hausarbeiten zu erledigen?"
„Sollte nicht mehr der Fall sein. Alles, was aufgeräumt werden musste,
wurde aufgeräumt. Ich helfe dir heute beim Abschreiben der Sektenregeln.“
Shi Mei lachte. „Hast du überhaupt Zeit, mir zu helfen? Musst du nicht
selber die Regeln abschreiben?"
Xue Meng hob eine Augenbraue und sah Shi Mei mit einiger Verwunderung
an, der es normalerweise niemals wagen würde, auch nur einen Zeh über die
Grenzen und Regeln hinweg zu setzen. „Wie kam es dazu, dass du Regeln
abschreiben musst?"
Shi Mei sah verlegen aus, aber bevor er antworten konnte, legte sich
Stille über den Speisesaal, als alle Gesprächsgeräusche verstummten. Die drei
drehten sich um und sahen, wie Chu Wanning die Mengpo-Halle betrat, seine
weißen Roben wehten hinter ihm her. Er ging ohne Ausdruck zu den Essenstheken
und fing an, Gebäck auszusuchen.
Mehr als tausend Menschen aßen in der Halle, aber mit nur einem Chu
Wanning wurde es schnell still wie auf einem Friedhof. Die Schüler senkten ihre
Köpfe, um ihr Essen zu kauen; wenn jemand sprach, war es in einem gedämpften
Ton.
Als er Chu Wanning dabei zusah, wie er sein Tablett in seine übliche
Ecke trug, um in aller Ruhe sein Reisbrei zu essen, stieß Shi Mei einen tiefen
Seufzer aus. „Eigentlich tut mir Shizun manchmal irgendwie leid.“
Mo Ran warf einen Blick Chu Wanning einen Blick zu. „Wie das?“
„Schau mal: Niemand hat sich getraut, in die Nähe des Sitzplatzes zu
gehen; niemand wagt es sogar, laut mit ihm zu reden. Es war in Ordnung, als der
Sektenanführer hier war, aber ohne ihn hat Shizun niemanden zum Reden. Ist das
nicht einsam?"
Mo Ran hmpfte. „Er hat es sich selbst eingebrockt."
Xue Meng wurde wieder wütend. „Du wagst es, Shizun zu verspotten?"
„Wie verspotte ich ihn? Ich sage nur die Wahrheit." Mo Ran legte
einen weiteren Mantou auf Shi Meis Teller. „Wer würde bei so einem Temperament
mit ihm abhängen wollen?“
„Du!"
Das scheißfressende Grinsen kehrte auf Mo Rans Gesicht zurück, als er
Xue Meng ansah. „Hast du ein Problem mit mir?", sagte er träge. „Dann
kannst du dich gerne zu Shizun mit deinen Mahlzeiten dazusetzen. Bleib nicht
bei uns."
Das brachte Xue Meng sofort zum Schweigen.
Xue Meng empfand großen Respekt vor Chu Wanning, aber wie alle anderen
war seine Angst vor ihm noch größer. Wütend und gedemütigt, aber ohne etwas zu
erwidern, versetzte er dem Tischbein zwei kräftige Tritte und schmollte von
sich aus.
Mo Ran war das Bild träger
Selbstgefälligkeit, als er dem kleinen Phönix einen spöttischen Blick zuwarf.
Dann wanderte sein Blick über die Menge und landete auf Chu Wanning. Er wusste
nicht warum, aber als er die einzige weiß gekleidete Gestalt in der Halle
voller Menschen in satten blauen und silbernen Rüstungen betrachtete, erinnerte
er sich wie aus dem Nichts an dieselbe Person, die, eine Nacht zuvor,
zusammengerollt umgeben von einem Haufen aus kaltem Metall eingeschlafen war.
Shi Mei lag nicht falsch. Chu Wanning war wirklich ziemlich
bemitleidenswert.
Aber was ist damit? Je bemitleidenswerter er war, desto glücklicher
würde Mo Ran sein. Als er darüber nachdachte, konnten seine Mundwinkel nicht
anders, als sich noch mehr zu krümmen.
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Die Tage vergingen wie im Flug.
Chu Wanning rief Mo Ran nicht mehr in den Rote-Lotus-Pavillon, und so
wurden seine täglichen Pflichten zu müßigen Aufgaben: Geschirr spülen, die
Küken und Enten füttern, die Frau Wang hielt, und Unkraut im Heilkräutergarten
jäten. Sein Monat Hausarrest verging im Handumdrehen.
Eines Tages rief Frau Wang Mo Ran in die Loyalitätshalle. Sie tätschelte
seinen Kopf, als sie fragte: „A-Ran, wie geht es dir?“
Mo Ran antwortete mit einem Lächeln. „Danke, dass du dir Sorgen um mich
machst, Tante. Jetzt bin ich wieder gesund."
„Das ist gut. Sei in Zukunft achtsamer. Mach nicht so große Fehler und
ärgere nicht wieder, Shizun, verstanden?“
Mo Ran war ein Experte darin, sich bemitleidenswert zu verhalten. „Verstanden,
Tante!"
„Und außerdem." Frau Wang holte einen Brief von einem kleinen Tisch
aus duftendem Rosenholz. „Es ist ein ganzes Jahr her, seit du der Sekte
beigetreten bist, was bedeutet, dass es Zeit für dich ist, Exorzismusaufgaben
zu übernehmen. Dein Onkel hat dir das gestern per Brieftaube geschickt. Sobald
dein Hausarrest beendet ist, er möchte, dass du den Berg hinuntergehst, um
diese Mission zu erfüllen.“
Die Bräuche vom Sisheng-Gipfel schrieben vor, dass die Schüler nach
einem vollen Jahr in der Sekte, die Welt sehen und praktische Erfahrungen als
Exorzisten sammeln mussten. Bei der ersten Mission eines Schülers wurden sie
von ihrem Shizun begleitet, der sie dabei beobachtete und bei Bedarf Hilfe
leistete. Man konnte auch andere Schüler einladen, um die Kameradschaft mit
ihren Gefährten zu fördern und ihnen die Bedeutung von ‘Ein treues Herz bleibt beständig, ob
im Leben oder im Tod’ einzuhämmern.
Mo Rans Augen leuchteten auf. Er nahm den Missionsbrief an, riss ihn
auf, um ihn schnell zu lesen, und fing an, vor Freude zu grinsen.
„A-Ran, dein Onkel hat dir eine schwere Verantwortung für deine Mission
anvertraut, in der Hoffnung, dass du dir einen Namen machen kannst”, sagte Frau
Wang unruhig. „Der Yuheng Ältester ist ein mächtiger Kultivierer, aber
Schwerter können im Kampf nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden und er
ist möglicherweise nicht immer in der Lage, dich zu beschützen. Also albere
nicht zu viel herum und stelle sicher, dass du den Feind nicht auf die leichte
Schulter nimmst.“
„Werde ich nicht, werde ich nicht!" Mo Ran winkte ab, immer noch
grinsend. „Mach dir keine Sorgen, Tante. Ich werde auf mich selbst aufpassen,
kein Problem!"
Er rannte los, um zu packen.
„Dieses Kind…“ Frau Wang beobachtete seinen kleiner werdenden Rücken,
ihr sanftes, anmutiges Gesicht war von Sorge gezeichnet. „Wieso ist er so
glücklich darüber, einfach eine Mission zu erhalten?“
Wie konnte Mo Ran nicht glücklich sein? Die Mission seines Onkels
bestand darin, den Vorfall in der Schmetterlingsstadt auf Bitten des gewissen
Grundbesitzers Chen zu untersuchen.
Wen kümmerte es, was für ein Geist oder Ghul es war? Wichtig war, dass
Mo Ran in seinem letzten Leben unter den Einfluss eines dämonischen Giftes
geraten war und Shi Mei im verwirrten Zustand in einem Reich der Illusion
gewaltsam geküsst hatte. Es war auch eines der wenigen Male gewesen, dass Mo
Ran Shi Mei gegenüber so intim werden konnte. Er war so ekstatisch, dass er
praktisch auf Wolke sieben schwebte.
Darüber hinaus konnte Shi Mei kein Aufheben machen, weil er unter dem
Einfluss des dämonischen Giftes stand. Ein Gratiskuss! Und keinerlei
Konsequenzen!
Mo Ran war so glücklich, dass er nicht aufhören konnte zu lächeln. Es
störte ihn nicht einmal, dass auch Chu Wanning mit auf die Mission kommen
musste. Er konnte das Exorzieren einfach seinem Meister überlassen, während er
mit Shi Mei flirtete. Wer würde zu einem so einfachen Job Nein sagen?
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Nachdem Mo Ran Shi Mei eingeladen und sie sich bei ihrem Shizun gemeldet
hatten, machten sich die drei sofort auf den Weg zu Pferd in die unruhige
Schmetterlingsstadt.
Das Spezialgebiet dieser Stadt war der Blumenhandel. Blumenfelder
erstreckten sich viele Meilen über das Wohngebiet hinaus, und Schmetterlinge in
allen Farben flatterten immer in der Stadt herum — daher der Name.
Als das Trio ankam, war es bereits Nacht, aber am Stadteingang herrschte
reges Treiben. Trommeln erklangen laut und deutlich, als eine Prozession von
Rot gekleideten Künstlern, die Suona
spielten, aus
einer Gasse kamen.
Shi Mei war verwirrt. „Ist das eine Hochzeitsfeier? Warum findet die
nachts statt?“
„Es ist eine Geisterhochzeit“, antwortete Chu Wanning.
Eine Geisterhochzeit, auch als Yin-Hochzeit bekannt, war eine Tradition unter
dem einfachen Volk, bei der sie Männer und Frauen vereinten, die
jung und unverheiratet gestorben waren. Diese Tradition war in ärmeren
Gegenden selten, aber Schmetterlingsstadt war ziemlich wohlhabend, daher war
die Praxis dort alles andere als ungewöhnlich.
Die auffällige Prozession war in zwei Reihen geteilt, eine trug Satin-
und Seidenballen, die andere Papiergeld und Münzen, die beide eine in Rot und
Weiß geschmückte Sänfte eskortierten. Von goldenen Laternen beleuchtet, zog die
Prozession aus dem Dorf hinaus.
Mo Rans Gruppe zog ihre Pferde zur Seite, um die Geisterhochzeitsprozession
vorbeizulassen. Als die Sänfte näher kam, wurde klar, dass die Person darin
nicht lebendig war, sondern um eine Geisterbraut aus Papier. Die Lippen der
Geisterbraut waren leuchtend scharlachrot geschminkt und zwei rote Linien auf
ihren Wangen umrahmten ein totenbleiches Gesicht. Ihr lächelndes Gesicht war
äußerst beängstigend.
„Was ist das für eine miese Tradition? Brennt Geld ein Loch in die
Tasche dieser Stadt, oder was?“, murmelte Mo Ran vor sich hin.
„Die Menschen in Schmetterlingsstadt sind extrem abergläubisch“, sagte
Chu Wanning. „Sie glauben, dass einsame Gräber einsame Seelen und streunende
Geister anziehen und der Familie Unglück bringen."
„Das gibt es doch eigentlich gar nicht, oder?"
„Ist es echt, solange die Stadtbewohner glauben, dass es so ist?"
Mo Ran seufzte. „Ich denke schon. Schmetterlingsstadt gibt es schon seit
Hunderten von Jahren. Wenn du ihnen jetzt sagen würdest, dass ihr Aberglaube
eigentlich keine Rolle spielt, würden sie es wahrscheinlich nicht akzeptieren
können.“
„Wohin geht diese Prozession?", fragte Shi Mei mit leiser Stimme.
„Wir sind vorhin an einem Tempel vorbeigekommen“, sagte Chu Wanning. „Derjenige,
der darin eingeschlossen war, war kein Gott, allerdings war ein dekorativer
Ausschnitt der Hochzeitsfigur Xi
an der Tür befestigt. Der Altar war mit rotem Satin behangen
worden, auf dem Sätze wie ‘vermählt im Himmel’, ‘Harmonie im Jenseits’ und
dergleichen geschrieben waren. Ich glaube, dass der Tempel wahrscheinlich ihr
Ziel ist.“
„Diesen Tempel habe ich auch bemerkt." Shi Mei sah nachdenklich
aus. „Shizun, ist diejenige, die in diesem Tempel verwahrt ist, eine
Geisterzeremonienmeisterin?“
„Das ist richtig."
Eine Geisterzeremonienmeisterin war ein gespenstisches Wesen, die aus
der Vorstellungskraft des einfachen Volkes geboren wurde. Sie glauben, dass die
Seelen der Verstorbenen auch bei der Eheschließung den richtigen Bräuchen
folgen müssen. Daher muss das verstorbene Paar von einer Zeremonienmeisterin
getraut werden, um zu bestätigen, dass sie tatsächlich Ehemann und Ehefrau
geworden waren. Da Geisterhochzeiten in Schmetterlingsstadt eine gängige
Tradition sind, hatte man von der Geisterzeremonienmeisterin ein vergoldetes
Abbild anfertigen lassen, das sie am Eingang des Friedhofs außerhalb der Stadt
aufgestellt hatten. Die Familien, die Geisterehen abhielten, würden
dementsprechend vor der Beerdigung mit der Geisterbraut vorbeischauen, um die
Geisterzeremonienmeisterin im Tempel zu verehren.
Mo Ran hatte selten zuvor solch lächerliche Praktiken gesehen und
beobachtete das Ganze mit großem Interesse.
Aber Chu Wanning warf der Prozession nur einen kurzen, zwiespältigen
Blick zu, bevor er sein Pferd umdrehte. „Lasst uns gehen. Wir müssen nachsehen,
ob die Familie heimgesucht wird.“
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„Meine drei verehrten Daozhangs, ich habe so
viel gelitten! Endlich seid ihr da! Wenn nicht bald jemand gekommen wäre, um
sich darum zu kümmern, ich — ich würde nicht einmal mehr leben wollen!"
Der Kunde, der den Sisheng-Gipfel gebeten hatte, den Exorzismus
durchzuführen, war der reichste Kaufmann der Stadt, der Grundbesitzer Chen.
Die Familie Chen handelte mit parfümiertem Puder und hatte vier Söhne
und eine Tochter. Nach der Heirat des ältesten Sohnes hatten die
Frischvermählten versucht, auszuziehen, da die frischgebackene Ehefrau nicht
mochte, wie laut die Familie war. Die Familie Chen hatte Reichtum und Ansehen
übrig, also kaufte sie ein großes Stück Land in einer abgelegenen Gegend am
Berg nördlich der Stadt, ein Stück Land mit einem schönen Ort, das sogar eine
natürliche heiße Quelle hatte.
Aber am ersten Bautag waren nur ein paar Schaufeln in den Bergboden
gegraben, bevor sie auf etwas Hartes stießen. Die Frau war hinübergegangen, um
einen Blick darauf zu werfen, nur um sofort vor Schreck in Ohnmacht zu fallen ‒
irgendwie hatten sie einen nagelneuen, rot gestrichenen Sarg ausgegraben.
Die Schmetterlingsstadt hatte einen zugewiesenen Begräbnisplatz, auf dem
alle ihre Verstorbenen bestattet wurden, aber ein einsamer Sarg war aus
unerklärlichen Gründen auf diesem Berg aufgetaucht. Außerdem hatte der
Verstorbene weder ein Grab noch einen Bestatter, und der ganze Sarg war blutrot
angestrichen worden.
Natürlich trauten sie sich nicht weiter und deckten ihn hastig wieder zu. Aber es war zu spät gewesen. Seit
diesem Tag waren die Chens von seltsamen Ereignissen heimgesucht worden.
„Zuerst traf es diese Schwiegertochter von mir", klagte Grundbesitzer
Chen. „Der Schreck ergriff ihr Baby und sie erlitt eine Fehlgeburt. Dann war es
mein ältester Sohn. Er wollte in die Berge, um Heilkräuter zu sammeln, um
seiner Frau zu helfen, sich zu erholen, aber er rutschte aus und stürzte, und
als wir ihn fanden, war er tot...“ Er stieß einen langen Seufzer aus und
wedelte mit der Hand, zu erstickt, um fortzufahren.
Frau Chen tupfte ihre Tränen mit einem Taschentuch ab. „Mein Mann hat recht.
In den Monaten danach traf jeden unserer Söhne ein Unglück, einer nach dem
anderen. Wenn sie nicht verschwanden, dann ereilte sie der Tod — von unseren
vier Söhnen sind drei bereits gegangen!"
Chu Wanning runzelte die Stirn, als er an dem Paar vorbei sah und sein
Blick landete auf dem blassen jüngeren Sohn. Der Junge sah ungefähr so alt aus
wie Mo Ran, fünfzehn oder sechzehn, und hatte feine Gesichtszüge, obwohl sie
jetzt vor Angst verzerrt waren.
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erzählen, wie Ihre anderen Söhne…?“,
fragte Shi Mei. „Wie sind sie gestorben?"
Frau Chen seufzte. „Unser zweiter Sohn suchte seinen Bruder und wurde
unterwegs von einer Schlange gebissen. Es war nur eine normale Ringelnatter,
nicht giftig, also kümmerte sich damals niemand darum. Aber ein paar Tage
später, ist er beim Essen einfach umgefallen und dann ...“, schluchzte sie. „Mein
Sohn..."
Shi Mei atmete aus und fühlte sich schrecklich, weil er drängen musste. „Gab
es dann Anzeichen dafür, dass er tatsächlich vergiftet wurde?"
„Ha, was für ein Gift? Unsere Familie ist definitiv verflucht! Die
ältesten Söhne sind alle tot und der Jüngste ist der Nächste! Er ist der
Nächste, das sage ich euch!“
Chu Wanning runzelte die Stirn und sah Frau Chen an. „Woher wissen Sie,
dass der jüngste Sohn der Nächste ist und nicht Ihr selbst? Tötet dieser
bösartige Geist nur Männer?“
Der jüngste Sohn der Familie Chen legte sich zur Seite, seine Beine
zitterten und seine Augen waren geschwollen wie Pfirsiche. Sogar seine Stimme
quietschte und verzerrte sich, als er sagte: „Ich bin es! Ich werde es sein!
Ich weiß es! Die Person im roten Sarg kommt! Er kommt! Daozhang, Daozhang,
rettet mich!“
Während er sprach, verlor er allmählich die Fassung und kroch hinüber,
um zu versuchen, Chu Wannings Schenkel zu umklammern.
Chu Wanning war körperlichem Kontakt mit Fremden schon immer abgeneigt
und wich ihm sofort aus. Er hob den Kopf, um die Chens anzustarren. „Worum
genau geht es hier?"
Das Paar tauschte einen Blick und sprach mit zitternder Stimme: „Es gibt
einen Ort in diesem Haus… W-wir haben Angst, uns ihm wieder zu nähern. Daozhang
wird verstehen, wenn er es sieht. Er ist wirklich böse, wirklich‒“
„Welcher Ort?", unterbrach ihn Chu Wanning.
Sie zögerten einen Moment, dann deuteten sie mit zitternden Händen auf den
Ahnenschreinraum. „Dort ..."
Chu Wanning ging voran, dicht gefolgt von Mo Ran und Shi Mei, die
Familie Chen folgte ihnen mit einigem Abstand.
Sie stießen eine Tür zu einem Raum auf, einem Raum, der sich nicht von
den Ahnenschreinen anderer Großfamilien unterschied. Er hatte auf beiden
Seiten, Reihen von Gedenktafeln, die vom fahlen Kerzenlicht flankiert wurden.
Alle Verstorbenen waren auf den Gedenktafeln eingraviert worden. Die
Schreibweise war sauber und sorgfältig: hochgeschätzter Geist von
So-und-So-Vorfahr, hochgeschätzter Geist von So-und-So-Vorfahr und so
weiter und so fort.
Aber genau in der Mitte stand eine Gedenktafel mit einem Schriftzug, der
nicht geschnitzt und bemalt, sondern in leuchtendem Rot geschrieben war:
Geist von Chen Yanji. Errichtet von einem lebenden Mitglied des Chen-Sun-Clans.
Die Familie Chen, die sich hinter ihnen versteckt hatte, spähte in den
Schreinraum, der in flatternde weiße Seide gehüllt war. Vielleicht hofften sie
auf einen Zufall. Aber diese Schriftzeichen auf dem Tisch, die mit Blut
geschrieben zu sein schienen, waren immer noch da, und sie alle brachen sofort
zusammen.
Frau Chen schrie laut, und das Gesicht des jüngsten Sohnes war so
bleich, dass er kaum noch lebendig aussah.
Erstens entsprachen die Phrasen auf dieser Gedenktafel nicht den
traditionellen Bestattungsriten. Zweitens waren die Zeichen extrem chaotisch,
als ob der Schreiber kurz davor gewesen wäre, einzuschlafen und sich so sehr
mit dem Schreiben abmühte, dass sie fast unleserlich waren.
Shi Mei erwiderte seinen Kopf und fragte: „Wer ist Chen Yanji?"
„D-das bin ich“, antwortete der jüngste Sohn hinter ihm, seine Stimme
zitterte vor Schluchzen.
Der Grundbesitzer weinte, als er sprach. „Daozhong, es ist so. Seit
unserem zweiten Sohn ist uns aufgefallen, dass…dass eine neue Gedenktafel zum
Ahnenschrein hinzugefügt wurde, aber dass die darauf geschriebenen Namen, die
von lebenden Menschen aus unserer Familie waren. Sobald ein Name auftaucht, ist
diese Person dazu verdammt, innerhalb von sieben Tagen eine Katastrophe zu
erleiden! Als der Name unseres dritten Sohnes auf der Gedenktafel erschien,
sperrte ich ihn in sein Zimmer und verstreute Räucherstäbchen neben seiner Tür,
und ich ließ sogar jemanden kommen, der ein paar Zauber wirkte. Wir haben alles
versucht, aber — am siebten Tag! Ist er trotzdem gestorben ... Aus welchem
Grund auch immer, er ist einfach gestorben!"
Je mehr Grundbesitzer Chen sprach, desto emotionaler und ängstlicher
wurde er und fiel sogar auf die Knie. „Ich habe in meinem Leben noch nie etwas
falsch gemacht — warum muss der Himmel mich so behandeln?! Warum?!“
Shi Meis Herz schmerzte für den alten Mann und er eilte, um ihn zu
trösten, während er zum Himmel schrie. Er sah auf und sagte leise: „Shizun, das…“
Chu Wanning hatte sich nicht umgedreht. Er starrte mit großem Interesse
auf diese Gedenktafel, als würden gleich Blumen daraus erblühen. Plötzlich
fragte er: „Ein lebendes Mitglied des Chen-Sun Clans — bezieht sich das auf
Sie, Frau Chen?“
Erklärungen:
Youcha: Öltee ist das traditionelle Getränk der
ethnischen Minderheit der Dong. Im Chinesischen wird er als yaucha oder youcha
(油茶) bezeichnet, was wörtlich "Öltee" bedeutet.
Shengjian Mantou in der Regel eine dünne, knusprige Schale,
während die anderswo verkauften Mantou in der Regel eine dickere, brotähnliche
Schale haben.
Ein
treues Herz bleibt beständig, ob im Leben oder im Tod: 丹心, danxin, ‘treues Herz’ verwendet in
diesem Satz dasselbe Zeichen wie bei der Loyalitätshalle. Während, 师生, shisheng, ‘Leben oder Tod’ dasselbe
Zeichen verwendet wie beim Namen vom Sisheng Gipfel.
Die Suona, 唢呐, ist ein kegelförmiges Doppelrohrblattinstrument.
Xi, 喜喜, ist eine aus zwei Zeichen bestehende Ligatur für ‘Freude’. Es ist mit der Ehe verbunden und symbolisiert Freude und Glück für Jungvermählte.
Daozhang ist eine höfliche Anrede für Kultivierer, gleichbedeutend mit ‘Herr Kultivierer’. Kann allein als Titel verwendet oder an den Familiennamen einer Person angehängt werden.
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oh mein gott mo traut sich da was in kap.9 aber diese bildchen hätte ich gerne gesehen was er da gemalt hat und das mit der mundstrafe war auch gut . ich erschlage nur moskitus als das war gut. jetzt freut sich mo auch noch bei kap.10 weil er hofft das er sich wieder einen kuss stehlen kann und man ihn nicht bestraft. mal schauen ob das auch passiert oder etwas dazwischen kommt. bin schon sehr gespannt.
AntwortenLöschenIch finde nur Mo Ran Denkweise genial. Er meint ja, Chu Wanning würde, wenn er diese Zeichnungen irgendwann entdeckt, nicht darauf kommen, wer das gemalt hat. Aber mal ehrlich, wer vom Sisheng Gipfel betritt ab und zu mal seinen Pavilion und wer von den wenigen (oder von der ganzen Sekte) würde diese Dreistigkeit besitzen außer Mo Ran. Ich hoffe nur Chu Wanning entdeckt irgendwann diese Zeichnungen, seine Reaktion darauf wäre bestimmt zu komisch.
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