Kapitel 100 ~ Shizuns letzte Worte

Mo Rans Blut wurde kalt.

Er hatte Chu Wannings Guqin Jiuge nur einmal in seinem Leben gesehen, als er sie in ihrem letzten Kampf auf Leben und Tod beschworen hatte. Damals hatten ihre Akkorde den Himmel gespalten und die Wolken zerrissen. Jedes Wesen, das unter der Kontrolle der Zhenlong-Schachformation stand, von den lebenden Menschen bis zu den Monstern und Geistern, hatte beim Klang von Jiuges Akkorden sein Bewusstsein wiedererlangt. Ein einziges Lied hatte Mo Rans Millionenheer von Schachfiguren in völlige Verwirrung gestürzt.

Doch die Beschwörung einer heiligen Waffe erforderte den Einsatz des eigenen spirituellen Kerns und verbrauchte eine Menge spiritueller Energie. Chu Wanning konnte nicht einmal mehr Tianwen herbeirufen ‒ wie hatte er es plötzlich geschafft, Jiuge, eine noch mächtigere Waffe, herbeizurufen?

Die Konfrontation oberhalb des Himmlischen-Sees an diesem Tag war nicht weniger heftig gewesen als der Todeskampf zwischen Meister und Schüler Jahre zuvor. Doch Mo Rans Erinnerung daran war nur noch verschwommen, denn nach diesem blutigen Kampf hatte er niemanden mehr an seiner Seite, mit dem er hätte sprechen können.

Um die Wahrheit zu sagen, hatte Mo Ran bis zu seinem Tod im letzten Leben nie herausgefunden, wie Chu Wanning Jiuge nur mit der Kraft seiner Seele beschwören konnte. Es war eine Art von Verbindung, die es zwischen einer heiligen Waffe und ihrem Meister nicht gab. Aber Chu Wanning hatte es geschafft.

An jenem Tag waren Mo Rans Zhenlong-Schachfiguren unter dem Klimpern der Guqin eine nach der anderen zu Staub zerbröckelt. Jiuges Kraft war irgendwie noch reiner und unbezwingbarer als beim ersten Mal, als er sie vor all den Jahren erlebt hatte ‒ so sehr, dass er vermutete, dass Chu Wannings spritueller Kern gar nicht zerbrochen war, dass er all die Jahre nur so getan hatte, die Demütigungen ertragen und abgewartet hatte, nur um sich mit einem Schlag rächen zu können.

Im Nachhinein konnte Mo Ran nicht umhin zu denken, dass es besser gewesen wäre. Wenn Chu Wanning wirklich nur so getan hätte, wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.

Wenn es doch nur so wäre.

Jiuge machte Mo Rans verbotene Magie zunichte und gab den Tausenden von Kultivierern des Taxue-Palastes, die sich gegenseitig abschlachteten, ihr Bewusstsein zurück. Er zerschmetterte sogar die verzauberten Eissäulen, die Xue Meng und Mei Hanxue gefesselt hatten. Mo Ran sprang in den Himmel, seine Roben flatterten im Wind und seine Augen blitzten gleichermaßen vor Wut und Freude. Wie viele überraschende Fähigkeiten hatte Chu Wanning noch in seinem Ärmel? Er konnte es kaum erwarten, das herauszufinden.

Er landete oben auf der Barriere und schritt über sie hinweg, um vor Chu Wanning zu stehen. Das Paar schlanker, blasser Hände verlangsamte sich, legte sich dann über die Saiten der Guqin und dämpfte ihren Klang. Chu Wanning hob den Kopf, sein Gesicht hatte die Farbe von Schnee unter der Sonne. Er sprach: „Mo Ran. Komm näher."

Mo Ran ging hinüber, obwohl er nicht sagen konnte, warum er das tat.

Chu Wanning hob seine Finger, und Ströme jadefarbenen Lichts schossen auf Mo Rans Brust zu. Zuerst war er erschrocken und dachte, dass Chu Wanning ihn töten wollte. Aber das Licht tat überhaupt nicht weh. Es schwebte nur vor seiner Brust, verschmolz dann langsam mit seiner Haut und seinem Fleisch und durchflutete ihn mit einer ungeahnten Wärme.

„Ich habe die Wunde geheilt, die Xue Meng dir zugefügt hat." Chu Wanning stieß einen leisen Seufzer aus. „Also lass ihn gehen, Mo Ran. Wenn selbst er nicht mehr da ist, zu wem willst du dann gehen, wenn du in Erinnerungen schwelgen willst?"

Mo Ran war noch dabei, die Bedeutung dieser Worte zu verstehen, als die robuste Barriere unter seinen Füßen zusammen mit Chu Wannings Jiuge verschwand. Schnell hob er die Hand, um Bugui zu rufen, damit er sich zwischen den Wolken halten konnte. Doch Chu Wanning fiel hin, sanft wie ein welkes Blatt, als hätte sein Spiel ihm die letzte Kraft geraubt.

„Wanning!" Mo Rans Gesichtsausdruck veränderte sich augenblicklich. Er drückte seine Klinge nach unten, nach unten, und fing Chu Wanning in seinen Armen auf, kurz bevor er in das eisige Wasser des Himmlischen-Sees stürzte. „Chu Wanning! Du ‒ du..."

Chu Wannings Augen waren geschlossen. Blut tropfte aus seiner Nase, seinem Mund, seinen Augen, seinen Ohren. Dieser Mann hatte immer Wert auf seine Würde gelegt. Selbst in den Jahren, in denen er im Wushan-Palast gefangen gehalten wurde, hatte er seinen Rücken kerzengerade gehalten und sich selten anders als sittsam und makellos präsentiert. Doch jetzt blutete er aus allen sieben Öffnungen seines Gesichts, und sein sonst so klares und gepflegtes Antlitz war ein einziges Durcheinander.

Chu Wanning schluckte einen Mundvoll Blut. „Du hast gesagt, dass Leben oder Tod nicht von mir abhängt... aber weißt du, Mo Ran..." Seine Stimme war heiser. „Du hast deinen Shizun doch unterschätzt. Wenn ich mich entschlossen habe, zu gehen, kannst du mich nicht aufhalten... egal, wie sehr du es versuchst..."

„Shizun... Shizun..." Mo Ran starrte ihn an, spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief, wie seine Kopfhaut taub wurde, als er hilflos aufschrie.

Chu Wanning lächelte, sein Gesichtsausdruck war fast erleichtert. „Ich habe in den letzten Jahren am Leben festgehalten, weil ich nicht aufgeben wollte, immer mit dem Gedanken... mit dem Gedanken, dir noch ein wenig Gesellschaft zu leisten, zu versuchen, dich zu lehren... keine weiteren Sünden zu begehen. Aber jetzt... jetzt..."

Mo Ran zitterte, als er den Mann in seinen Armen hielt. Er fühlte sich plötzlich schrecklich.

Furchtbar.

Ein solches Gefühl war seit mehr als zehn Jahren nicht mehr in ihm vorgekommen, aber jetzt kam es in einer Welle zurück und schnitt ihm fast das Herz heraus.

„Jetzt sehe ich, dass es vielleicht meinen Tod braucht, damit du... aufhörst, Böses zu tun..." Er verstummte, als ob er große Schmerzen hätte. Die Beschwörung von Jiuge war mehr gewesen, als sein Körper aushalten konnte. Seine Eingeweide zerfielen, und ein weiterer Schluck Blut floss über seine Lippen. Mo Ran, der ihn in seinen Armen hielt, landete am Ufer des Himmlischen-Sees. Er kanalisierte ohne Unterlass spirituelle Energie in Chu Wannings Brust, sein Gesichtsausdruck war wütend und verzweifelt.

Aber dieser mächtige Strom spiritueller Energie sank nur nutzlos in Chu Wannings Körper, wie Wasser durch ein Sieb. Mo Ran geriet in Panik. Taxian-Jun drückte den Mann in seinen Armen fest an sich und versuchte immer wieder vergeblich, ihm spirituelle Energie zuzuführen.

„Es ist zwecklos. Mo Ran, ich habe mein letztes bisschen Leben eingesetzt, um Jiuge zu beschwören. Das ist das Ende für mich. Aber wenn du...noch etwas Klarheit in deinem Herzen hast, dann bitte...verzeih..."

Wem verzeihen?

Xue Meng? Mei Hanxue? Dem Kunlun-Taxue-Palast oder der gesamten Kultivierungswelt? Ja, ja... Er würde ihnen allen verzeihen! Solange Chu Wanning lebte, solange dieser Mann, den er abgrundtief hasste, nicht auf diese Weise sterben musste.

Chu Wanning hob eine zitternde Hand, und eine kalte Fingerspitze ‒ wie aus Mitleid, aber auch fast zärtlich ‒ berührte leicht die Stirn von Mo Ran. „Dann verzeih bitte... verzeih dir selbst..."

Die Bösartigkeit in Mo Rans Gesicht erstarrte zu einem Fratzenbild.

Wem verzeihen... Während er im Sterben lag, um wen machte er sich da eigentlich Sorgen?

Verzeih... dir selbst...

War es das, was er gesagt hatte?

Während er Chu Wanning umarmte, war Taxian-Jun etwas ratlos, aber auch irgendwie erfreut; von Elend geplagt, aber auch vollkommen zufrieden.

„Mir selbst verzeihen?", murmelte Mo Ran, seine Augen waren blutunterlaufen. „Dein letzter Wunsch ist es, dass ich mir selbst verzeihe?" Er brach in Gelächter aus, und das Geräusch durchdrang den Himmel wie ein wütendes Inferno, das alle Vernunft und Rationalität wegbrannte. „Ha, ha, ha — ha, ha, hamir selbst verzeihen? Chu Wanning, du bist ja noch wahnsinniger als ich! Wie naiv - ha ha ha ha -" Die Hänge des Kunlun-Berges hallten von seinem irren, jämmerlichen Lachen wider. Verdreht, unerkennbar, erschreckend.

Chu Wanning schluckte einen weiteren Schluck Blut, umgeben vom Klang von Mo Rans Wahnsinn. Hätte er noch die Kraft dazu gehabt, wäre sein Gesichtsausdruck ein Ausdruck der Angst gewesen. Aber er hatte nicht einmal mehr die Kraft dazu, die Stirn zu runzeln. Nur das Paar Phönixaugen - die Augen, die mal scharf, mal entschlossen, mal hart, mal sanft waren - waren jetzt von Trauer erfüllt.

Klar wie der Schnee über dem Himmlischen-See, trübe wie der Frost auf den Dachziegeln.

Langsam wurden Chu Wannings Augen unscharf, und seine Pupillen weiteten sich. Langsam konnte er das, was einst hell und scharf wie ein Blitz gewesen war, nicht mehr deutlich sehen. Nach einer Weile sagte er mit leiser Stimme: „Lach nicht mehr, ich kann es nicht ertragen, dich so zu sehen..."

Mo Ran hatte keine Antwort.

„Mo Ran, alles, was in diesem Leben geschehen ist, ist darauf zurückzuführen, dass ich dich nicht gut unterrichtet habe, dass ich dich von Natur aus abscheulich und jenseits von HeilungHhHHHKSDHF genannt habe. Ich war es, der dir Unrecht getan hat. Ich werde dir nicht die Schuld geben, weder im Leben noch im Tod..." Auf Chu Wannings blutleerem Gesicht war keine Farbe mehr zu sehen, selbst seine Lippen waren blassblau. Mit großer Anstrengung hob er den Blick, um Mo Ran anzusehen. Er wollte weinen, aber stattdessen war es Blut, das aus seinen Augen floss und seine Wangen hinunterfloss. Chu Wanning weinte. „Hasst du mich wirklich so sehr..., dass du mir nicht einen Moment des Friedens gönnst..., nicht einmal am Ende...? Mo Ran, Mo Ran... tu das nicht mehr. Wach auf, kehr um... Kehr um..."

Wach auf...

Chu Wanning forderte Mo Ran auf, aufzuwachen. Doch er selbst versank mit weit aufgerissenen, hohlen Augen in einen endlosen Schlummer.

Mo Ran glaubte nicht ‒ er weigerte sich, zu glauben ‒ dass Chu Wanning einfach so sterben konnte. Dass der große Zongshi einer Ära, dieser hohe und erhabene Mann, sein Shizun, die Person, die er mehr verachtete als alle anderen, einfach so sterben konnte. In seinen Armen liegend, am Rande des Himmlischen-Sees, rot gefärbt von Blut. Nach und nach wurde er kalt, kalt wie Frost, gefroren wie Eis.

Das Gesicht von Chu Wanning war blutüberströmt. Mo Ran starrte eine Weile mit gesenktem Kopf, dann hob er den Ärmel, um es abzuwischen. Aber es war zu viel Blut. Je mehr er wischte, desto mehr verschmutzte er das einst klare, saubere Gesicht. Mo Ran presste die Lippen aufeinander und wischte noch fester. Alles, was er zurückbekam, war ein mit Blut verschmiertes Gesicht, Chu Wannings Gesichtszüge waren fast unkenntlich.

Endlich hörte er auf zu lachen. Er schloss die Augen und murmelte leise: „Diesmal hast du gewonnen, Chu Wanning. Ich konnte nicht verhindern, dass du stirbst." Er hielt inne, dann öffnete er die Augen wieder. Sie waren tief und dunkel, doch in diesem Abgrund loderte ein Feuer. „Aber du hast mich auch unterschätzt", fuhr er fort. „Ich kann dich nicht aufhalten, wenn du nicht leben willst, aber du kannst mich auch nicht aufhalten, wenn ich nicht will, dass du stirbst."

Mo Ran brachte Chu Wanning zurück zum Sisheng-Gipfel. Er sagte kein Wort über seinen Tod.

Zu diesem Zeitpunkt war er bereits so mächtig, dass er die Verwesung eines toten Körpers auf unbestimmte Zeit hinauszögern konnte. So bewahrte er Chu Wannings Körper im Roten-Lotus-Pavillon auf und zwang ihn, auf diese Weise ‘weiterzuleben‘. Er konnte einfach nicht akzeptieren, dass er den letzten Menschen auf der Welt getötet hatte, der sich noch um ihn sorgte. Solange er verhindern konnte, dass Chu Wannings Körper zu Asche zerfiel, solange er ihn noch jeden Tag sehen konnte, konnte er weiter glauben, dass Chu Wanning nicht tot ist. Es würde immer noch einen Ort geben, an dem er seinen wahnsinnigen Hass abladen konnte, einen Ort, dem er seine verdrehte Liebe anvertrauen konnte.

Taxian-Jun war schließlich vollkommen wahnsinnig geworden.

Nachdem Chu Wanning gegangen war, besuchte Mo Ran ausnahmslos jeden Tag den Roten-Lotus-Pavillon, um seinen Leichnam zu betrachten. Zuerst blitzten seine Augen bösartig auf, und er spuckte und fluchte vor dem Leichnam und sagte: „Chu Wanning, das ist es, was du verdienst."

„Du hast dich um jeden Menschen unter der Sonne gekümmert, nur nicht um mich, du Heuchler."

„Was für ein Meister bist du? Ich muss verdammt blind gewesen sein, um dich als meinen Meister zu nehmen! Du Bastard!"

Später fragte er unerbittlich, jeden Tag: „Warum schläfst du noch? Wann wachst du endlich auf?"

„Ich habe Xue Meng bereits gehen lassen, ist das nicht genug für dich? Steh schon auf."

Jedes Mal, wenn er solche Dinge sagte, fragten sich die Diener, die ihn begleiteten, ob er wirklich übergeschnappt und wahnsinnig geworden war.

Seine Frau, Song Qiutong, fragte sich das Gleiche. Die Aussicht darauf machte ihr angst, und so ergriff sie, als sie nach einer seltenen Nacht der Intimität neben Mo Ran lag, die Gelegenheit, zu sagen: „A-Ran, die Toten werden nicht zurückkommen. Ich weiß, du bist traurig, aber..."

„Wer ist traurig?"

Song Qiutong hielt inne. Sie war geschickt darin, Gesichter zu lesen, erst recht nach den Jahren, die sie an der Seite von Mo Ran verbracht hatte. Jeder ihrer Schritte war vorsichtig, als würde sie sich auf dünnem Eis bewegen. Als sie seine schlechte Laune sah, verstummte sie augenblicklich, senkte den Blick und sagte: „Diese Hier hat sich falsch ausgedrückt."

Doch dieses Mal ließ Mo Ran sie nicht so einfach davonkommen. „Nein, nein", presste er hervor und kniff die Augen zusammen. „Du hast es schon ausgespuckt, also raus damit. Na los, sag es mir: Wer ist traurig?"

„Eure Majestät..."

Mo Rans dunkle Augen rollten wie vom Donner gerührt. Abrupt setzte er sich auf und packte Song Qiutong an ihrem zarten Hals. Mit einer Hand hob er die Frau, bei der er gerade noch gelegen hatte, hoch und warf sie vom Bett.

Sein Gesicht hatte sich zu etwas Gefährlichem und Bestialischem verzogen. „Was meinst du damit, die Toten kommen nicht zurück ‒ wer ist tot? Wer kommt nicht mehr zurück?" Mo Ran presste jedes Wort zähneknirschend hervor, aggressiv und nachdrücklich. „Niemand ist tot, niemand muss zurückkommen, und niemand ist traurig!"

Die Lippen von Song Qiutong bebten. Sie wollte protestieren, aber kaum hatte sie die Worte ‘Roter-Lotus-Pavillon‘ ausgesprochen ‒ nur diesen Halbsatz ‒ und Mo Ran sah rot.

„Was willst du damit sagen? Im Roten-Lotus-Pavilion ist niemand außer Chu Wanning, und der schläft! Was genau willst du damit andeuten?! Schlampe!"

Der Anblick seiner schrecklichen Wut ließ Song Qiutongs Herz stocken. Bei diesem Tempo wusste sie nicht, was er in seinem Wahnsinn tun würde. Also schlug sie alle Vorsicht in den Wind und setzte alles aufs Spiel, indem sie ihre Stimme erhob und sagte: „Eure Majestät, der Mann, der im Roten-Lotus-Pavillon liegt, ist bereits tot, und doch verbringt Ihr Euch dort jeden Tag. Wie kann... wie kann diese Hier sich nicht sorgen?"

Sie wählte ihre Worte mit Bedacht, um die Schuld von sich zu weisen, indem sie ihr egoistisches Verlangen als Sorge um Mo Ran darstellte.

Mo Ran starrte sie an, und sein Atem beruhigte sich allmählich, als ob ihre Worte ihn irgendwie erreicht hätten. Er besänftigte seine Wut und brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen. „Ich habe dir Sorgen bereitet", sagte er.

Song Qiutong stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. „Diese Hier wünscht sich nur das Wohlergehen Eurer Majestät und würde gerne dafür sterben. Eure Majestät ist sehr mitfühlend, aber ihr dürft nicht so verzagt sein."

„Dann sage mir, was denkst du, wie dieser Ehrwürdige sein sollte?"

„Verzeiht, dass ich das sage, ich meine es nur gut mit Eurer Majestät, aber es ist Zeit, Chu... Chu-Zongshi zu begraben. Er ist bereits von uns gegangen, und seinen leeren Körper so zu belassen, wird Eurer Majestät nur noch mehr Schmerz bereiten."

„Und? Hast du noch mehr zu sagen oder nicht? Du solltest dir alles von der Seele reden."

Als sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck entspannte, setzte sich Song Qiutongs Herz, das ihr bis zum Hals hochgesprungen war, wieder an seinen Platz in ihrer Brust. Sie senkte ihre Wimpern und legte den Kopf leicht schief; sie wusste, dass sie so Shi Mingjing am ähnlichsten sah.

Song Qiutong wusste genau, dass Shi Mingjing Mo Weiyus Schwäche war. Was sie nicht verstand, war, warum sie, ganz gleich, wie sie sich kleidete wie er oder wie sorgfältig sie sein Verhalten imitierte, immer noch nicht Mo Rans Interesse wecken konnte. Obwohl dieser temperamentvolle Mann gerne mit ihr zusammen war, berührte er sie nur, wenn er sehr niedergeschlagen oder sehr betrunken war. Song Qiutong vermutete, dass Mo Ran vielleicht nicht wirklich auf Frauen stand. Was auch immer der Grund sein mochte, es lag bestimmt nicht daran, dass er nicht auf Shi Mingjing stand ‒ alle auf dem Sisheng-Gipfel wussten, dass der Mann, der vor Jahren gestorben war, die wahre Liebe von Kaiser Taxian-Jun war.

Was zum Teufel war Chu Wanning im Vergleich dazu?

Song Qiutong glaubte, sie sei nichts weiter als ein Spielzeug, an dem Taxian-Jun seine Lust ausließ, ein Spielzeug, das er schon längst satthatte zu ficken. Chu Wanning mochte sein Leben für Mo Weiyus Unruhe und Erinnerung geopfert haben, aber sie war sich sicher, dass es sich höchstens um eine momentane Schuld, um eine vorübergehende Unterbrechung der Routine handelte. Sie hatte Vertrauen in ihr Gesicht - dieses Gesicht, das dem von Shi Mingjing so ähnlich sah. Diese Person im Roten-Lotus-Pavillon, weder lebendig noch tot, konnte sie allein auf dieser Grundlage niemals übertrumpfen.

Aber Mo Ran durfte nicht in diesem Wahnsinn verharren. Die Welt befand sich in diesen Tagen im Chaos, links und rechts entstanden Kriege, und sie hatte Angst, dass sie ihr Pferd vor den falschen Wagen gespannt haben könnte. Sie war nicht mehr jung. Wenn Mo Ran seine Stellung verlieren sollte, würde sie wohl kaum einen anderen himmelhohen Baum finden, auf den sie klettern konnte. Deshalb hoffte sie aufrichtig und von ganzem Herzen, dass Mo Ran sich zusammenreißen und seinen Wahnsinn aufgeben würde.

Sie überlegte, wog die Risiken gegen die Vorteile ab. Schließlich nahm sie den Mut zusammen und sagte: „Und wenn Chu-Zongshi nicht mehr ist, wird es niemanden mehr geben, der des Roten-Lotus- Pavillons würdig ist."

„Richtig. Fahre fort."

„Diese Hier denkt, dass der Pavillon in diesem Fall nur dazu dienen wird, Eure Majestät an die Vergangenheit zu erinnern, also..."

„Und?" Mo Ran verengte seine Augen.

„Vielleicht wäre es also am besten, den Roten-Lotus-Pavillon nach dieser Sache zu versiegeln. Ein Pavillon mit nur einem Meister gibt eine gute Geschichte ab."




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4 Kommentare:

  1. Die Erinnerung macht mich sehr traurig. So verzweifelt Mo Ran damals war und jetzt wiederholt es sich wieder.

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    1. Leider, aber eigentlich war dieses Opfer von Chu Wanning notwendig, damit die beiden ihren Missverständnissen entkommen und später endlich auf eine andere Art und Weise kommunizieren können.

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  2. Mal sehen ob ich hier ein paar mehr Worte zusammenkratzen kann. Man wusste ja, das Mo Ran ein Wahnsinniger war. Aber hier konnte man es wieder mehr als deutlich erkennen. Chu Wanning hat es bis zu seinem letzten Atemzug versucht, ihn zur Vernunft zu bringen. Aber dafür ist es schon lange zu spät. So vieles das schief gegangen war und den Wahnsinn in Mo Ran jetzt nur steigen lässt.
    Song Quitong versucht es ebenfalls, auch wenn sie merkt, das sie gerade auf sehr dünnem Eis ist. Ich bin nicht sicher, ob ihre Worte zu ihm durchdringen werden, oder ob sie damit ihr Todesurteil unterschrieben hat.

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    1. Mit seinem Tod hat Chu Wanning versucht Mo Ran zur Vernunft zu bringe, da hast du recht, auch wenn er bestimmt geahnt hat, wie sehr Mo Ran dieses Opfer zerstören wird, aber am Ende hat er sein Ziel erreicht, Mo Ran hat aufgehört, so grausam zu sein und ist komplett in der Trauer versunken.
      Song Qiutong will Mo Ran eher aus eigennützigen Gründen zur Vernunft bringen, immerhin hätte sie das ja auch schon viel früher probieren können und hat es nicht getan, weshalb ich ihr hier das mal nicht so hoch anrechne wie bei Chu Wanning.

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