Shizun, beachte mich.
Das waren die Worte, die Mo Ran gesprochen hatte, als sie
sich zum ersten Mal unter dem Himmelsdurchdringenden-Turm getroffen hatten.
Damals waren Chu Wannings Augen geschlossen gewesen. Als Mo Ran ihn rief,
flatterten seine Wimpern auf.
Dies waren auch die Worte, die Mo Ran sagte, als sie sich
zum letzten Mal im Roten- Lotus- Pavillon trennten. Damals waren auch Chu
Wannings Augen geschlossen gewesen. Mo Ran rief nach ihm, aber er hob nie
wieder den Kopf.
Dieser eine Satz schwebte ein halbes Leben lang, vom
Himmelsdurchdringenden-Turm bis zum Rand des Lotusteichs, und zerfiel
schließlich zu Staub. All die Jahre des Hasses und der Liebe verflüchtigten
sich und wurden kalt.
Mo Ran hatte seinen letzten Krug Birnenblüten-Weißwein
ausgetrunken und stieg am Vorabend seines letzten Tages vom Südgipfel des
Sisheng-Gipfels hinab. Am nächsten Morgen erfuhr die Rebellenarmee, die in den
Wushan-Palast einmarschiert war, dass Taxian-Jun, das Unheil, das die Welt in
den letzten zehn Jahren heimgesucht hatte, sich im Alter von zweiunddreißig
Jahren das Leben genommen hatte.
Zwei Leben waren vergangen.
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Mo Ran öffnete seine Augen. Er hatte die Nacht unter dem
blühenden Baum vor dem Himmelsdurchdringenden Turm durchgeschlafen und wachte
benommen und verloren auf, ohne zu wissen, wo er sich befand. „Shizun...",
murmelte er abwesend, „beachte mich..."
Erst dann erinnerte er sich, dass Chu Wanning auch in
diesem Leben nicht mehr da war.
In seinem früheren Leben hatte sich Mo Ran daran gewöhnt,
dass jeder Tag ein bitterer Kampf war. Damals war Chu Wanning derjenige
gewesen, der ihn bis zum Ende begleitet hatte. Er wollte in diesem Leben nicht
mehr dieser gemeine Mensch sein, aber jetzt würde Chu Wanning nicht mehr
erleben, was aus ihm wurde. Vielleicht konnte es der Himmel selbst nicht
ertragen, oder vielleicht war es einfach Schicksal ‒ Chu Wanning hatte sich im
vergangenen Leben unerträglich vor ihm geekelt, also war er in diesem Leben der
Erste, der sich verabschiedete.
Mo Ran legte seinen Arm über seine Augen und unterdrückte das
Engegefühl in seinem Hals.
Er hörte Xue Zhengyong in der Ferne verzweifelt schreien.
Sein Onkel suchte nach ihm und rief: „Ran-er ‒ wo bist du? Ran-er!"
Auch Shi Mei rief nach ihm: „A-Ran, wo bist du... Beeil
dich und komm raus…"
„Ran-er, komm zurück und leiste Yuheng Gesellschaft! Mach
keine Dummheiten, Ran-er!"
Leiste Yuheng Gesellschaft... Leiste ihm Gesellschaft...
Mo Ran schleppte sich vom Boden hoch und taumelte auf die
Stimmen zu. Er durfte nicht zusammenbrechen, er durfte nicht zusammenbrechen ‒
es gab noch so viel zu tun. Sie hatten die Person, die hinter all dem steckte,
noch immer nicht gefunden, ganz zu schweigen davon, dass sich der Himmlische Riss
jederzeit wieder öffnen konnte. Der Sisheng-Gipfel hatte bei der Katastrophe
schwere Verluste erlitten, und es gab unzählige Dinge, um die man sich kümmern
musste. Xue Meng war untröstlich vor Kummer, so sehr, dass er sich nicht einmal
erheben konnte. Mo Ran durfte nicht auch noch zusammenbrechen.
Also ertrug Mo Ran es und zwang sich, die Scherben
aufzusammeln. Er sagte sich: Es tut nicht weh, es tut nicht weh. Es war
nicht das erste Mal, dass er den Tod von Chu Wanning miterlebt hatte. Es tut
nicht weh.
Es tut nicht weh...
Aber wie könnte es nicht wehtun? Über dreitausend Schritte
war Chu Wanning gekrochen, hatte ihn auf dem Rücken getragen ‒ wie sollte das
nicht wehtun?
Er hatte seine letzten Reserven an spiritueller Energie
aufgebraucht, er hatte alles Mo Ran gegeben, wie sollte das nicht wehtun...
Er hatte eine identische Verletzung erlitten, aber um
seinen Schüler nicht zu belasten, hatte er eine herzlose Miene aufgesetzt und
war allein gegangen. Wie konnte das nicht wehtun...
Und in seinem früheren Leben hatte Chu Wanning die gleiche
Verletzung erlitten wie Shi Mei. Nur hatte er nichts darüber gesagt. Er hatte
es nicht gesagt, und Mo Ran hatte nicht gefragt. Er hatte Chu Wanning wütend
angebrüllt, ihm unendlichen Hass entgegengeschleudert und die Wan Tans zu Boden
geworfen, die Chu Wanning, der sich noch nicht von seinen eigenen Verletzungen
erholt hatte, so hart für ihn zubereitet hatte. Vor seinen Augen bückte sich
Chu Wanning, senkte den Kopf, hob die Wan Tans einen nach der anderen auf und
warf sie weg.
Wie konnte das nicht wehtun... Wie konnte das nicht
wehtun?!
Er hatte Chu Wannings Herz herausgerissen! Wie konnte das
nicht wehtun?! Wie konnte es nur...
Mo Ran konnte keinen Schritt weiter gehen. Er stand lange
an Ort und Stelle und versuchte, diese Gefühle zu unterdrücken und seine Ruhe zu
bewahren. Sein ganzer Körper zitterte. Es tat weh. Er vergrub sein Gesicht in
den Händen, biss sich auf die Lippe und schluckte sein Schluchzen mit dem Blut
herunter.
Es dauerte sehr lange, bis er sich, wenn auch nur knapp,
wieder aufraffen konnte. Er hob den Kopf, die Augen rot umrandet, und holte
tief Luft. Dann ging er langsam die Treppe hinunter.
Er durfte nicht zusammenbrechen.
„Onkel."
„Ran-er, wo warst du? Ich habe mich zu Tode gesorgt! Wie
soll ich Yuheng im Jenseits begegnen, wenn dir etwas zustößt?"
„Es war meine Schuld", sagte Mo Ran. „Mir geht es
jetzt gut. Es tut mir leid, dass ich Onkel Sorgen bereitet habe."
Xue Zhengyong schüttelte den Kopf. Er wusste nicht so
recht, was er sagen sollte, also klopfte er Mo Ran nur auf die Schulter. Nach
einem langen Moment sagte er: „Es ist nicht deine Schuld. Es ist nicht deine
Schuld, du bist schon so viel stärker als Meng-er..." Er seufzte.
„Wo ist Xue Meng?", fragte Mo Ran heiser.
„Krank. Er hat hohes Fieber. Er hat gerade seine Medizin
getrunken und ist eingeschlafen. Er ist untröstlich, wenn er wach ist, und
weint den ganzen Tag... Schlaf wird ihm guttun." Xue Zhengyong sah
erschöpft aus. „Der Himmlische Riss der Unendlichen Höllen hat die ganze
Kultivierungswelt in Aufruhr versetzt. Sogar das obere Kultivierungsreich
schickt jetzt Leute, um die Sache zu untersuchen. Aber wer auch immer
dahintersteckt, hat seine Spuren unglaublich gut verwischt. Die
Schmetterlingsstadt wurde in der blutigen Schlacht praktisch eingeebnet, und es
war keine Spuren zu finden."
Mo Ran war nicht im Geringsten überrascht, dies zu hören.
Die Fähigkeiten dieses Menschen überstiegen eindeutig das, was alle, auch er
selbst, erwartet hatten. Jemand, der in der Lage war, Chu Wanning das Leben zu
nehmen, würde offensichtlich nicht so unvorsichtig sein, Spuren zu
hinterlassen. „Was hat das obere Kultivierungsreich vor?"
„Vertreter jeder Sekte halten auf dem Spirituellen Berg ein
Treffen ab, um die Angelegenheit zu besprechen", antwortete Xue Zhengyong.
„Ich hatte vor, morgen dorthin zu gehen... aber ich mache mir Sorgen, wenn
Meng-er in diesem Zustand ist..."
Er hatte recht ‒ selbst der weltbeste Zongshi, Chu Wanning,
hatte bei dem Zwischenfall in der Schmetterlingsstadt sein Leben verloren. So
nachlässig das obere Kultivierungsreich auch sein mochte, sie konnte es sich
nicht mehr leisten, einfach nur zuzuschauen.
Wer hat die Zauber gesprochen, die die Barriere
geöffnet hat? Worauf hat er es abgesehen? Was ist sein nächster Schritt?
Diese Fragen kreisten in ihren Herzen wie Aasgeier. Alle
wollten Antworten, aber die umfangreichen Ermittlungen hatten nichts ergeben.
Sie hatten keine andere Wahl, als miteinander zu kooperieren.
„Mach dir keine Sorgen, Onkel", sagte Mo Ran. „Ich
werde Tante helfen, sich um die Dinge in der Sekte zu kümmern, während du weg
bist."
„Das ist gut, das ist gut..." Xue Zhengyong seufzte. „Ich
wünschte, ich müsste dich damit nicht belasten..."
Mit Xue Zhengyongs Abreise und Xue Mengs Versunkenheit in
die Trauer fielen all die angehäuften Schriftrollen mit Papierkram und die
damit verbundenen Aufgaben auf Mo Ran zurück. Er stürzte sich mit ganzem Herzen
in die Arbeit und wagte es nicht, sich auch nur einen Moment auszuruhen. Wenn
er innehielt, um sich auszuruhen, um nachzudenken, würden ihn der Kummer und
das Bedauern in den Abgrund ziehen und seine gebrochene Seele quälen. Er
wünschte sich, er könnte seinen Kopf in Schriftrollen vergraben, tagein,
tagaus, und sei es nur, um die endlosen Qualen und Schuldgefühle zu ignorieren,
die sein Herz quälten.
Als sich die Unendlichen Höllen geöffnet hatten, hatte die
Yin-Energie das Reich der Sterblichen überflutet, und alle Arten von Ungeheuern,
die lange unterdrückt worden waren, hatten die Gelegenheit ergriffen, zu
entkommen und im ganzen Land Verwüstung anzurichten. Die Auftragsbriefe, in
denen um Hilfe vom Sisheng-Gipfel gebeten wurde, hatten sich praktisch zu einem
kleinen Berg aufgetürmt. Mo Ran war damit beschäftigt, sich um all das zu
kümmern, vergaß zu schlafen und ließ die Mahlzeiten ausfallen. Er betrat die
Loyalitätshalle oft schon bei Tagesanbruch und blieb bis spät in die Nacht,
bevor er in sein Quartier zurückkehrte, um sich auszuruhen.
Aber selbst wenn er in diesem Meer von Papierkram versunken
war, wurde er unversehens von Chu Wannings Splittern gestochen, die er
zurückgelassen hatte.
Die Region Qingjiang ist in letzter Zeit von
Unruhen heimgesucht worden, und die meisten der zweiundachtzig Familien im Dorf
Fengling sind alt und kränklich und haben keine Mittel, sich zu verteidigen.
Wir haben das Glück, einen Roboter des Wächters der Heiligen Nacht zu besitzen,
der von eurem geschätzten Sektenältesten hergestellt wurde, um die bösen
Geister vorerst abzuwehren. Aber das ist keine langfristige Lösung, deshalb
möchten wir darum bitten...
Ein Tropfen Wachs glitt langsam an der Kerze herunter, und
der Docht knisterte. Mo Ran schreckte auf; er starrte schon seit einiger Zeit
mit leerem Blick auf den Brief und fuhr mit dem Finger immer wieder über die
Worte des ‘Wächters der Heiligen Nacht‘. Vor seinem geistigen Auge sah
er Chu Wanning im Roten-Lotus-Pavillon, das Haar zu einem Pferdeschwanz
zurückgebunden und eine Schleiffeile im Mund hielt, während er sich auf das
Ölen eines Roboters konzentrierte.
Mo Ran holte tief Luft. Er drückte seine Finger auf seine
Stirn und rieb sie leicht. Plötzlich hörte er ein Klopfen.
„Shi Mei?"
Der schöne junge Mann in einer leichten, einfachen weißen
Robe kam herein und trug ein Tablett. Er stellte es neben Mo Rans Schriftrollen
ab, dann krempelte er die Ärmel hoch und regte das Kerzenlicht wieder an, damit
es hell wurde. „A-Ran", sagte er sanft, „du hast den ganzen Tag
gearbeitet. Nimm dir etwas zu essen."
„In Ordnung..." Mo Ran zwang sich zu einem Lächeln,
legte seine Schriftrolle weg und knetete weiter den pochenden Schmerz zwischen
seinen Brauen.
„Ich habe eine Schüssel mit Ginseng-Hühnersuppe und ein
paar Beilagen gemacht." Shi Mei stellte die Teller ab und fühlte die
Temperatur am Rand der Schüssel. „Oh gut, sie ist noch warm."
Während sie aßen, bemerkte Shi Mei eine lose Haarsträhne,
die vor dem hübschen, müden Gesicht hing, und griff danach, um sie
zurückzustecken. „A-Ran."
„Hm?"
„An jenem Tag... gab es etwas, das du mir sagen wolltest?"
Mo Rans Gedanken waren zerstreut, und er brauchte einen
Moment, um zu verstehen, was Shi Mei fragte. Er warf einen Blick auf Shi Mei. „Welcher
Tag?"
Shi Mei schürzte die Lippen und senkte den Blick. Er
schwieg eine Zeit lang, dann antwortete er: „Der Tag des himmlischen Risses."
Mo Ran wartete, bis er fortfuhr.
„Du sagtest, du würdest Shizun helfen, den Himmlischen Riss
zu reparieren, und dass es da etwas gäbe, dass du mir erzählen könntest, wenn
du zurückkommst." Shi Mei senkte den Kopf, und seine Stimme verstummte. Im
Schein der Kerze schienen seine zarten, schneeweißen Ohren ein wenig rosa zu
sein.
Mo Ran starrte ihn lange an, brachte aber kein einziges
Wort heraus. Er wusste ohne jeden Zweifel, dass er Shi Mei innig liebte. Aber
jetzt, in diesem Moment, war er wirklich nicht in der Stimmung, nicht im
Geringsten. Mo Ran war schamlos und unmanierlich. Was andere sagten, war ihm
völlig egal, und Dinge wie Moral und Etikette waren ihm völlig fremd.
Aber das bedeutete nicht, dass er herzlos war.
Eine lange Sekunde herrschte Schweigen. Als Mo Ran
schließlich sprach, war seine Stimme sanft. „Entschuldigung. Ich fühle mich im
Moment wirklich schlecht, und ich...glaube nicht, dass dies der richtige
Zeitpunkt ist. Also, was die Sache angeht ‒ ich werde es dir ein anderes Mal
erzählen, okay?"
Shi Mei riss den Kopf hoch, seine schönen Augen erschraken.
Mo Ran presste ein Kichern hervor und hob die Hand. Er
zögerte eine Sekunde, dann tätschelte er Shi Meis Kopf. „Ich bin ein bisschen
dumm, und in letzter Zeit gab es so viele Dinge zu erledigen, dass ich nicht
weiß, wann ich einen ruhigen Moment haben werde, um meine Gedanken zu sammeln.
Ich will nicht leichtfertig sein."
Selbst die Wärme der Kerze konnte nicht darüber
hinwegtäuschen, dass Shi Meis Gesicht allmählich bleich wurde. „Leichtfertig?"
Er hielt inne, dann lächelte er. „A-Ran, damals ging es um Leben und Tod. Ich
hätte gedacht, dass du dir alles, was du in einem solchen Moment sagen würdest,
gut überlegt hättest."
„Das habe ich." Mo Ran runzelte die Stirn. „Ich habe
lange darüber nachgedacht, und es hat sich nie geändert, aber..."
„Aber?" Shi Mei beugte sich vor.
Mo Ran zögerte. Schließlich sagte er: „Aber nicht jetzt."
Seine Hände ballten sich zu Fäusten in seinen Ärmeln. „Nicht
jetzt, Shi Mei. Du weißt es noch nicht, aber es ist etwas sehr Wichtiges. Ich
will es nicht überstürzen und es dir zu einem so unglücklichen Zeitpunkt sagen,
ich‒"
„Junger Meister!" Plötzlich stürmte ein junger Mann
unangekündigt herein. Als er sah, dass derjenige, der die Sektenangelegenheiten
in der Loyalitätshalle leitete, Mo Ran war, verbeugte er sich eilig und
korrigierte sich: „Ah, Mo-Gongzi."
Bei dieser Unterbrechung verblasste die leichte Röte auf
Shi Meis Wangen. Er zupfte an seinen Ärmeln und lehnte sich in seinem Stuhl
zurück, wobei er ein mildes, bescheidenes Aussehen annahm.
Mo Ran sah auf, ohne die Veränderung in Shi Meis Verhalten
zu bemerken. „Was gibt es?"
„Ich melde mich. Da ist ein geschätzter Gast am Eingang der
Sekte."
„Ein geschätzter Gast?", echote Mo Ran. „Jeder, der
von den zehn großen Sekten Rang und Namen hat, ist gerade beim Spirituellen Berg.
Woher kommt dieser geschätzte Gast?"
Der Schüler schien sowohl ängstlich als auch aufgeregt zu
sein. Sein Gesicht errötete und er stammelte einige Sekunden lang
unzusammenhängend, bevor er schließlich herausplatzen konnte: „Es ist Meister Huaizui
vom Wubei-Tempel!"
„Was?!" Selbst der ehemalige Kaiser Taxian-Jun konnte
nicht anders, als aufzuspringen.
Auch Shi Mei war erschrocken. „Meister Huaizui?"
Mo Ran hatte guten Grund, schockiert zu sein ‒ Meister Huaizui
war in der Kultivierungswelt praktisch eine Legende.
Dieser Mann hatte vor langer Zeit die Erleuchtung erlangt.
Eigentlich hätte er aufsteigen müssen. Aber als sich die großen Tore des
himmlischen Reiches für ihn öffneten, hatte er seine Handflächen aneinandergepresst
und gesagt, dass er nicht mit dem Reich der Sterblichen brechen könne, dass er
seine lebenslange Besessenheit nicht loslassen und sich nicht von den Sünden
der Vergangenheit reinwaschen könne. Am Ende verdunkelte sich das himmlische
Licht, die Lotusblüte verwelkte, und Meister Huaizui schlenderte in seiner verschlissenen
Mönchsrobe von der Unsterblichkeit fort, während sein Stab leicht auf den Boden
klopfte.
Nachdem er seine Chance, aufzusteigen und unsterblich zu
werden, nicht wahrgenommen hatte, zog er sich in den Wubei-Tempel zurück, um
nachzudenken. Ein Jahrhundert verging wie ein Wimpernschlag. Hundert Jahre lang
hatte die Kultivierungswelt seinen Namen gehört, ihn aber nie zu Gesicht
bekommen. Die Zahl der noch lebenden Älteren, die ihn vor seiner
Abgeschiedenheit getroffen hatten, konnte man an einer Hand abzählen.
In seinem früheren Leben hatte Mo Ran das ganze Land auf
den Kopf gestellt und war trotzdem nicht in der Lage gewesen, diesen Meister Huaizui
zu treffen. Huaizui war zu alt gewesen und an einem regnerischen Frühlingstag
gestorben, ein Jahr bevor Mo Ran die Spitze der Menschenwelt erklommen hatte.
Niemand wusste, wie alt er gewesen war, als er starb.
Doch wie unerwartet ‒ in diesem wiedergeborenen Leben war
Meister Huaizui mitten in der Nacht von sich aus aufgetaucht.
Unzählige Gedanken schossen Mo Ran innerhalb eines
Augenblicks durch den Kopf ‒ obwohl er noch nicht wusste, was er hier zu tun
hatte, erinnerte sich Mo Ran sofort an gewisse Gerüchte über Meister Huaizui.
Huaizui... Huaizui! Wie konnte er Meister Huaizui nur
vergessen?!
Als Shi Mei im letzten Leben starb, hatte Mo Ran keine
Ahnung, dass es in der Kultivierungswelt einen solchen Weisen gab. Erst später,
als er Kaiser war, erfuhr er von seinen Untergebenen, dass es in dieser Welt
jemanden gab, der die Wiedergeburt, eine der drei verbotenen Techniken,
beherrschte.
Diese Person war Huaizui.
Er hatte in aller Eile Leute zum Wubei-Tempel geschickt, um
die Anwesenheit des Weisen zu erbitten, damit er die Seele von Shi Mei
zurückholen könne. Aber die Leute, die er geschickt hatte, kehrten mit der
Nachricht zurück, dass der große Meister bereits verstorben war, und mit ihm Mo
Rans letzte Chance, Shi Mei wiederzubeleben.
Aber in diesem Moment war diese legendäre Person noch am
Leben! Er war noch am Leben! Wie konnte er das nur vergessen! Wie konnte er
das vergessen?
Mo Rans Herz schlug heftig, und er zitterte am ganzen
Körper. Seine Augen leuchteten auf und er sagte hastig: „Schnell, bitte den
großen Meister herein!"
Bevor der Schüler antworten konnte, änderte Mo Ran seine
Meinung. „Eigentlich werde ich ihn selbst hereinbitten." Aber er war erst
zwei Schritte gegangen, als plötzlich ein gelbes Licht von außerhalb der Halle
aufleuchtete.
Weder die Kerze noch ihre Flamme zitterten. Es gab nicht
den Hauch eines Windes. Niemand, nicht einmal Mo Ran mit seinen scharfen Augen,
hatte ihn hereinkommen sehen. Doch ein Mönch mit einem Bambushut und einer
abgenutzten Robe stand nun in der Loyalitäts-Halle. Er hatte sich blitzschnell
bewegt und blieb direkt vor Mo Ran stehen, der angesichts der plötzlichen Nähe
erschrak.
„Dieser hier ist schon so spät in der Nacht gekommen und will
Mo-Shizhu nicht noch weiter belästigen."
Eine tiefe, sanfte Stimme drang unter dem Bambushut hervor und ließ sowohl Mo Ran
als auch Shi Mei aufschrecken. Wie konnte das die Stimme eines hundertjährigen
Mannes sein?
Mo Ran hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der
Mönch seinen Bambushut abnahm. In der kerzenbeleuchteten Halle sah er nicht
älter als dreißig Jahre aus, hatte ein angenehmes Aussehen und ein mildes
Benehmen. Seine Augen waren hell und scharf, doch statt Bedrohung
auszustrahlen, wirkten sie ruhig und klar, wie die Reflexion von Licht im
Wasser.
„Ihr seid...?"
Der Mönch presste seine Handflächen zusammen und verbeugte
sich tief. „Amitabha, dieser bescheidene Mönch
ist Huaizui."
Niemand hatte erwartet, dass Meister Huaizui, der
mindestens hundert Jahre alt war, jünger aussehen würde als Xue Zhengyong.
Einen Moment lang herrschte nur fassungsloses Schweigen. Aber Mo Ran kannte
sich aus, wenn es um Kultivierung ging. Huaizui war jemand, der den Aufstieg
abgelehnt und sich stattdessen entschieden hatte, im Reich der Sterblichen zu
bleiben Der
einzige Unterschied zwischen diesem Mann und einem Unsterblichen war der letzte
Schritt, der darin bestand, seinen sterblichen Körper
abzulegen und sich der himmlischen Prüfung zu
unterziehen. Nachdem er diesen Gedankengang zu Ende gedacht hatte, entspannte
sich Mo Ran ein wenig, obwohl er immer noch nicht den Blick von Huaizui
abwenden konnte.
Huaizui wollte niemanden stören, und so setzten sie sich zu
dritt in die Loyalitätshalle. Mo Ran schenkte dem großen Meister eigenhändig
Tee ein. Huaizui nahm ihn an und murmelte seinen Dank, trank aber nicht. Er
stellte den Tee auf dem kleinen Sandelholztisch ab und hob langsam den Kopf.
Er sprach in höflichem und sanftem Ton, kam aber direkt zur
Sache: „Mo-Shizhu, bitte verzeiht diesem bescheidenen Mönch, dass er so direkt
ist, aber der Grund für meinen heutigen Besuch ist ein alter Bekannter."
Mo Rans Herz begann zu rasen. Seine Sicht verschwamm, und
seine Finger gruben sich mit solcher Kraft in die Tischkante, dass sie fast
zerbrach. Er starrte konzentriert auf das Gesicht von Meister Huaizui, während
ihm Worte aus seinem vergangenen Leben wie Schneeflocken durch den Kopf
wirbelten.
Es gibt ein Gerücht, dass jemand die
Wiedergeburt, eine der drei verbotenen Techniken, erfolgreich angewendet hat.
Aber es ist nur ein Gerücht. Man weiß nicht, ob etwas Wahres dran ist...
Wo ist dieser Meister Huaizui? Ich zahle jeden
Preis, um Shi Mei zurückzubringen!
Um Eurer Majestät zu antworten: Huaizui ist
schon vor vielen Jahren verstorben. Er hat in seinem Leben nichts geschrieben,
und über die Wiedergeburt sagte er nur: ‘Das Schicksal zu ändern, bedeutet, den
Willen des Himmels zu missachten, und birgt unermessliche Gefahren.‘ Sonst hat
er nichts weiter hinterlassen...
Die Worte strömten an seinen Ohren vorbei.
Meister Huaizui hatte ein unergründliches
Verständnis von Sterblichkeit und Reinkarnation.
Es heißt, dass er mit dem Geisterreich zu tun
hatte. Wenn er noch leben würde, könnte Mingjing-Shixiong vielleicht aus dem
Grab zurückkehren, aber leider...
Meister Huaizui war wie ein Geist, der in der
Welt der Lebenden verweilt. Zweifellos hatte er seine Hand in allem, was mit
Yin und Yang zu tun hatte.
Mo Ran holte tief Luft und war überrascht, dass seine
Stimme leicht zitterte. „Ein alter Bekannter... Ein alter Bekannter...",
murmelte er, während seine eigenen Augen in die klaren von Meister Huaizui
blickten. Mo Rans Rücken war schweißnass. Er fragte mit so leiser Stimme, dass
sie fast unhörbar war: „Wer ist dieser alte Bekannte?"
Der Mönch erhob sich langsam. In dem schwachen Kerzenlicht
bildete sich kein Schatten unter seinen Füßen. Die Ärmel seiner schlichten,
dünnen gelben Robe hingen tief. Die Robe war offensichtlich abgenutzt, aber sie
war völlig glatt und faltenfrei und wehte leicht im Wind wie die flackernden
Umrisse eines Geistes. Dieser große Meister war wirklich unergründlich.
Mo Ran konnte praktisch das Klopfen seines eigenen Herzens
in seinen Ohren hören. Unbewusst stellte er sich neben Huaizui, und die beiden
sahen sich an. „Großer Meister.“ Hätte ein Spiegel vor ihm gestanden, hätte er
das Licht der Hoffnung gesehen, das unaufgefordert auf seinem Gesicht
aufleuchtete, und den flehenden Blick, der ihm folgte. „Wer ist dieser altee Bekannte..."
War er es? War er es?
Huaizui senkte seine Wimpern und seufzte, während er seine
Handflächen wieder zusammenpresste. „Mein Schüler Chu Wanning ist vor sieben
Tagen umgekommen. Heute ist die Nacht, in der seine Seele zurückkehren wird.
Dieser bescheidene Mönch kann es nicht ertragen, einen so jungen Menschen
wegzuschicken, und kommt zum Sisheng-Gipfel, um Mo-Shizhus Mitleid zu erflehen:
Bitte gebt diesem alten Mönch seinen Schüler zurück."
Erklärungen:
Shizhu: ‘Wohltäter, Almosenspender‘.
Eine respektvolle Bezeichnung, die von buddhistischen Mönchen und taoistischen
Priestern verwendet wird, um Laien anzusprechen.
Amitabha ist ein Buddha, der in China besonders verehrt
wird. Sein Name wird häufig im Gebet oder im Lob ausgerufen, ähnlich wie bei
uns ‘Halleluja‘.
…sterblichen Körper abzulegen…Himmlische Prüfung: Nach der Kultivierung zur Erleuchtung muss ein Kultivierer zunächst seine sterbliche Hülle ablegen und eine oder mehrere himmlische Prüfungen durchlaufen, bevor er zu einem Unsterblichen transzendieren kann.
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Man kommt aus dem schweren seufzen gar nicht mehr raus. Kapitel, nach Kapitel wird es immer drückender. Mo Ran leidet, jeder leidet, aber am meisten wohl er. Und dann dieser Satz "Es tut nicht weh"... Allein das bringt einen schon schwer zu seufzen. In dieser schweren Zeit ist noch so viel zu tun. Die Situation ist gerade unsicher und Mo Ran stürzt sich in die Arbeit, dabei sollte er mal allen Schmerz richtig rauslassen.
AntwortenLöschenDann gibt es noch das Gespräch mit ihm und Shi Mei. Da wurde das Seufzen bei mir noch schwerer.
Alles ist so drückend und dann kommt dieser Mönch und man konnte sich richtig vorstellen wie Hoffnung in Mo Ran zu sehen ist. Aber es ist eine gefährliche Hoffnung. Denn wenn diese einem plötzlich weggenommen wird, ist der Fall umso schlimmer und tiefer.
Man will noch viel mehr zu diesem Kapitel sagen, aber nur ein schwerer Seufzer kann das irgendwie alles in Worte fassen.
Ich finde Xue Zhenyongs Angst um Mo Ran hier sehr rührend. Ich glaube, dass er die Befürchtung hatte, dass Mo Ran Suizid begeht und er noch eine ihm wichtige Person verlieren würde, vor allem da er gemerkt hat, wie sehr ihn der Tod von Chu Wanning mitgenommen hat.
LöschenDa hast du recht, Mo Ran leidet am meisten an Chu Wannings Tod. Was wohl auch daran liegen mag, dass er sich die Schuld an seinem Tod gibt.
Ich glaube Mo Ran, hat es nie gelernt, seine Gefühle rauszulassen und zu trauern. Dafür waren einige Dinge, als er ein Kind war, wichtiger überleben.
Um ehrlich zu sein, finde ich Shi Mei hier ziemlich respektlos. Er sieht, wie sehr Mo Ran trauert und wie sehr in, dass alles mitnimmt. Aber er fragt nach gerade mal einer Woche Trauerzeit nach den unausgesprochenen Worten vor dieser Tragödie?
Kann das nicht warten?
Es ist eigentlich traurig, dass Mo Ran in seinem vorherigen Leben noch nicht einmal die Möglichkeit hatte, Shi Mei wieder ins Leben zu holen.