Kapitel 102 ~ Shizun's Shizun

Shizun, beachte mich.

Das waren die Worte, die Mo Ran gesprochen hatte, als sie sich zum ersten Mal unter dem Himmelsdurchdringenden-Turm getroffen hatten. Damals waren Chu Wannings Augen geschlossen gewesen. Als Mo Ran ihn rief, flatterten seine Wimpern auf.

Dies waren auch die Worte, die Mo Ran sagte, als sie sich zum letzten Mal im Roten- Lotus- Pavillon trennten. Damals waren auch Chu Wannings Augen geschlossen gewesen. Mo Ran rief nach ihm, aber er hob nie wieder den Kopf.

Dieser eine Satz schwebte ein halbes Leben lang, vom Himmelsdurchdringenden-Turm bis zum Rand des Lotusteichs, und zerfiel schließlich zu Staub. All die Jahre des Hasses und der Liebe verflüchtigten sich und wurden kalt.

Mo Ran hatte seinen letzten Krug Birnenblüten-Weißwein ausgetrunken und stieg am Vorabend seines letzten Tages vom Südgipfel des Sisheng-Gipfels hinab. Am nächsten Morgen erfuhr die Rebellenarmee, die in den Wushan-Palast einmarschiert war, dass Taxian-Jun, das Unheil, das die Welt in den letzten zehn Jahren heimgesucht hatte, sich im Alter von zweiunddreißig Jahren das Leben genommen hatte.

Zwei Leben waren vergangen.

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Mo Ran öffnete seine Augen. Er hatte die Nacht unter dem blühenden Baum vor dem Himmelsdurchdringenden Turm durchgeschlafen und wachte benommen und verloren auf, ohne zu wissen, wo er sich befand. „Shizun...", murmelte er abwesend, „beachte mich..."

Erst dann erinnerte er sich, dass Chu Wanning auch in diesem Leben nicht mehr da war.

In seinem früheren Leben hatte sich Mo Ran daran gewöhnt, dass jeder Tag ein bitterer Kampf war. Damals war Chu Wanning derjenige gewesen, der ihn bis zum Ende begleitet hatte. Er wollte in diesem Leben nicht mehr dieser gemeine Mensch sein, aber jetzt würde Chu Wanning nicht mehr erleben, was aus ihm wurde. Vielleicht konnte es der Himmel selbst nicht ertragen, oder vielleicht war es einfach Schicksal ‒ Chu Wanning hatte sich im vergangenen Leben unerträglich vor ihm geekelt, also war er in diesem Leben der Erste, der sich verabschiedete.

Mo Ran legte seinen Arm über seine Augen und unterdrückte das Engegefühl in seinem Hals.

Er hörte Xue Zhengyong in der Ferne verzweifelt schreien. Sein Onkel suchte nach ihm und rief: „Ran-er ‒ wo bist du? Ran-er!"

Auch Shi Mei rief nach ihm: „A-Ran, wo bist du... Beeil dich und komm raus…"

„Ran-er, komm zurück und leiste Yuheng Gesellschaft! Mach keine Dummheiten, Ran-er!"

Leiste Yuheng Gesellschaft... Leiste ihm Gesellschaft...

Mo Ran schleppte sich vom Boden hoch und taumelte auf die Stimmen zu. Er durfte nicht zusammenbrechen, er durfte nicht zusammenbrechen ‒ es gab noch so viel zu tun. Sie hatten die Person, die hinter all dem steckte, noch immer nicht gefunden, ganz zu schweigen davon, dass sich der Himmlische Riss jederzeit wieder öffnen konnte. Der Sisheng-Gipfel hatte bei der Katastrophe schwere Verluste erlitten, und es gab unzählige Dinge, um die man sich kümmern musste. Xue Meng war untröstlich vor Kummer, so sehr, dass er sich nicht einmal erheben konnte. Mo Ran durfte nicht auch noch zusammenbrechen.

Also ertrug Mo Ran es und zwang sich, die Scherben aufzusammeln. Er sagte sich: Es tut nicht weh, es tut nicht weh. Es war nicht das erste Mal, dass er den Tod von Chu Wanning miterlebt hatte. Es tut nicht weh.

Es tut nicht weh...

Aber wie könnte es nicht wehtun? Über dreitausend Schritte war Chu Wanning gekrochen, hatte ihn auf dem Rücken getragen ‒ wie sollte das nicht wehtun?

Er hatte seine letzten Reserven an spiritueller Energie aufgebraucht, er hatte alles Mo Ran gegeben, wie sollte das nicht wehtun...

Er hatte eine identische Verletzung erlitten, aber um seinen Schüler nicht zu belasten, hatte er eine herzlose Miene aufgesetzt und war allein gegangen. Wie konnte das nicht wehtun...

Und in seinem früheren Leben hatte Chu Wanning die gleiche Verletzung erlitten wie Shi Mei. Nur hatte er nichts darüber gesagt. Er hatte es nicht gesagt, und Mo Ran hatte nicht gefragt. Er hatte Chu Wanning wütend angebrüllt, ihm unendlichen Hass entgegengeschleudert und die Wan Tans zu Boden geworfen, die Chu Wanning, der sich noch nicht von seinen eigenen Verletzungen erholt hatte, so hart für ihn zubereitet hatte. Vor seinen Augen bückte sich Chu Wanning, senkte den Kopf, hob die Wan Tans einen nach der anderen auf und warf sie weg.

Wie konnte das nicht wehtun... Wie konnte das nicht wehtun?!

Er hatte Chu Wannings Herz herausgerissen! Wie konnte das nicht wehtun?! Wie konnte es nur...

Mo Ran konnte keinen Schritt weiter gehen. Er stand lange an Ort und Stelle und versuchte, diese Gefühle zu unterdrücken und seine Ruhe zu bewahren. Sein ganzer Körper zitterte. Es tat weh. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, biss sich auf die Lippe und schluckte sein Schluchzen mit dem Blut herunter.

Es dauerte sehr lange, bis er sich, wenn auch nur knapp, wieder aufraffen konnte. Er hob den Kopf, die Augen rot umrandet, und holte tief Luft. Dann ging er langsam die Treppe hinunter.

Er durfte nicht zusammenbrechen.

„Onkel."

„Ran-er, wo warst du? Ich habe mich zu Tode gesorgt! Wie soll ich Yuheng im Jenseits begegnen, wenn dir etwas zustößt?"

„Es war meine Schuld", sagte Mo Ran. „Mir geht es jetzt gut. Es tut mir leid, dass ich Onkel Sorgen bereitet habe."

Xue Zhengyong schüttelte den Kopf. Er wusste nicht so recht, was er sagen sollte, also klopfte er Mo Ran nur auf die Schulter. Nach einem langen Moment sagte er: „Es ist nicht deine Schuld. Es ist nicht deine Schuld, du bist schon so viel stärker als Meng-er..." Er seufzte.

„Wo ist Xue Meng?", fragte Mo Ran heiser.

„Krank. Er hat hohes Fieber. Er hat gerade seine Medizin getrunken und ist eingeschlafen. Er ist untröstlich, wenn er wach ist, und weint den ganzen Tag... Schlaf wird ihm guttun." Xue Zhengyong sah erschöpft aus. „Der Himmlische Riss der Unendlichen Höllen hat die ganze Kultivierungswelt in Aufruhr versetzt. Sogar das obere Kultivierungsreich schickt jetzt Leute, um die Sache zu untersuchen. Aber wer auch immer dahintersteckt, hat seine Spuren unglaublich gut verwischt. Die Schmetterlingsstadt wurde in der blutigen Schlacht praktisch eingeebnet, und es war keine Spuren zu finden."

Mo Ran war nicht im Geringsten überrascht, dies zu hören. Die Fähigkeiten dieses Menschen überstiegen eindeutig das, was alle, auch er selbst, erwartet hatten. Jemand, der in der Lage war, Chu Wanning das Leben zu nehmen, würde offensichtlich nicht so unvorsichtig sein, Spuren zu hinterlassen. „Was hat das obere Kultivierungsreich vor?"

„Vertreter jeder Sekte halten auf dem Spirituellen Berg ein Treffen ab, um die Angelegenheit zu besprechen", antwortete Xue Zhengyong. „Ich hatte vor, morgen dorthin zu gehen... aber ich mache mir Sorgen, wenn Meng-er in diesem Zustand ist..."

Er hatte recht ‒ selbst der weltbeste Zongshi, Chu Wanning, hatte bei dem Zwischenfall in der Schmetterlingsstadt sein Leben verloren. So nachlässig das obere Kultivierungsreich auch sein mochte, sie konnte es sich nicht mehr leisten, einfach nur zuzuschauen.

Wer hat die Zauber gesprochen, die die Barriere geöffnet hat? Worauf hat er es abgesehen? Was ist sein nächster Schritt?

Diese Fragen kreisten in ihren Herzen wie Aasgeier. Alle wollten Antworten, aber die umfangreichen Ermittlungen hatten nichts ergeben. Sie hatten keine andere Wahl, als miteinander zu kooperieren.

„Mach dir keine Sorgen, Onkel", sagte Mo Ran. „Ich werde Tante helfen, sich um die Dinge in der Sekte zu kümmern, während du weg bist."

„Das ist gut, das ist gut..." Xue Zhengyong seufzte. „Ich wünschte, ich müsste dich damit nicht belasten..."

 

 

Mit Xue Zhengyongs Abreise und Xue Mengs Versunkenheit in die Trauer fielen all die angehäuften Schriftrollen mit Papierkram und die damit verbundenen Aufgaben auf Mo Ran zurück. Er stürzte sich mit ganzem Herzen in die Arbeit und wagte es nicht, sich auch nur einen Moment auszuruhen. Wenn er innehielt, um sich auszuruhen, um nachzudenken, würden ihn der Kummer und das Bedauern in den Abgrund ziehen und seine gebrochene Seele quälen. Er wünschte sich, er könnte seinen Kopf in Schriftrollen vergraben, tagein, tagaus, und sei es nur, um die endlosen Qualen und Schuldgefühle zu ignorieren, die sein Herz quälten.

Als sich die Unendlichen Höllen geöffnet hatten, hatte die Yin-Energie das Reich der Sterblichen überflutet, und alle Arten von Ungeheuern, die lange unterdrückt worden waren, hatten die Gelegenheit ergriffen, zu entkommen und im ganzen Land Verwüstung anzurichten. Die Auftragsbriefe, in denen um Hilfe vom Sisheng-Gipfel gebeten wurde, hatten sich praktisch zu einem kleinen Berg aufgetürmt. Mo Ran war damit beschäftigt, sich um all das zu kümmern, vergaß zu schlafen und ließ die Mahlzeiten ausfallen. Er betrat die Loyalitätshalle oft schon bei Tagesanbruch und blieb bis spät in die Nacht, bevor er in sein Quartier zurückkehrte, um sich auszuruhen.

Aber selbst wenn er in diesem Meer von Papierkram versunken war, wurde er unversehens von Chu Wannings Splittern gestochen, die er zurückgelassen hatte.

 

Die Region Qingjiang ist in letzter Zeit von Unruhen heimgesucht worden, und die meisten der zweiundachtzig Familien im Dorf Fengling sind alt und kränklich und haben keine Mittel, sich zu verteidigen. Wir haben das Glück, einen Roboter des Wächters der Heiligen Nacht zu besitzen, der von eurem geschätzten Sektenältesten hergestellt wurde, um die bösen Geister vorerst abzuwehren. Aber das ist keine langfristige Lösung, deshalb möchten wir darum bitten...

 

Ein Tropfen Wachs glitt langsam an der Kerze herunter, und der Docht knisterte. Mo Ran schreckte auf; er starrte schon seit einiger Zeit mit leerem Blick auf den Brief und fuhr mit dem Finger immer wieder über die Worte des ‘Wächters der Heiligen Nacht‘. Vor seinem geistigen Auge sah er Chu Wanning im Roten-Lotus-Pavillon, das Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und eine Schleiffeile im Mund hielt, während er sich auf das Ölen eines Roboters konzentrierte.

Mo Ran holte tief Luft. Er drückte seine Finger auf seine Stirn und rieb sie leicht. Plötzlich hörte er ein Klopfen.

„Shi Mei?"

Der schöne junge Mann in einer leichten, einfachen weißen Robe kam herein und trug ein Tablett. Er stellte es neben Mo Rans Schriftrollen ab, dann krempelte er die Ärmel hoch und regte das Kerzenlicht wieder an, damit es hell wurde. „A-Ran", sagte er sanft, „du hast den ganzen Tag gearbeitet. Nimm dir etwas zu essen."

„In Ordnung..." Mo Ran zwang sich zu einem Lächeln, legte seine Schriftrolle weg und knetete weiter den pochenden Schmerz zwischen seinen Brauen.

„Ich habe eine Schüssel mit Ginseng-Hühnersuppe und ein paar Beilagen gemacht." Shi Mei stellte die Teller ab und fühlte die Temperatur am Rand der Schüssel. „Oh gut, sie ist noch warm."

Während sie aßen, bemerkte Shi Mei eine lose Haarsträhne, die vor dem hübschen, müden Gesicht hing, und griff danach, um sie zurückzustecken. „A-Ran."

„Hm?"

„An jenem Tag... gab es etwas, das du mir sagen wolltest?"

Mo Rans Gedanken waren zerstreut, und er brauchte einen Moment, um zu verstehen, was Shi Mei fragte. Er warf einen Blick auf Shi Mei. „Welcher Tag?"

Shi Mei schürzte die Lippen und senkte den Blick. Er schwieg eine Zeit lang, dann antwortete er: „Der Tag des himmlischen Risses."

Mo Ran wartete, bis er fortfuhr.

„Du sagtest, du würdest Shizun helfen, den Himmlischen Riss zu reparieren, und dass es da etwas gäbe, dass du mir erzählen könntest, wenn du zurückkommst." Shi Mei senkte den Kopf, und seine Stimme verstummte. Im Schein der Kerze schienen seine zarten, schneeweißen Ohren ein wenig rosa zu sein.

Mo Ran starrte ihn lange an, brachte aber kein einziges Wort heraus. Er wusste ohne jeden Zweifel, dass er Shi Mei innig liebte. Aber jetzt, in diesem Moment, war er wirklich nicht in der Stimmung, nicht im Geringsten. Mo Ran war schamlos und unmanierlich. Was andere sagten, war ihm völlig egal, und Dinge wie Moral und Etikette waren ihm völlig fremd.

Aber das bedeutete nicht, dass er herzlos war.

Eine lange Sekunde herrschte Schweigen. Als Mo Ran schließlich sprach, war seine Stimme sanft. „Entschuldigung. Ich fühle mich im Moment wirklich schlecht, und ich...glaube nicht, dass dies der richtige Zeitpunkt ist. Also, was die Sache angeht ‒ ich werde es dir ein anderes Mal erzählen, okay?"

Shi Mei riss den Kopf hoch, seine schönen Augen erschraken.

Mo Ran presste ein Kichern hervor und hob die Hand. Er zögerte eine Sekunde, dann tätschelte er Shi Meis Kopf. „Ich bin ein bisschen dumm, und in letzter Zeit gab es so viele Dinge zu erledigen, dass ich nicht weiß, wann ich einen ruhigen Moment haben werde, um meine Gedanken zu sammeln. Ich will nicht leichtfertig sein."

Selbst die Wärme der Kerze konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Shi Meis Gesicht allmählich bleich wurde. „Leichtfertig?" Er hielt inne, dann lächelte er. „A-Ran, damals ging es um Leben und Tod. Ich hätte gedacht, dass du dir alles, was du in einem solchen Moment sagen würdest, gut überlegt hättest."

„Das habe ich." Mo Ran runzelte die Stirn. „Ich habe lange darüber nachgedacht, und es hat sich nie geändert, aber..."

„Aber?" Shi Mei beugte sich vor.

Mo Ran zögerte. Schließlich sagte er: „Aber nicht jetzt."

Seine Hände ballten sich zu Fäusten in seinen Ärmeln. „Nicht jetzt, Shi Mei. Du weißt es noch nicht, aber es ist etwas sehr Wichtiges. Ich will es nicht überstürzen und es dir zu einem so unglücklichen Zeitpunkt sagen, ich‒"

„Junger Meister!" Plötzlich stürmte ein junger Mann unangekündigt herein. Als er sah, dass derjenige, der die Sektenangelegenheiten in der Loyalitätshalle leitete, Mo Ran war, verbeugte er sich eilig und korrigierte sich: „Ah, Mo-Gongzi."

Bei dieser Unterbrechung verblasste die leichte Röte auf Shi Meis Wangen. Er zupfte an seinen Ärmeln und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wobei er ein mildes, bescheidenes Aussehen annahm.

Mo Ran sah auf, ohne die Veränderung in Shi Meis Verhalten zu bemerken. „Was gibt es?"

„Ich melde mich. Da ist ein geschätzter Gast am Eingang der Sekte."

„Ein geschätzter Gast?", echote Mo Ran. „Jeder, der von den zehn großen Sekten Rang und Namen hat, ist gerade beim Spirituellen Berg. Woher kommt dieser geschätzte Gast?"

Der Schüler schien sowohl ängstlich als auch aufgeregt zu sein. Sein Gesicht errötete und er stammelte einige Sekunden lang unzusammenhängend, bevor er schließlich herausplatzen konnte: „Es ist Meister Huaizui vom Wubei-Tempel!"

„Was?!" Selbst der ehemalige Kaiser Taxian-Jun konnte nicht anders, als aufzuspringen.

Auch Shi Mei war erschrocken. „Meister Huaizui?"

Mo Ran hatte guten Grund, schockiert zu sein ‒ Meister Huaizui war in der Kultivierungswelt praktisch eine Legende.

Dieser Mann hatte vor langer Zeit die Erleuchtung erlangt. Eigentlich hätte er aufsteigen müssen. Aber als sich die großen Tore des himmlischen Reiches für ihn öffneten, hatte er seine Handflächen aneinandergepresst und gesagt, dass er nicht mit dem Reich der Sterblichen brechen könne, dass er seine lebenslange Besessenheit nicht loslassen und sich nicht von den Sünden der Vergangenheit reinwaschen könne. Am Ende verdunkelte sich das himmlische Licht, die Lotusblüte verwelkte, und Meister Huaizui schlenderte in seiner verschlissenen Mönchsrobe von der Unsterblichkeit fort, während sein Stab leicht auf den Boden klopfte.

Nachdem er seine Chance, aufzusteigen und unsterblich zu werden, nicht wahrgenommen hatte, zog er sich in den Wubei-Tempel zurück, um nachzudenken. Ein Jahrhundert verging wie ein Wimpernschlag. Hundert Jahre lang hatte die Kultivierungswelt seinen Namen gehört, ihn aber nie zu Gesicht bekommen. Die Zahl der noch lebenden Älteren, die ihn vor seiner Abgeschiedenheit getroffen hatten, konnte man an einer Hand abzählen.

In seinem früheren Leben hatte Mo Ran das ganze Land auf den Kopf gestellt und war trotzdem nicht in der Lage gewesen, diesen Meister Huaizui zu treffen. Huaizui war zu alt gewesen und an einem regnerischen Frühlingstag gestorben, ein Jahr bevor Mo Ran die Spitze der Menschenwelt erklommen hatte. Niemand wusste, wie alt er gewesen war, als er starb.

Doch wie unerwartet ‒ in diesem wiedergeborenen Leben war Meister Huaizui mitten in der Nacht von sich aus aufgetaucht.

Unzählige Gedanken schossen Mo Ran innerhalb eines Augenblicks durch den Kopf ‒ obwohl er noch nicht wusste, was er hier zu tun hatte, erinnerte sich Mo Ran sofort an gewisse Gerüchte über Meister Huaizui.

Huaizui... Huaizui! Wie konnte er Meister Huaizui nur vergessen?!

Als Shi Mei im letzten Leben starb, hatte Mo Ran keine Ahnung, dass es in der Kultivierungswelt einen solchen Weisen gab. Erst später, als er Kaiser war, erfuhr er von seinen Untergebenen, dass es in dieser Welt jemanden gab, der die Wiedergeburt, eine der drei verbotenen Techniken, beherrschte.

Diese Person war Huaizui.

Er hatte in aller Eile Leute zum Wubei-Tempel geschickt, um die Anwesenheit des Weisen zu erbitten, damit er die Seele von Shi Mei zurückholen könne. Aber die Leute, die er geschickt hatte, kehrten mit der Nachricht zurück, dass der große Meister bereits verstorben war, und mit ihm Mo Rans letzte Chance, Shi Mei wiederzubeleben.

Aber in diesem Moment war diese legendäre Person noch am Leben! Er war noch am Leben! Wie konnte er das nur vergessen! Wie konnte er das vergessen?

Mo Rans Herz schlug heftig, und er zitterte am ganzen Körper. Seine Augen leuchteten auf und er sagte hastig: „Schnell, bitte den großen Meister herein!"

Bevor der Schüler antworten konnte, änderte Mo Ran seine Meinung. „Eigentlich werde ich ihn selbst hereinbitten." Aber er war erst zwei Schritte gegangen, als plötzlich ein gelbes Licht von außerhalb der Halle aufleuchtete.

Weder die Kerze noch ihre Flamme zitterten. Es gab nicht den Hauch eines Windes. Niemand, nicht einmal Mo Ran mit seinen scharfen Augen, hatte ihn hereinkommen sehen. Doch ein Mönch mit einem Bambushut und einer abgenutzten Robe stand nun in der Loyalitäts-Halle. Er hatte sich blitzschnell bewegt und blieb direkt vor Mo Ran stehen, der angesichts der plötzlichen Nähe erschrak.

„Dieser hier ist schon so spät in der Nacht gekommen und will Mo-Shizhu nicht noch weiter belästigen." Eine tiefe, sanfte Stimme drang unter dem Bambushut hervor und ließ sowohl Mo Ran als auch Shi Mei aufschrecken. Wie konnte das die Stimme eines hundertjährigen Mannes sein?

Mo Ran hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als der Mönch seinen Bambushut abnahm. In der kerzenbeleuchteten Halle sah er nicht älter als dreißig Jahre aus, hatte ein angenehmes Aussehen und ein mildes Benehmen. Seine Augen waren hell und scharf, doch statt Bedrohung auszustrahlen, wirkten sie ruhig und klar, wie die Reflexion von Licht im Wasser.

„Ihr seid...?"

Der Mönch presste seine Handflächen zusammen und verbeugte sich tief. „Amitabha, dieser bescheidene Mönch ist Huaizui."

Niemand hatte erwartet, dass Meister Huaizui, der mindestens hundert Jahre alt war, jünger aussehen würde als Xue Zhengyong. Einen Moment lang herrschte nur fassungsloses Schweigen. Aber Mo Ran kannte sich aus, wenn es um Kultivierung ging. Huaizui war jemand, der den Aufstieg abgelehnt und sich stattdessen entschieden hatte, im Reich der Sterblichen zu bleiben Der einzige Unterschied zwischen diesem Mann und einem Unsterblichen war der letzte Schritt, der darin bestand, seinen sterblichen Körper abzulegen und sich der himmlischen Prüfung zu unterziehen. Nachdem er diesen Gedankengang zu Ende gedacht hatte, entspannte sich Mo Ran ein wenig, obwohl er immer noch nicht den Blick von Huaizui abwenden konnte.

Huaizui wollte niemanden stören, und so setzten sie sich zu dritt in die Loyalitätshalle. Mo Ran schenkte dem großen Meister eigenhändig Tee ein. Huaizui nahm ihn an und murmelte seinen Dank, trank aber nicht. Er stellte den Tee auf dem kleinen Sandelholztisch ab und hob langsam den Kopf.

Er sprach in höflichem und sanftem Ton, kam aber direkt zur Sache: „Mo-Shizhu, bitte verzeiht diesem bescheidenen Mönch, dass er so direkt ist, aber der Grund für meinen heutigen Besuch ist ein alter Bekannter."

Mo Rans Herz begann zu rasen. Seine Sicht verschwamm, und seine Finger gruben sich mit solcher Kraft in die Tischkante, dass sie fast zerbrach. Er starrte konzentriert auf das Gesicht von Meister Huaizui, während ihm Worte aus seinem vergangenen Leben wie Schneeflocken durch den Kopf wirbelten.

Es gibt ein Gerücht, dass jemand die Wiedergeburt, eine der drei verbotenen Techniken, erfolgreich angewendet hat. Aber es ist nur ein Gerücht. Man weiß nicht, ob etwas Wahres dran ist...

Wo ist dieser Meister Huaizui? Ich zahle jeden Preis, um Shi Mei zurückzubringen!

Um Eurer Majestät zu antworten: Huaizui ist schon vor vielen Jahren verstorben. Er hat in seinem Leben nichts geschrieben, und über die Wiedergeburt sagte er nur: ‘Das Schicksal zu ändern, bedeutet, den Willen des Himmels zu missachten, und birgt unermessliche Gefahren.‘ Sonst hat er nichts weiter hinterlassen...

Die Worte strömten an seinen Ohren vorbei.

Meister Huaizui hatte ein unergründliches Verständnis von Sterblichkeit und Reinkarnation.

Es heißt, dass er mit dem Geisterreich zu tun hatte. Wenn er noch leben würde, könnte Mingjing-Shixiong vielleicht aus dem Grab zurückkehren, aber leider...

Meister Huaizui war wie ein Geist, der in der Welt der Lebenden verweilt. Zweifellos hatte er seine Hand in allem, was mit Yin und Yang zu tun hatte.

Mo Ran holte tief Luft und war überrascht, dass seine Stimme leicht zitterte. „Ein alter Bekannter... Ein alter Bekannter...", murmelte er, während seine eigenen Augen in die klaren von Meister Huaizui blickten. Mo Rans Rücken war schweißnass. Er fragte mit so leiser Stimme, dass sie fast unhörbar war: „Wer ist dieser alte Bekannte?"

Der Mönch erhob sich langsam. In dem schwachen Kerzenlicht bildete sich kein Schatten unter seinen Füßen. Die Ärmel seiner schlichten, dünnen gelben Robe hingen tief. Die Robe war offensichtlich abgenutzt, aber sie war völlig glatt und faltenfrei und wehte leicht im Wind wie die flackernden Umrisse eines Geistes. Dieser große Meister war wirklich unergründlich.

Mo Ran konnte praktisch das Klopfen seines eigenen Herzens in seinen Ohren hören. Unbewusst stellte er sich neben Huaizui, und die beiden sahen sich an. „Großer Meister.“ Hätte ein Spiegel vor ihm gestanden, hätte er das Licht der Hoffnung gesehen, das unaufgefordert auf seinem Gesicht aufleuchtete, und den flehenden Blick, der ihm folgte. „Wer ist dieser altee Bekannte..."

War er es? War er es?

Huaizui senkte seine Wimpern und seufzte, während er seine Handflächen wieder zusammenpresste. „Mein Schüler Chu Wanning ist vor sieben Tagen umgekommen. Heute ist die Nacht, in der seine Seele zurückkehren wird. Dieser bescheidene Mönch kann es nicht ertragen, einen so jungen Menschen wegzuschicken, und kommt zum Sisheng-Gipfel, um Mo-Shizhus Mitleid zu erflehen: Bitte gebt diesem alten Mönch seinen Schüler zurück."

 

 

 

Erklärungen:

Shizhu: ‘Wohltäter, Almosenspender‘. Eine respektvolle Bezeichnung, die von buddhistischen Mönchen und taoistischen Priestern verwendet wird, um Laien anzusprechen.

Amitabha ist ein Buddha, der in China besonders verehrt wird. Sein Name wird häufig im Gebet oder im Lob ausgerufen, ähnlich wie bei uns ‘Halleluja‘.

…sterblichen Körper abzulegen…Himmlische Prüfung: Nach der Kultivierung zur Erleuchtung muss ein Kultivierer zunächst seine sterbliche Hülle ablegen und eine oder mehrere himmlische Prüfungen durchlaufen, bevor er zu einem Unsterblichen transzendieren kann.




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2 Kommentare:

  1. Man kommt aus dem schweren seufzen gar nicht mehr raus. Kapitel, nach Kapitel wird es immer drückender. Mo Ran leidet, jeder leidet, aber am meisten wohl er. Und dann dieser Satz "Es tut nicht weh"... Allein das bringt einen schon schwer zu seufzen. In dieser schweren Zeit ist noch so viel zu tun. Die Situation ist gerade unsicher und Mo Ran stürzt sich in die Arbeit, dabei sollte er mal allen Schmerz richtig rauslassen.
    Dann gibt es noch das Gespräch mit ihm und Shi Mei. Da wurde das Seufzen bei mir noch schwerer.
    Alles ist so drückend und dann kommt dieser Mönch und man konnte sich richtig vorstellen wie Hoffnung in Mo Ran zu sehen ist. Aber es ist eine gefährliche Hoffnung. Denn wenn diese einem plötzlich weggenommen wird, ist der Fall umso schlimmer und tiefer.
    Man will noch viel mehr zu diesem Kapitel sagen, aber nur ein schwerer Seufzer kann das irgendwie alles in Worte fassen.

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    1. Ich finde Xue Zhenyongs Angst um Mo Ran hier sehr rührend. Ich glaube, dass er die Befürchtung hatte, dass Mo Ran Suizid begeht und er noch eine ihm wichtige Person verlieren würde, vor allem da er gemerkt hat, wie sehr ihn der Tod von Chu Wanning mitgenommen hat.
      Da hast du recht, Mo Ran leidet am meisten an Chu Wannings Tod. Was wohl auch daran liegen mag, dass er sich die Schuld an seinem Tod gibt.
      Ich glaube Mo Ran, hat es nie gelernt, seine Gefühle rauszulassen und zu trauern. Dafür waren einige Dinge, als er ein Kind war, wichtiger überleben.
      Um ehrlich zu sein, finde ich Shi Mei hier ziemlich respektlos. Er sieht, wie sehr Mo Ran trauert und wie sehr in, dass alles mitnimmt. Aber er fragt nach gerade mal einer Woche Trauerzeit nach den unausgesprochenen Worten vor dieser Tragödie?
      Kann das nicht warten?
      Es ist eigentlich traurig, dass Mo Ran in seinem vorherigen Leben noch nicht einmal die Möglichkeit hatte, Shi Mei wieder ins Leben zu holen.

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