Kapitel 109 ~ Shizuns zweite Erdseele

Mo Rans Kopf war taub, seine Gedanken waren ein weißes Rauschen. Seine Hände und Füße fühlten sich wie Eis an, als er die Seele von Chu Wanning an sich drückte und im Nebel die Treppe hinunterstieg.

„Doktor..."

„Sie schon wieder? Was ist denn jetzt schon wieder?"

„Sie sind sicher, dass der da oben...die Erdseele meines Shizun ist, richtig?"

Der Geisterdoktor war ziemlich verärgert. „Natürlich ist sie das. Wie könnte ich so etwas falsch verstehen?"

Mo Ran weigerte sich, aufzugeben. „Könnte es seine Bewusstseinsseele sein, oder..."

„Oder was?" Der Geisterdoktor schnalzte irritiert mit der Zunge. „Der Mensch hat drei Seelen: die Erdseele, die Bewusstseinsseele und die menschliche Seele. Ich praktiziere hier seit hundertfünfzig Jahren als Arzt. Wenn ich nicht einmal die Seelen unterscheiden könnte, hätte mich Fürst Yanluo schon längst ins Rad der Wiedergeburt zurückgeschickt."

Mo Ran presste seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Doch dann tauchte eine vage Idee in seinem Kopf auf. „Doktor, haben Sie in Ihren hundertfünfzig Jahren jemals jemanden mit zwei Erdenseelen gesehen?"

„Was ist los mit Ihnen?!", schnauzte der Geisterdoktor verärgert. „Für mich sieht es so aus, als würde Ihr Kopf nicht funktionieren ‒ vielleicht sollte ich mal Ihren Puls messen!"

Natürlich konnte Mo Ran nicht zulassen, dass der Geisterdoktor seinen Puls fühlte. Meister Huaizui hatte ihn zwar verzaubert, aber wenn er nicht aufpasste, wäre das Spiel vorbei. Er entschuldigte sich hastig und floh aus dem Sanatorium für kranke Seelen, die Laterne mit der menschlichen Seele und der Erdseele von Chu Wanning in der Hand.

Im Reich der Geister war es immer düster. Die einzige Möglichkeit, den Tag von der Nacht zu unterscheiden, war ein Blick in den Himmel: Wenn eine lauwarme Sonne hinter einer Schicht aus trübem Nebel und schweren roten Wolken schwebte, war es Tag. Wenn ein kalter Mond hoch oben hing, war es Nacht. Im Moment war es Nacht, und die Straßen leerten sich allmählich vom Verkehr.

Mo Ran ging allein mit der Seelenruf-Laterne durch die Straßen, den Blick auf den Boden gerichtet. Er wusste nicht, was er tun sollte, und je weiter er ging, desto hilfloser und einsamer fühlte er sich.

In seiner Kindheit waren solche Dinge wie Hilflosigkeit und Ungewissheit einst seine täglichen Begleiter gewesen. Er stellte fest, dass die erneute Konfrontation mit diesen Gefühlen ihn jetzt verunsicherte. Mo Ran dachte an die Menschen, die er kennengelernt hatte, als er sich noch im Freudenhaus durchschlug. Am Ende war das Haus der betrunkenen Jade in Flammen aufgegangen. Sie waren alle gestorben, alle bis auf ihn... Er zählte die Jahre. Alle ‒ außer seiner Mutter ‒ mussten wahrscheinlich noch reinkarniert werden. Wenn er weiter so umherwanderte, konnte er nicht wissen, wem er begegnen würde.

Dann dachte er an Xue Meng. Er dachte an sein wütendes Gebrüll, als er versuchte, Mo Ran die Seelenruf-Laterne aus den Händen zu reißen. Er hatte ihn eine ‘gottverdammte Geißel‘ genannt.

Welches Recht hast du? Hast du kein Schamgefühl?

Die Laterne fest umklammert, verlangsamte Mo Ran seine Schritte, bis er schließlich an einer Wand stehen blieb. Trotz seiner Bemühungen waren seine Augen rot geworden. Er ließ den Kopf hängen und starrte auf die sanfte, goldene Flamme. „Shizun", murmelte er mit leiser Stimme, „kann es sein, dass du... dass du wirklich nicht mit mir zurückkommen willst?"

Die Flamme antwortete nicht. Sie brannte schweigend weiter.

Mo Ran stand eine lange Zeit da, bevor er sich aufraffte dazu, die Ruhe zu bewahren. Die Unterwelt war riesig, und er wusste nicht, wohin und zu wem er gehen konnte. Plötzlich erinnerte er sich an Chu Xun und eilte zurück zur Halle-des-Rückenwinds, als hätte er eine Rettungsleine ergriffen.

Als er dort ankam, bereitete sich die Halle-des-Rückenwinds darauf vor, Feierabend zumachen, und ein maskierter Geist war dabei, die Türen zu schließen und sie für die Nacht abzusperren. Mo Ran rief eilig, um ihn aufzuhalten, mit einem flehenden Ton in der Stimme: „Entschuldigung, aber bitte warten Sie!"

„Sie schon wieder?" Der Geist war derselbe, der ihn vorhin die Treppe hinaufgeführt hatte. „Was machen Sie schon wieder hier?"

„Es tut mir leid, dass ich Euch störe, aber es ist dringend..." Mo Ran war zu schnell gelaufen. Er schnappte nach Luft, seine Augen leuchteten und waren ängstlich. Er schluckte und sagte mit heiserer Stimme: „Ich möchte Herr Chu Xun wiedersehen."

 

Chu Xun starrte abwesend auf einen Zweig mit Hai-Tang-Blüten, der in einer schlanken, weißen Porzellanvase arrangiert waren. Er blickte erschrocken auf, als Mo Ran plötzlich zurückkam. „Warum ist der kleine Gongzi zurückgekommen? Konntet Ihr ihn nicht finden?"

„Ich habe ihn gefunden", antwortete Mo Ran, „aber ich ... ich ..."

Chu Xun sah mit einem Blick, wie angespannt und ängstlich der junge Mann war, und er ahnte richtig, dass es sich bei dem, was ihn beschäftigte, um ein schwieriges Thema handeln musste. Er bat Mo Ran herein und schloss die Tür hinter ihm. „Setzt Euch."

Mo Ran war besorgt, dass Chu Xun etwas bemerken könnte, wenn er die Seelenruf-Laterne weiter in der Hand hielt, und verstaute sie in seinem Qiankunbeutel. Chu Xun war kein böser Geist, aber die Angelegenheit eines lebenden Menschen, der sich in die Unterwelt schleicht, sollte nach Möglichkeit vor allen Geistern geheim gehalten werden.

„Der kleine Gongzi ist nach Südosten gegangen?"

„Mn."

Chu Xun dachte einen Moment lang nach. „Es war das Sanatorium für kranke Seelen, nicht wahr?"

Mo Ran nickte. Er dachte über seine Worte nach, bevor er fortfuhr. „Ich habe ihn im Sanatorium für kranke Seelen gesehen, aber es war eine unvollständige Erdseele, die sich weder bewegen noch sprechen konnte. Er sah sogar anders aus als die anderen Geister ‒ er war halb durchsichtig, und man konnte ihn sehen, aber nicht berühren."

„Beschädigte Erdseelen kommen oft vor." Chu Xun war düster. „Manchmal kann sich eine solche Seele zerstreuen, wenn sie aufgewühlt ist, und nie wieder zusammenfinden."

Mo Ran kaute auf seiner Lippe, dann wagte er es: „Der Arzt dort sagte, dass Menschen mit unvollständigen Seelen bestimmte Beeinträchtigungen im Leben aufweisen. Aber die Person, die ich suche, war zu Lebzeiten völlig gesund. Deshalb habe ich mich gefragt, ob es sich um einen Irrtum handeln könnte." Er hielt inne, hob den Kopf und blickte zu Chu Xun. „Herr Chu, ist es möglich, dass jemand zwei Erdenseelen hat?"

Chu Xun war verblüfft. „Zwei Erdseelen?"

„Mn."

Anders als der Arzt im Sanatorium für kranke Seelen, der ihn sofort abgeschossen hatte, überlegte Chu Xun diese Hypothese mit niedergeschlagenen Augen sorgfältig. Schließlich sagte er: „Ich nehme an ... es ist nicht unmöglich."

Ein Zittern durchlief Mo Rans Körper, und sein Kopf riss auf. Seine Augen leuchteten im schwachen Kerzenlicht des Raumes. „Wirklich?!"

Chu Xun neigte den Kopf zur Bestätigung. „Normalerweise hat ein Mensch nur drei unsterbliche Seelen und sieben sterbliche Seelen. Aber ich kannte einmal eine Frau, die zwei Bewusstseinsseelen hatte."

„Könnt Ihr mir mehr über sie erzählen?"

Chu Xun schüttelte den Kopf, und seine Wimpern fielen tiefer und zitterten leicht. Er brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen, bevor er sagte: „Ich würde es vorziehen, das nicht zu tun. Diese Ereignisse liegen lange zurück. Diese Frau leidet jetzt in der siebten Stufe der Hölle. Wenn Yanluo jemanden mit einer abnormalen Seele findet, schickt er ihn in die siebte Ebene, um ihn langsam zu häuten."

Als Mo Ran dies hörte, wurde er noch unruhiger. In dem schwachen Licht konnte er den Schmerz in Chu Xuns Augen nicht sehen, als er fortfuhr. „Warum hatte diese Frau eine zusätzliche Bewussteinsseele? Normalerweise brauchen die Menschen ihre drei Seelen erst nach dem siebten Tag zu sammeln. Wenn also jemand eine zusätzliche Erdenseele hat, müssen dann alle vier Seelen wieder zusammengeführt werden?"

„Das ist wahrscheinlich der Fall."

„Dann ist die Frau, die Ihr erwähnt habt ..."

„Als sie Tod war, wurde sie vom neunten König benutzt. Sie wurde zurück in die Welt der Lebenden gezwungen..." Chu Xun hielt inne, die schlanken Finger, die auf seinem Knie ruhten, ballten sich langsam zu einer Faust. „In die Welt der Lebenden, wo sie ihr eigenes Kind bei lebendigem Leibe verspeiste."

Mo Ran verstummte. Plötzlich erinnerte er sich an die vergangenen Ereignisse, die er in Lin'an im Rahmen der Illusion an den Pfirsichblütenquellen erlebt hatte. Mit Schrecken stellte er fest, dass diese ‘Frau‘, von der Chu Xun sprach, in Wahrheit seine Ehefrau war und dass dies seine schmerzlichsten Erinnerungen waren.

Konnte es sein, dass Chu Xun seine Reinkarnation aufgeschoben hatte und wegen seiner Ehefrau in der Stadt Nanke geblieben war? Wartete er darauf, dass sie von ihrer zusätzlichen Seele befreit wurde und von der siebten Stufe zu ihm zurückkehrte, damit sie gemeinsam wiedergeboren werden konnten? Mo Ran konnte es nicht ertragen, noch mehr herauszufinden, als er bereits getan hatte.

Chu Xun sagte auch nichts mehr dazu. So etwas noch einmal zu erwähnen, nur mit dieser Handvoll nüchterner Worte ‒ ihr eigenes Kind bei lebendigem Leibe verspeiste ‒ selbst nach zweihundert Jahren, selbst als Geist, zitterte seine Kehle noch.

Chu Xun schloss seine Augen. „Die Seele der Frau wurde durcheinandergewirbelt und zerrissen und verschmolz mit der Bewussteinsseele des Kindes." Es gab eine lange Pause. „Ihre zusätzliche Seele ist also tatsächlich die Bewusstseinsseele des Kindes. Die Seele des Kindes steckte in der ihren, und die beiden assimilierten sich, bis sie völlig untrennbar miteinander verbunden waren."

Im Tod, wie im Leben, schluckte dieser Mensch seinen eigenen Schmerz, um anderen zu helfen. Mo Ran fühlte sich furchtbar. Aber er konnte es nicht offen aussprechen, also sagte er einfach: „Ihr braucht nichts mehr zu sagen. Ich habe es jetzt verstanden."

„Ich sage Euch das alles, damit Ihr es versteht: Wenn der Chu-Gongzi, den Ihr sucht, wirklich zwei Erdenseelen hat, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass eine davon nicht die seine ist."

Mo Ran dachte darüber nach. „Ist es nicht möglich, dass es eine Erdseele war, die sich in zwei geteilt hat?"

„Das ist möglich, aber nicht in deinem Fall."

„Warum nicht?"

„Ich habe auch schon eine zweigeteilte Seele gesehen", erklärte Chu Xun, „aber das ist eine andere Geschichte. So etwas passiert in der Regel nur, wenn ein Mensch so tief gesündigt und so mutwillig getötet hat, dass seine Seele es nicht ertragen kann und zerbricht. Und selbst dann zerbricht immer die menschliche Seele, die für die Moral und die Menschlichkeit verantwortlich ist. Niemals die Erd- oder Bewusstseinsseele.

Es herrschte eine lange Stille. „Ich verstehe", murmelte Mo Ran. In dem Moment, als er die Worte ‘so tief gesündigt und so mutwillig getötet‘ hörte, war er bereits zu dem Schluss gekommen, dass dieses Szenario unmöglich auf Chu Wanning zutreffen konnte. Aber was ihn selbst betraf, so fragte er sich ‒ wenn er in diesem Leben wirklich sein Ende fand und in die Unterwelt kam, würde seine menschliche Seele dann in zwei Teile zerbrechen? Würde er seine gerechte Strafe erhalten?

„Außerdem", fügte Chu Xun hinzu, „wenn es sich wirklich um eine in zwei Teile gespaltene Seele handelte, wäre die andere Hälfte der Erdseele in ähnlicher Weise betroffen und ebenfalls in das Sanatorium für kranke Seelen geschickt worden. Da der kleine Gongzi nur eine beschädigte Erdseele gefunden hat, vermute ich, dass die andere eine vollständige, gesunde Seele ist."

Bei dieser Bemerkung wurden die Dinge klar. Mo Ran hellte sich sofort auf. „Vielen Dank, Herr Chu!", sagte er eilig. „Dann... werde ich mich sofort wieder auf die Suche machen!"

„Sehr gut. Der Kompass zeigte nicht nur in Richtung des Sanatoriums für kranke Seelen, sondern auch nach Nordosten. Der kleine Gongzi sollte versuchen, in diese Richtung zu gehen. Aber die Stadt Nanke ist groß, und es gibt so viele Geister, die kommen und gehen, während sie auf ihre Wiedergeburt warten..." Chu Xun seufzte.

Mo Ran sah den Schatten des Mitleids in diesen sanften Augen. Er wusste bereits, was Chu Xun zu sagen meinte.

Die Weite der Stadt Nanke. Die Millionen von umherirrenden Seelen. Selbst mit einer Suchrichtung war es leichter gesagt als getan, eine bestimmte Erdseele zu finden. Wenn es zwei Menschen nicht bestimmt war, sich zu treffen, war es egal, ob die Straßen taghell erleuchtet waren. Sie könnten wie Schiffe in der Nacht aneinander vorbeiziehen, der eine im Osten, der andere im Westen, ohne sich zu bemerken oder zu sehen. Und da die Unterwelt so dunkel und still war, wie sie jetzt war, war die Aufgabe so gut wie unmöglich.

Aber Chu Xun war eine sanfte Seele. Er hob eine Hand und klopfte Mo Ran auf die Schulter. „Der kleine Gongzi besitzt eine so herzliche Aufrichtigkeit. Ich bin sicher, ihr werdet euch wiedersehen."

Dieser Mann sah Chu Wanning so ähnlich. Während er sprach, tropfte eine Wachsperle an der Kerze herunter, und die Flamme flackerte, so dass seine Gesichtszüge im Schatten lagen. In der Dunkelheit schien Mo Ran Chu Wannings Gesicht in einem Moment der Sanftheit zu sehen, schien Chu Wannings Stimme zu hören, die sagte, dass sie sich wiedersehen würden.

Unwillkürlich stiegen Mo Ran die Tränen in die Augen. Schnell neigte er den Kopf und schlug die Hände zu einer Geste des Respekts zusammen. Seine Stimme war heiser. „Wirklich, ich danke Ihnen sehr."

Doch Chu Xun gab keine Antwort. Selbst als Mo Ran sich umdrehte und die Tür hinter sich schloss, starrte er ihm immer noch hinterher, mit einem Hauch von Verwirrung in seinen Phönixaugen. Waren das...Tränen, die er in den Augen des jungen Mannes sah?

Geister können nicht weinen. Hatte er sich geirrt? Oder...

Er drehte sich um und warf einen Blick über seine Schulter auf die Vase mit dem leisen blühenden Zweig aus Hai-Tang-Blüten. Blüten aus der lebendigen Welt konnten der Yin-Energie der Unterwelt nicht standhalten ‒ selbst nach seiner sorgfältigen Pflege war noch ein Blütenblatt heruntergeflattert und auf dem gealterten Holz des Tisches gelandet.

Chu Xun trat heran und hob das leuchtende Blütenblatt auf. Als er es zwischen seinen Fingerspitzen hielt, verwelkte und zerbröckelte es innerhalb eines Herzschlags und zerfiel zu Staub.

„Wache."

„Herr Chu." Kaum hatte er gesprochen, trat ein maskierter Geist ein und stellte sich respektvoll an die Seite.

Chu Xun drehte sich nicht um. Er starrte auf die Hai-Tang-Blüten und fragte mit leiser Stimme: „War dieser Mann kürzlich in der Halle-des-Rückenwinds?"

„Nein, war er nicht. Es ist so wie immer: Alle zehn Tage gibt es einen Hai-Tang-Blütenzweig. Er wagt es nicht, selbst zur Halle-des-Rückenwinds zu kommen, und lässt sie immer von einem anderen liefern."

Chu Xun blieb still.

„Was ist los, Herr? War an diesem Gongzi vorhin etwas verdächtig? Wenn dieser Mann es wagt, Leute zu schicken, die Euren Frieden stören, könnt Ihr Her Yanluo jederzeit bitten, ..."

„Nein." Chu Xun schüttelte seine Benommenheit ab, unterbrach seinen Untergebenen und wandte sich mit einem schwachen Lächeln an den Geist. Er atmete schwer aus. „Es ist nichts. Ich bezweifle, dass dieser Mann ihn geschickt hat. Und selbst wenn, dann ist das Kind nur gekommen, um jemanden zu suchen; es hat nichts mit mir zu tun."

„Aber was, wenn dieser Mann ihn geschickt hat? Warum sollte er sich die Mühe machen..."

„Er war nicht an diesem Unrecht beteiligt." Chu Xun stand ruhig neben dem blühenden Zweig, seine Robe hatte die Farbe von Schnee. „Lasst ihn in Ruhe."

_______________________________

 

Auf der Straße war keine Menschenseele. Mo Ran verließ die Halle-des-Rückenwinds und ging in Richtung Nordosten. Er trug das Porträt von Chu Wanning von Tür zu Tür, aber es war, als würde man eine Nadel auf dem Grund des Meeres suchen. Diejenigen, denen er das Porträt zeigte, winkten schnell mit der Hand und wiesen es zurück. Manche sahen es gar nicht an und gingen einfach vorbei.

„Der Typ auf der Zeichnung? Ich habe ihn noch nie gesehen."

„Ich habe ihn nicht gesehen, ich habe ihn nicht gesehen! Stören Sie mich nicht bei meiner Arbeit."

„Geh mir aus dem Weg! So verdammt nervig! Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?! Verpiss dich! Welches Porträt? Nimm es von meinem Gesicht!"

Die Bewohner von der Stadt Nanke waren zwar Geister, aber diese Geister hatten die Gefühle und Sehnsüchte des Lebens noch nicht aufgegeben. Da sie zusammenlebten, hatten sich die meisten allmählich wieder an den vertrauten Rhythmus ihrer Tage in der sterblichen Welt gewöhnt. In diesen acht bis zehn langen Jahren suchten sie Freunde oder Verwandte auf oder adoptierten eine tote Katze oder einen Hund. Kurzum, sie lebten weiter wie vor ihrem Tod. Obwohl sie nicht zu schlafen brauchten, legten sie sich aus Gewohnheit in ihre Betten und ruhten sich aus, wenn der Mond hoch am Himmel stand.

Als sich die Nacht um ihn herum näherte, waren noch weniger Menschen bereit zu reden, und niemand hatte irgendwelche Hinweise zu geben. Mo Ran ging die lange, endlose Straße hinunter, die sich nach Nordosten erstreckte. Er klopfte an jede Tür und besuchte jedes Haus, zog den Kopf ein und lächelte entschuldigend...

„Ich habe es Euch schon gesagt! Ich habe nicht richtig hingeschaut! Ich habe genauer nachgedacht und der Kerl, den ich gesehen habe, war gar nicht der auf der Zeichnung. Lassen Sie mich endlich in Ruhe!" Der bärtige Mann versuchte, die Tür zu schließen, bereit, sich für die Nacht mit seiner Frau und den Kindern der Unterwelt zurückzuziehen.

Mo Ran war diesem Mann auf der Straße begegnet, als er vorhin auf den nach Hause war, und hatte ihn nach dem Porträt befragt. Der Mann hatte eine Weile überlegt und gesagt, er erinnere sich, die Person auf dem Porträt vor ein paar Tagen in der Nähe des Ostmarktes gesehen zu haben. Dann hatte seine Frau ihm einen Blick zugeworfen. Wie von einer plötzlichen Erkenntnis getroffen, schwieg er, fuchtelte mit den Händen und beteuerte, er habe sich geirrt.

Aber Mo Ran war sich sicher, dass dieser Mann etwas wusste, und so hatte er sich geweigert, aufzugeben. Er hatte ihn auf dem ganzen Heimweg verfolgt und ihn bei jedem Schritt angefleht.

Der Mann schob ihn unsanft zur Tür hinaus und zog an dem hölzernen Türriegel. Mo Ran flehte verzweifelt: „Bitte überlegen Sie es sich noch einmal! Wo auf dem Ostmarkt? Und wohin ist er danach gegangen? Bitte ..."

„Ich sagte, ich weiß es nicht!"

Der Aufruhr erregte die Aufmerksamkeit der Geister in der Nähe, und bald versammelte sich eine Menschenmenge, um zuzuschauen. Der Mann brüllte wütend und schlug die Tür zu, ohne auf Mo Rans Hand zu achten, die noch im Türrahmen steckte.

Die Tür knallte grob auf seine Finger. Der Schmerz war unerträglich, aber das war ihm im Moment egal. Mo Ran schluckte den Schmerz hinunter und weigerte sich, seine Hand aus dem schmalen Spalt zu ziehen, stattdessen schob er sie mit aller Kraft weiter. „Ich flehe Euch an, bitte denkt noch einmal darüber nach. Ich will nur wissen, wo er danach hingegangen ist..."

Der Mann riss die Tür auf und schob Mo Ran, ohne auf das Blut an seinen Fingern zu achten, grob zurück. „Ich sagte bereits, ich weiß es nicht!", schrie er. „Und jetzt verpiss dich!"





⇐Vorheriges Kapitel Nächstes Kapitel⇒


GLOSSAR

6 Kommentare:

  1. o______________________o
    Wir sind kein bisschen weitergekommen, außer dass wir neues über Chu Xuns seine Frau erfahren haben.
    Bzw. der Geisterdoktor ist sowas von durch mit Mo Ran XD
    Es scheint, als wäre Mo Ran gerade in einer Sackgasse. Das Chu Wanning zwei Erdseelen hat, ist wohl möglich. Aber die muss man auch erst finden. Und dann findet Mo Ran jemand, der Chu Wanning vielleicht gesehen hat und verhält sich plötzlich komisch und sehr abweisend.
    Irgendwas muss er wohl wissen und natürlich kommt da der nächste Cliffhanger. Am liebste würde ich jetzt Mo ran zur Seite schieben und mir den Mann selbst vorknöpfen *mit wehendem weißem Haar das Ganze in die Tat umsetz*
    Aber Spaß mal beiseite. Das Kapitel hatte wieder was Drückendes an sich. Allein Chu Xun *sigh* Und wie Mo Ran fast aufgeflogen wäre. Vielleicht ahnt Chu Xun weiterhin was, oder es wird gar nicht weiter darauf eingegangen. Jetzt heißt es fürs erste wieder warten. #__#

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Mo Ran stellt aber auch merkwürdige Fragen. Immerhin ist das mit einer doppelten Seele eine absolute Seltenheit.
      Ich würde dir bei deinem vorhaben die Daumen drücken.
      Das er abweisend wird kann ich verstehen - den Grund erfährt man noch - nichts destotrotz ist es für MO Ran sehr schmerzlich und ein Schlag in sein Gesicht sowie sein ohnehin schon kaum vorhandenes Selbstbild.
      Ja, Meatbun - und ich - sind bei den Cliffis sehr zu verlässig, was wäre das Leben den schon ohne Spannung. ^^
      Ich glaube Chu Xun weiß sehr wohl um Mo Rans Sterblichkeit. Aber er sieht, dass Mo Ran harmlos u
      ist und nur seinen Shizun finden will, weshalb er nichts unternimmt und es auch den anderen untersagt. Tja er ist und bleibt eine gute Seele. <3

      Löschen
  2. Oh je, wann findet er endlich seinen Shizun, scheint ja eine längere Sache zu werden

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Yep, so super schnell geht das leider nicht. Aber es wird noch seine witzige Stellen bekommen, versprochen.

      Löschen
    2. Ich bin sehr gespannt und freue mich schon darauf

      Löschen
    3. Deine Spannung wird leider öfters auf die Probe gestellt werden und zwar durch Cliffhanger. Aber keine Sorge nachdem Unterwelt-Abschnitt hört, dass mit den vielen Cliffhangern auf.

      Löschen