Mo Ran wanderte allein durch die Straßen. Ein paar Geister trieben noch unheimlich umher, und die blauen Steinstufen waren mit einsamen Moosklumpen bedeckt, nass und glitschig unter seinen Füßen.
Erst als er sich von der heftigen Auseinandersetzung beruhigt
hatte, bemerkte er schließlich, dass seine Finger blutig geschürft waren. Der
grob gezimmerte Türrahmen war mit Splittern übersät, die sich in seine Hand
bohrten und eine furchtbare Sauerei verursachten. Zum Glück war es jetzt so
dunkel, dass die Geister um ihn herum das nicht bemerkten.
Eine Zeit lang starrte er still auf seine verletzte Hand,
die Wimpern gesenkt. Verglichen mit dem Schmerz in seinem Herzen taten die
grausamen Wunden an seiner Hand gar nicht so sehr weh.
Mo Ran blickte zurück auf die Tür, die fest verschlossen
war. Er wusste genau, dass der Mann dahinter kein Wort mehr mit ihm reden
würde. Eine solche Zurückweisung war ihm nicht fremd. Mo Ran kannte sich mit
Bösartigkeit so gut aus, dass er allein an einem Blick oder einer Handvoll
Worte ablesen konnte, ob seine Bitte etwas bewirken würde oder nicht. Um
ehrlich zu sein, wusste Mo Ran in dem Moment, in dem der Mann seinen Ton
geändert hatte, dass er kein ehrliches Wort mehr aus ihm herausbekommen würde. Er
wollte nur nicht aufgeben, wenn es um Chu Wannings Erdseele ging. Also hatte er
so lange ausgeharrt, bis man ihn nach draußen schob und ihm die Tür vor der
Nase zuschlug.
Es war schon viele Jahre her, dass er das letzte Mal so
brutal abgewiesen worden war. Aber manchmal konnte der Lauf der Zeit nichts
wirklich heilen. Auch könnte in glücklichere Verhältnisse zu kommen, änderte
nicht, was angeboren war - manche Dinge waren einfach in die Knochen eingemeißelt.
Xue Meng hatte Mo Ran einmal als Abschaum bezeichnet. Es
war komisch ‒ diese giftigen Worte hatten die Würde des Lieblings des Himmels nicht
im Geringsten beschädigt. Denn er hatte recht. Mo Ran war das, was man Abschaum
nannte. Man hatte ihm schon öfter üble Dinge nachgesagt, mehr als er zählen
konnte. Er war daran gewöhnt.
Ein letztes Mal warf er einen Blick über seine Schulter auf
die fest verriegelte Holztür. Dann stapfte er langsam davon, begleitet von
leisem Kichern aus der Menge der zuschauenden Geister. Eine einsame Gestalt
inmitten dieser Stimmen des Spottes und des Hohns.
Diese Szene elender Hilflosigkeit, die sich nach so vielen
Jahren noch einmal abspielte, überschnitt sich in seinem Kopf mit den fernen,
verblassten Erinnerungen an seine Kindheit. Mo Ran setzte einen Fuß vor den
anderen. Die Umstände waren sich so ähnlich, dass er sich unweigerlich an die
Jahre erinnerte, in denen es nur ihn und seine Mutter gegeben hatte...
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Damals hatten sie sich noch nicht im Freudenhaus
niedergelassen, sondern zogen durch die Straßen von Linyi in der Nähe der
Rufeng-Sekte.
Damals hatte er wenigstens noch seine Mutter…
Seine Mutter liebte ihn. Er war noch klein, und sie wollte
nicht, dass er allein umher lief und nach Essen bettelte, also ließ sie ihn
immer in einem verlassenen Holzschuppen zurück, während sie sich auf die Straße
wagte, um zu singen und aufzutreten.
Mo Rans Mutter war geschickt und konnte flink auf einer
Bambusstange tanzen, so dass sie es normalerweise schaffte, jeden Tag eine
Handvoll Münzen zu verdienen ‒ genug für ein Stück Shaobing
und eine Schüssel Reisbrei, die sich Mutter und Sohn teilten. Wie jede Mutter
wollte auch sie, dass ihr Kind gut isst. Aber Mo Ran nahm nur ein paar Bissen
zu sich und weigerte sich dann, mehr zu essen, weil das Shaobing zu hart oder
der Reisbrei zu fade war oder weil er schon satt war.
Sie wusste nicht, dass ihr kleiner Junge sie jedes Mal
heimlich beobachtete, wenn sie seufzte und die ‘übrig gebliebene‘ Hälfte des Shaobings
und die halbe Schüssel mit Reisbrei aß. Er rollte sich zusammen und tat so, als
schliefe er, wobei er sie mit eng zusammengekniffenen Augen beobachtete, und
entspannte sich erst, wenn er sicher war, dass sie ihren Bauch befüllt hatte. Dann
fühlte er sich wohl, trotz des Knurrens seines Eigenen.
Sie wusste auch nicht, dass ihr Kind jeden Tag, wenn sie
als Straßenmusikerin auf dem Ostmarkt von Linyi auftrat, vom Holzstapel kroch
und sich zwei Straßen weiter zum Betteln schlich.
Seine Mutter sang ein wunderschönes Lied, während sie auf
ihrer zehn Fuß hohen Stange balancierte und mit ihrem gebrechlichen Körper
darauf tanzte. Der Boden unter ihr war mit zerklüfteten Steinen und
Keramikscherben übersät. Würde sie fallen, würden all diese scharfen Stücke
ihre Haut durchbohren. Aber die Zuschauer fanden die Gefahr neu und aufregend,
und so setzte sie ihr bescheidenes Leben aufs Spiel und tanzte, nur um ein
Lächeln von den reichen Zuschauern zu ernten.
Zwei Straßen weiter bettelte ihr Kind von Tür zu Tür auf
der Straße, mit einem Grinsen auf den schmutzigen Wangen, während es immer
wieder die gleichen Glücksgrüße wiederholte, in der Hoffnung auf einen Happen
zu essen zu bekommen. Aber er bekam nicht einmal einen Bissen, zumindest nicht
oft.
Eines Tages schlenderte die junge Frau einer wohlhabenden
Familie, schwanger, gelangweilt und schlecht gelaunt, durch die Straßen, als
sie Mo Rans Mutter beim Tanzen auf der Stange entdeckte.
Sie trat zur Seite und sah einige Minuten lang fasziniert
zu. Dann schickte sie einen Diener los, um mit der Tänzerin zu sprechen: „Diese
zerbrochenen Steine und Keramikstücke, die Ihr da habt, sind nur zur Show,
nicht wahr? Wo bleibt da die Aufrichtigkeit? Unsere gnädige Frau sagt, wenn Ihr
sie durch Messer mit der nach oben ausgerichteten Klinge ersetzt und darüber
tanzt, wird sie Euch mit zehn Tael Gold belohnen."
Angesichts einer solch grausamen Forderung, die praktisch
ihr Leben fordert, antwortete die Mutter nur: „Ich kann es mir nicht leisten,
Messer zu kaufen."
Die reiche Frau lachte und schickte jemanden zum
Eisenwarengeschäft, um hundert scharfe Messer zu kaufen, die von ihren Dienern
auf dem Boden aufgerichtet wurden.
„Nun tanze", sagte die reich geschmückte Frau fröhlich
und streichelte ihren dicken Bauch.
Eine Schar von bösen Geistern und Dämonen, die diesem
Schauspiel beiwohnen wollten, scharte sich bald um sie, alle in Seide und Jade
gekleidet, die im Sonnenlicht funkelten. Wie Aasgeier, die den Blutgeruch in
der Luft witterten, versammelten sie sich, um sich an der Leiche zu laben, mit
ausgestreckten Hälsen und funkelnden Augen.
„Na los, tanzt."
„Tanzt gut und ich bezahle Euch."
„Es gibt Trinkgeld!"
In den Regionen, die unter der Aufsicht der Rufeng-Sekte
standen, gab es keinen Mangel an wohlhabenden Menschen. Was ihnen fehlte, war
die Aufregung und Lebendigkeit solcher todesverachtenden Wetten. Die Seiden-
und Satinkleider, das Gold und die Perlen schlossen sich um die Mutter mit der
Bambusstange. Sie umgaben die mittellose Frau in Lumpen.
Und so lächelte diese Frau, deren Leben so billig war wie
wildes Gras am Straßenrand, und knickste vor der Schar der Aasgeier. Sie dankte
ihnen für ihre Gunst und begann einen anmutigen Tanz auf der Stange, leicht wie
eine Schwalbe.
Sie tanzte über den Klingen und riskierte den Tod, um sich
ihre Gunst zu sichern. Doch obwohl sie so geschickt war, blickte sie
versehentlich auf die Reihen böser Messer hinunter, als sie zur Landung
ansetzte. In diesem kurzen Moment der Panik kippte ihr Bambusstab ein wenig. Erschrockene
Schreie ertönten aus der Menge, als sie fiel.
Obwohl es ihr gelang, dem dichtesten Messerdickicht
auszuweichen, streifte sie dennoch die Klingen und schlitzte sich die Beine
auf. Die Menge schrie erneut auf, und Blut spritzte auf die Straße. Sie
ignorierte den Schmerz und stand schnell wieder auf. Mit einem Lächeln senkte
sie den Kopf, um sich zu entschuldigen.
Die Zuschauer grinsten.
„Die Fähigkeiten des kleinen Fräuleins sind der Aufgabe
nicht ganz gewachsen. Ihr solltet lieber noch ein bisschen üben", sagte
einer.
„Stimmt, man muss sich mehr anstrengen, wenn man sein Geld
verdienen will. Mit halbherzigem Dilettantismus kommt man nicht weit",
spottete ein anderer.
Ein paar der freundlicheren Leute, deren Augen voller
Tränen waren, hatten mehr Mitgefühl. „Ja, es reicht schon. Sieht euch die
Verletzung des armen Mädchens an. Geht schnell in die Apotheke, meine Liebe,
und holt etwas Medizin."
„Ich kann nicht..." Die Frau zögerte. „Ich habe kein
Geld für Medizin..."
Die Mitleidigen zögerten. Einige seufzten, andere hoben die
jade- und perlenbesetzten Hände, aber keiner sprach. Ein paar tupften sich die
Augenwinkel ab, als wären sie tief bewegt.
„Wie erbärmlich."
„In der Tat, in der Tat."
„Da Ihr Leben so schwierig ist, werde ich Ihnen etwas Geld
geben", sagte eine ältere Frau mit einem dicken Bauch. Sie holte ihren
prall gefüllten Geldbeutel hervor, fischte eine Handvoll Goldblättchen heraus,
hielt sie in der Hand und wühlte weiter. Schließlich förderte sie drei
Kupfermünzen zutage. Sie wog sie in ihrer Hand, steckte zwei davon in ihren
geschwollenen Beutel zurück und legte dann feierlich eine Kupfermünze in die
Handfläche von Mo Rans Mutter. Nachdem sie großzügig gespendet hatte, kullerten
der älteren Frau zwei Spuren wohlverdienter Tränen über die Wangen. In einem
Ton tiefen Wohlwollens sagte sie: „Fräulein, das haben Sie verdient. Nehmen Sie
es."
„Dankeschön...", murmelte die Frau hohl und
umklammerte die Kupfermünze, für die sie ihr Leben riskiert hatte.
Dankeschön…
Und was war mit der reichen Dame, die zehn Tael Gold
versprochen hatte? Sie war bereits fluchend davon gestapft. Die Frau taumelte
ihr auf blutenden Beinen nach. Sie wollte nach dem Geld fragen, aber die Diener
der Frau stießen sie zu Boden und fluchten so laut, dass man sie eine ganze
Straße weiter hören konnte.
„Was für ein Unglück!"
„Unsere Herrin muss ihr Kind in Sicherheit bringen! Der
Anblick von Blut ist unheilvoll! Der Herr wird sich große Sorgen machen, wenn
er es hört."
„Ihr habt immer noch die Frechheit, Geld zu verlangen! Das
nennt Ihr einen Tanz? Ihr könnt von Glück reden, dass Euer Blut nicht auf die gnädige
Frau gekommen ist, sonst wäre die Hölle los!"
„Haut ab!"
Die Frau wurde unsanft zu Boden geschleudert. Aber diese Frau
und ihre Dienerschaft gehörten zu einer wohlhabenden und einflussreichen
Familie in Linyi ‒ niemand war bereit, für sie den Kopf hinzuhalten. Sie
krümmte sich vor Schmerzen auf dem Boden und wälzte sich wie ein Insekt im
Dreck.
Keiner half ihr auf. Keiner öffnete seine Geldbörse für
sie. Sie hatte mit ihrem Leben getanzt, nur um eine einzige kalte Kupfermünze
zu bekommen. Die freundliche Frau, die es ihr in die Hand gedrückt hatte,
sagte, sie hätte es verdient.
Sie verschwendete keinen Gedanken an sich selbst ‒ aber sie
hatte heute nur eine Münze verdient. Was konnte sie damit kaufen? Ein einziges
Stück Shaobing ohne jede Füllung, nicht einmal eine Schüssel Reisbrei dazu. Und
mit ihrem verletzten Bein würde sie morgen nicht tanzen können, und was war mit
ihrem kleinen Jungen... Er war noch so klein, so mager, und jetzt würde er
wieder Hunger leiden...
Dieser Gedanke brachte sie um den Verstand. Sie rollte sich
dort im Schlamm zusammen und weinte jämmerlich, ihre Stimme war rau und bebend.
Die Schaulustigen konnten das Geräusch nicht ertragen. Sie seufzten und
begannen sich zu zerstreuen.
In diesem Moment brach ein schmutziges, übel riechendes
Kind durch die Menge.
„Mama! Mama!" Mo Ran rannte zu ihr und schrie
wie ein gefangenes Tier. Er umarmte sie. Ein niedriges Kind, das seine niedrige
Mutter umklammert. Wie ein Käfer, der sich an das Gras klammert, wie ein Strohhund, der sich an die Wasserlinsen klammert.
In den Augen der Frau blitzten Überraschung und Panik auf,
als sie ihn sah. Sie mochte schwach sein, aber Mütter waren stark. Sie hörte
sofort auf zu weinen - das Leben war schon schwer genug, jeder Tag
war wie in der Hölle einzuschlafen und in der Gleichen zu erwachen ‒ sie wollte
nicht, dass ihr Sohn sie schwach und hilflos sah. Die Tränen auf ihrem Gesicht
waren noch feucht, als sie ihre Gesichtszüge schnell zu einem Lächeln formte. „Aiya,
sieh dich an, was machst du denn hier? Mama geht es gut. Es ist nur ein
Kratzer... Oh, aber sieh mal..."
Sie stopfte die feuchte Kupfermünze, die sie in ihrer Hand
hielt, in seine kleine Handfläche. Mo Ran schüttelte immer wieder den Kopf, und
Tränen hinterließen Spuren in seinem kleinen Gesicht.
„So, das reicht für ein Stück Shaobing. Geh schon... Geh
und kauf dir eins, Mama wartet hier auf dich. Dann können wir nach Hause gehen."
Nach Hause? Wo war das Zuhause? Der alte, baufällige
Lagerschuppen? Oder der Schafstall, in dem sie geschlafen hatten, nur um zwei
Tage später wieder rausgejagt zu werden...
Mo Ran kämpfte gegen das Schluchzen an. Feuer brannte in
seinen Augen, als er sagte: „Bleib einfach hier sitzen und ruh dich eine Weile
aus, Mama."
„Was hast du vor ‒ mach keine Dummheiten."
Mo Ran stürzte herbei und hob ein Messer auf. Er rief laut
und deutlich mit seiner noch jungen Stimme, um die Aufmerksamkeit der sich
zerstreuenden Menge zu erregen: „Meine Damen und Herren, bitte warten Sie!
Bitte warten Sie! Wir haben noch eine besondere Darbietung für Ihre
Herrschaften! Bitte werfen Sie einen Blick..."
Mo Ran besaß seit seiner Kindheit eine angeborene
spirituelle Energie. Auch wenn er sie nie kultiviert hatte, war er viel stärker
als ein gewöhnlicher Mensch ohne diese Fähigkeit. Der Junge hielt die scharfe
und robuste Klinge in seinen Händen. Mit einem leisen Schrei zerbrach er sie in
zwei Teile und warf die Stücke auf den Boden.
Die Menge war erstaunt, und die wenigen Kultivierer unter
ihnen noch mehr. „He, der Junge ist nicht schlecht."
„Noch eins!", rief Mo Ran. Diesmal nahm er zwei Messer
in die Hand und zerbrach beide zusammen.
„Gut!" Jemand aus der Menge klatschte.
„Mach drei!"
Der kleine Junge fügte ein weiteres Messer hinzu, und noch
eines, und die Menge wurde immer lebhafter, während der Stapel immer dicker und
schwieriger zu brechen wurde.
„Gege, Jiejie! Onkel und Tanten! Bitte gebt etwas
Trinkgeld, dann lege ich noch mehr dazu."
Die Leute waren begierig auf ein Spektakel. Sie warfen die
billigsten Kupfermünzen, die sie finden konnten, vor ihm auf den Boden. Um
dieser Münzen willen legte Mo Ran ein Messer nach dem anderen nach, bis seine
Hände blutverschmiert waren und er wirklich kein einziges mehr zerbrechen
konnte. Die Aasgeier schlugen mit ihren nachtschwarzen Flügeln und zerstreuten
sich.
Mo Ran hob die Kupfermünzen auf, drückte sie vorsichtig in
seine schmutzigen kleinen Hände und ging zu seiner benommenen und weinenden
Mutter hinüber.
„Mama", lächelte er. „Wir können dir jetzt Medizin
besorgen."
Ihre Tränen fielen, unkontrolliert. „Mein Kind... Mein
guter Junge... Lass Mama deine Hände sehen..."
„Mir geht es gut..." Sein Lächeln war strahlend und
rein. Es versengte ihr das Herz.
Sie zog ihren Sohn in ihre Arme und umarmte ihn fest. „Es
ist alles Mamas schuld, dass ich mich nicht um dich kümmern kann", sie schluchzte,
„Ich habe dich in deinem jungen Alter schon so viel leiden lassen...“
„Es ist alles gut", sagte Mo Ran leise, in den Armen
seiner Mutter, „Es macht mir nichts aus, solange ich bei dir bin, Mama. Wir
werden es gemeinsam durchstehen, und wenn ich groß bin, werde ich dir ein gutes
Leben bieten."
Sie lächelte und wischte sich die Tränen aus den Augen. „Es
ist in Ordnung, wenn es kein gutes Leben ist. Solange du stark und gesund
aufwächst, wäre das in Ordnung... das würde reichen."
Mo Ran nickte energisch. Dann sagte er plötzlich leise: „Mama,
wenn ich in Zukunft etwas aus mir mache, musst du dir das nie wieder gefallen
lassen. Ich werde dafür sorgen, dass sich all die Leute von eben bei dir
entschuldigen, und wenn sie das nicht tun, werde ich sie auf Messern
tanzen lassen. Ich‒"
„Dummes Kind. So darfst du nicht denken." Die
freundliche, sanfte Frau streichelte ihrem Sohn über das Haar und flüsterte: „So
darfst du auf keinen Fall denken. Sei nicht nachtragend. Ich möchte sehen, wie
du zu einem guten Kind heranwächst. Versprich mir, dass du ein guter,
freundlicher Mensch sein wirst. Okay?"
Mo Ran war damals noch so jung, wie ein kleines, zartes
Pflänzchen ‒ nur ein sanfter Schubs und er würde sich leicht in eine bestimmte
Richtung neigen ‒ und seine Mutter, ungebildet, aber rein, war sein erster
Leuchtturm. Und so dachte der kleine Mo Ran eine Weile darüber nach, ziemlich
verwirrt. Schließlich sagte er mit einem Anflug von Ernsthaftigkeit. „Okay,
Mama. Ich verspreche es. Dann... Dann werde ich in der Zukunft, wenn...wenn ich
etwas aus mir gemacht habe, viele Häuser für die Menschen bauen, die kein
Zuhause haben, und viel Essen anbauen für die Menschen, die nicht genug zu
essen haben. So wird niemand mehr so leben müssen wie wir."
Die Frau starrte eine Weile ins Leere, dann seufzte sie. „Das
wäre wunderbar."
Der kleine Junge nickte zustimmend und wiederholte: „Das
wäre wunderbar."
In diesem Moment konnte sich keiner von beiden vorstellen,
dass ein Kind, das solche Worte sagen konnte, später mit blutverschmierten
Händen durch Knochenfelder schreiten und den Gestank von Elend und Verderben
verbreiten würde, während Geier und Krähen über ihm kreisten ‒ dass er Kaiser
Taxian-Jun werden würde, die Geißel des einfachen Volkes.
Und Kaiser Taxian-Jun, die Geißel des gemeinen Volkes,
blickte selten, wenn überhaupt, auf dieses Kapitel seiner Vergangenheit zurück.
Er löste das Versprechen nicht ein, das er an jenem Tag in den Armen seiner
Mutter gegeben hatte, dieses Versprechen, das er feierlich, mit klaren Augen
und zarter Stimme gesprochen hatte.
Damals, unter der Führung seiner Mutter, hatte Mo Ran, so
schwer es auch war, nie jemanden gehasst ‒ auch wenn er sich etwas unzufrieden
fühlte.
Ein Tag nach dem anderen verging auf diese Weise. Die
Aufführungen auf der Straße waren für die Passanten beim ersten Mal neu, beim
zweiten Mal langweilig und beim dritten Mal nervig. Schließlich konnten Mo Ran
und seine Mutter mit ihrer Straßenkunst keine einzige Kupfermünze mehr
verdienen und mussten betteln gehen.
Mo Ran erinnerte sich an einen Jungen aus einer
wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Er war etwa so alt wie Mo Ran und hatte ein
großes Muttermal an seinem Mundwinkel. Er erinnerte sich an diesen Jungen, der
mit einer Schüssel in der Hand am Tor des weitläufigen Hofes seiner Familie
saß. Wahrscheinlich lernte der Junge gerade erst, mit Stäbchen umzugehen, und
so aß er die goldenen, knusprig gebratenen Teigtaschen in der Schüssel, indem
er mit den Bambusstäbchen auf jede Einzelne stieß. Er war ein wählerischer Esser
und aß nur die Füllung, spuckte dann die Teigmäntel aus und warf sie für die
Hunde auf den Boden.
Mo Ran ging mit vorsichtigen Schritten hinüber und stellte
sich vorsichtig an die Seite.
Als der Junge sah, wie schmutzig und stinkend der Kleine
war, erschrak er. „Wer bist du?!", kreischte er.
„Junger Meister", fragte Mo Ran leise, „die Teigmäntel
der Teigtaschen ... könnte ... könnte ich sie haben?"
„Du willst, dass ich sie dir gebe? Warum sollte ich sie dir
geben?"
„Du...du isst sie sowieso nicht, also dachte ich, ich frage
einfach mal..."
„Und was ist, wenn ich sie nicht esse? Unser Wangcai wird
sie fressen." Der Junge deutete auf die beiden fetten Hunde mit dem
glatten Fell und sagte ärgerlich: „Wir können unsere Hunde so schon kaum
ernähren, wie könnte ich sie dir geben?"
Mo Ran lächelte ehrerbietig. „Also, wenn die Hunde sie
nicht aufessen..."
„Als ob sie das nicht täten! Sie bekommen jeden Tag
geschmortes Fleisch, und selbst das reicht nicht aus. Das sind nur die
Teigmäntel der Teigtaschen, zwei Bissen und sie sind weg. So oder so, nichts
für dich! Und jetzt, husch, husch!"
Als Mo Ran die Worte geschmortes Fleisch hörte, konnte er
nicht anders, als diese Hunde anzuschauen. Plötzlich dachte er - so fett wie
sie waren - wenn sie gekocht würden, wären sie... Er starrte die Hunde an und
schluckte schwer.
Der Junge bemerkte es. Er erstarrte für eine Sekunde und
rief dann schockiert: „Was hast du vor?!"
„Ich... Nichts... Ich habe nur..."
„Willst du Wangcai und Wangfu essen?
„N-nein!" Mo Ran stritt es panisch ab. „Ich war nur
sehr hungrig und konnte nicht anders, es tut mir leid..."
Aber der kleine junge Meister hatte aufgehört zuzuhören. Bei
diesen Worten konnte er nicht anders, als daran zu denken, das Blut wich
aus seinem Gesicht. Wie konnte ein wohlgenährter junger Meister nur begreifen,
dass jemand seine süßen kleinen Wachhunde als Essen betrachtete? Dieser Junge
war ein Verrückter. Erschrocken begann er zu schreien. „Jemand soll kommen!
Beeilt euch! Jagt ihn weg!"
Die Hausangestellten drängten sich um Mo Ran und schlugen
und traten auf ihn ein, bevor er ein weiteres Wort sagen konnte. Unter dem
heftigen Regen von Schlägen versuchte er, so viele der gebratenen Teigmäntel
und Teigtaschen zu ergattern, wie er konnte. Ganz gleich, wie hart sie
zuschlugen, er hielt sie fest in seinen Händen und ließ sie nicht los.
Der kleine junge Meister war erschrocken. Er warf die
restlichen Teigmäntel zusammen mit seinen Essstäbchen auf den Boden und huschte
davon.
Mo Ran kroch mühsam Zentimeter für Zentimeter weiter und
schleppte seinen kleinen, mageren Körper, der blau und lila geschlagen worden
war. Eines seiner Augen schmerzte zu sehr, um es zu öffnen - das Ergebnis eines
gut platzierten Trittes - doch er lächelte glücklich, als er nach den übrig
gebliebenen Teigtaschen griff. Es waren noch zwei übrig. Mit der noch
enthaltenen Füllung ... Einer für ihn, einer für seine Mutter... Oder beide für
seine Mutter, und nur für ihn die Teigmäntel, dass würde schon passen...
Aber bevor er mit seiner Beute gehen konnte, stürzte einer
der Diener mit dem Fuß in das Chaos und zerdrückte die auf dem Bambusstäbchen
aufgespießten Teigtaschen. Die knusprigen Hüllen zerbrachen, und die
Hackfleischfüllung wurde zu Brei zermalmt.
Mo Ran umklammerte das schmutzige, zerbrochene Stäbchen wie
benommen, während Tritte und Schläge auf ihn einprasselten. Er konnte den
Schmerz nicht spüren, doch weil diese Teigtaschen nicht mehr gegessen werden
konnten, begannen seine Tränen zu fließen. Drückten sich zwischen den
geschwollenen Augenlidern hindurch und flossen über das kleine Gesicht, das so
schmutzig war, dass seine Gesichtszüge kaum zu erkennen waren. Alles, was er
gewollt hatte, war das übrig gebliebene, unerwünschte Essen eines anderen Kindes.
Warum sollten sie es lieber verschwenden, zerkleinern und zu Brei verarbeiten,
als es ihm zu geben?
Später, als Mo Ran ein junger Meister des Sisheng-Gipfels
wurde, versuchten viele in der Sekte, sich bei ihm einzuschleimen und sich
seine Gunst zu sichern. An seinem Geburtstag wurde er mit Geschenken und
Glückwünschen von Leuten überhäuft, mit denen er kaum je gesprochen hatte.
Das Kind, das einst auf dem Boden krabbelte und nach
weggeworfenen Teigmänteln und Teigtaschen kramte, wurde nun von allen Seiten
gelobt und umschwärmt. Und dennoch - als er vor dem Stapel sorgfältig
ausgewählter Geschenke stand, überkam ihn ein unbestimmtes Gefühl des Grauens.
Er fürchtete, dass diese Geschenke verschwinden würden,
dass sie zerbrechen würden, dass etwas Unerwartetes passieren würde und alles
mit den Füßen zertreten würde, wie die Teigtaschen, die er einmal in der Hand
gehalten hatte, aber nie zu essen bekam. Also verbrauchte er schnell alles, was
er gebrauchen konnte, und aß alles, was er essen konnte. Für den Rest grub er
ein kleines Geheimfach in seinem Zimmer aus und versteckte die prächtigen
Geschenke sorgfältig darin, wobei er sie jeden Tag einmal und dann zweimal
zählte, nur um sicherzugehen.
Xue Meng hatte sich über ihn lustig gemacht, auf ihn
gezeigt und gelacht. „Ha ha ha! Das ist nur eine Schachtel mit Gebäck aus der
Lin'ans Mondschein-Konditorei. Wenn sie schlecht werden oder in den Müll
wandern, ist das nicht schlimm! Aber sieh dich nur an, wie du sie alle auf
einmal in dich hineinstopfst. Bist du in deinem letzten Leben verhungert oder
so? Niemand wird mit dir um sie kämpfen."
Mo Ran war damals erst vor Kurzem auf dem Sisheng-Gipfel
angekommen und fühlte sich ehrlich gesagt noch zutiefst unwohl und unsicher.
Deshalb grinste er angesichts des Spottes seines Cousins nur, wobei ihm immer
noch Krümel in den Mundwinkeln klebten, dann senkte er den Kopf und öffnete
eine weitere Schachtel mit Gebäck.
Xue Meng war erstaunt. „Was für ein Appetit! Bist du nicht
satt?"
Mo Ran aß ohne ein Wort weiter.
Nach einer Pause sagte Xue Meng: „Wenn du satt bist, musst
du dich nicht zwingen zu essen. Ich bekomme auch jedes Jahr tonnenweise Gebäck
zu meinem Geburtstag, aber wer kann schon so viel essen..."
Mo Rans Wangen waren prall gefüllt und blähten sich auf. Er
würgte sogar ein wenig, weil er zu schnell gegessen hatte. Er sah Xue Meng, der
ihm gegenübersaß, mit tränenreichen schwarzen Augen an. In diesem Moment
erinnerte er sich plötzlich an den kleinen jungen Meister, den er kennengelernt
als noch ein Kind war, der beim Essen so wählerisch sein konnte, wie er wollte,
der die Füllung seiner gebratenen Teigtaschen aß und die Teigmäntel seinen
Hunden zuwarf. Wahrscheinlich war Xue Meng auch so aufgewachsen. Deshalb konnte
er so leicht Dinge sagen wie ‘Wirf es einfach weg, wenn du es nicht aufessen
kannst‘ und ‘Niemand wird mit dir um sie kämpfen‘.
Mo Ran beneidete sie wirklich, wirklich, wirklich sehr.
Jetzt, wo er als junger Meister einer berühmten Sekte ein
Leben im Luxus führte, sollte er sich eigentlich wohl und sicher fühlen und
nach Belieben verschwenden und verprassen können. Aber er wagte es nicht.
Stattdessen nahm er seinen Becher in die Hand und schluckte mehrere Schlucke
Wasser, um das Gebäck herunterzuspülen, das seine Kehle verstopfte. Dann zwang
er sich, weiter zu essen.
Noch später wurde er Kaiser Taxian-Jun.
Alles, was es unter dem Himmel gab, gehörte ihm. Die
herrlichsten Schönheiten, die feinsten Weine, die exquisitesten Delikatessen,
Gold und Silber, Perlen und Jade sowie kostbare Artefakte wurden ihm in einem
nicht enden wollenden Strom aus allen Ecken der Welt geschenkt.
Eines Tages kam ein reicher Erzhändler aus Lin'an mit einer
seltenen, zehntausend Jahre alten schwarzen Feuerjade, die er beim Abbau
entdeckt hatte. Er erklärte, er wolle sie dem Kaiser Taxian-Jun schenken.
Solche Leute, die mit Schätzen kamen, um sich einen
Adelstitel oder ein offizielles Amt zu erhoffen, oder die auf andere Weise
versuchten, sich beim Kaiser einzuschmeicheln und seine Gunst zu gewinnen,
waren zu zahlreich, um sie zu zählen. Mo Ran ignorierte sie normalerweise.
Aber an diesem Tag war Chu Wanning zufällig erkältet. Mo
Ran runzelte leicht die Stirn. Schwarze Feuerjade war hervorragend geeignet,
den Körper zu wärmen. Ihm wäre es lieber, wenn dieser Invalide schnell wieder
gesund werden würde. Er war ein verdammter Schandfleck, wenn er den ganzen Tag
im Bett herumlag... Also willigte er ein, dass dieser wohlhabende Kaufmann ihn aufzusuchen
durfte.
Der Kaufmann war etwa in seinem Alter, stämmig und hatte
ein großes Muttermal am Mundwinkel, aus dem ein Haar herausragte. Mo Ran saß
auf dem Thron im Wushan-Palast, die schlanken Hände vor sich gestreckt, die
Fingerspitzen an das Kinn gelegt. Er starrte schweigend nach unten, bis die
Beine des schmierigen Händlers schwach wurden und der Schweiß seinen Rücken
durchnässte.
Es dauerte einen langen Moment, bis der Händler, der von
Kopf bis Fuß zitterte und dessen Lippen zitternd waren, auf die Knie fiel und
wieder und wieder einen Kotau machte. „Eure Majestät. Dieser Niedrige... Dieser
Niedrige..." Er stammelte eine ganze Weile, ohne überhaupt etwas sagen zu
können, und sein korpulenter Körper zitterte die ganze Zeit unter seiner
goldbestickten Kleidung.
Mo Ran lächelte. Er mochte diese Person nur einmal in
seinem Leben gesehen haben, aber er konnte sie nie vergessen.
In jenem Jahr hatte der Junge mit dem Leberfleck an der
Lippe vor der extravaganten Residenz seiner Familie gesessen und eine
verschwenderische Art an den Tag gelegt, von der Mo Ran nie gedacht hätte, dass
er sie jemals besitzen würde. Er saß da und stocherte mit seinen Bambusstäbchen
in seiner Schüssel mit goldenen Teigtaschen herum, und auf seinen Lippen lag
ein fettiger Glanz, der dem Glanz der knusprigen Teigmäntel der Teigtaschen entsprach.
„Weißt du", sagte Mo Ran und lächelte immer noch, „die
gebratenen Teigtaschen bei dir sind köstlich." Er hatte sie noch nie
probiert, aber er war ein halbes Leben lang von ihnen besessen. Von seinem
Platz auf dem Thron aus beobachtete Mo Ran, wie sich der Mann zu seinen Füßen
von entsetzt über erstaunt und verwirrt zu kriecherisch verwandelte. Er
murmelte unterwürfig, dass er seinen Koch sofort als Geschenk für Kaiser
Taxian-Jun auf den Sisheng-Gipfel schicken würde.
Mo Ran hatte es damals ganz deutlich gesehen, wie viele
Menschen auf dieser Welt lieber die Stiefel der Starken leckten, als den
Schwachen auch nur ein winziges Fünkchen Mitgefühl oder Freundlichkeit
entgegenzubringen.
Mo Ran schüttelte den Kopf und versuchte, die Erinnerungen
an vergangene Tage abzuschütteln. Er erinnerte sich nur selten an seine
Vergangenheit, da er sich nicht mit dieser Schwäche beschäftigen wollte. Aber
die Tortur, von Tür zu Tür zu betteln und von Tür zu Tür abgewiesen zu werden,
ähnelte so sehr den Szenen aus seiner Vergangenheit, dass sich die Fesseln in
seinem Kopf gegen seinen Willen lösten. Eine Zeit lang war er in der Dunkelheit
seiner Vergangenheit gefangen.
Er starrte wie betäubt vor sich hin. So hatte er seiner
Mutter einst, als er noch jung war, versprochen, nicht nachtragend zu sein,
hatte versprochen, unzählige Häuser zu bauen, um all die Menschen auf dieser
Welt zu beherbergen, die kein Zuhause hatten, damit alle lächeln konnten...
Aber er hatte sein Wort nicht gehalten.
Und am Ende hatte er den Tod des letzten Menschen
verursacht, der ihn gut behandelt hatte. Er hatte den Tod von Chu Wanning
verursacht, den Tod seines eigenen Shizun.
Chu Wanning ...
Mo Rans Herz tat weh bei dem Gedanken an ihn. Abwesend
griff er in seine Robe und holte das fadenscheinige Blatt Papier mit Chu
Wannings Porträt heraus. Das Papier war ein wenig zerknittert. Er presste die
Lippen aufeinander und hob wortlos eine Hand, um sie zu glätten. Doch bei
seiner Berührung verschmierte Blut das Papier.
Panisch zog er die Hand zurück, weil er Angst hatte, das
Porträt zu beschmutzen. Er wagte nicht, es noch einmal zu berühren.
Er lief von der fünften Straße bis zur dritten Straße,
fragte an jeder Tür, wollte nicht aufgeben. Aber alle Geister sagten dasselbe:
Sie hatten den Mann auf dem Porträt noch nie gesehen.
Er schritt allein durch die lange, endlose Nacht, die so dunkel
und so lang war, dass es schien, als würde er den Sonnenaufgang niemals
erreichen, egal wie sehr er sich anstrengte oder wie weit er ging. Mo Ran
spürte schließlich, wie ihn die Müdigkeit übermannte. Er hatte weder etwas
gegessen noch etwas getrunken und war schon fast am Ende seiner Kräfte. Durch
Zufall entdeckte er am Straßenrand einen Stand, der Wan
Tans anbot, und so ging er hin und kaufte eine Schüssel, die er heimlich
vor den Augen der Geister verzehrte.
Das gesamte Essen in der Unterwelt war kalt. Aus den Wan Tans
stieg kein Dampf auf. Mo Ran holte die Seelenruf-Laterne hervor, schöpfte einen
Wan Tan und hielt sie der Laterne hin. „Möchte Shizun etwas davon?"
Shizun konnte natürlich nicht antworten.
Also aß Mo Ran die ganze Schale selbst. „Andererseits",
sagte er zwischen zwei Bissen, „mochtest du Wan Tans noch nie. Alles, was du
magst, sind Süßigkeiten. Wenn ich dich gefunden habe und wir wieder zu Hause
sind, werde ich dir jeden Tag Gebäck machen."
In der stillen Nacht saßen ein Jugendlicher und eine
Laterne an dem einsamen Wan-Tans-Stand. Ein Windhauch rauschte vorbei und
brachte gelegentlich ein verdorrtes Blatt mit sich. In diesem Moment schien
sogar die Unterwelt ruhig zu sein.
„Pfirsichblütenkuchen, Osmanthus-Süßigkeiten,
Walnuss-Knusperkuchen, Wolkenkuchen...", zählte er der Laterne auf,
während er sie auf seinen Fingern abzählte, als ob er damit Chu Wanning zu
einer Antwort verleiten könnte. Nachdem er eine ganze Reihe aufgezählt hatte,
zwang er sich zu einem Lächeln und fragte: „Shizun, wo ist deine andere
Erdseele?"
Der junge Mann streckte seine schlanke Hand aus und
streichelte sanft die Seidenoberfläche der Laterne. Genau wie in dem Jahr, in
dem er dreißig wurde, als Chu Wanning starb. Als er den Körper des Mannes in
seinen Armen gehalten hatte und ausdruckslos in die Ferne starrte und murmelte:
‘Chu Wanning, ich hasse dich wirklich so sehr‘ ‒ dann senkte er den Kopf und
drückte seine Lippen auf die kalte Wange.
„Seid Ihr neu hier, mein Sohn?"
Plötzlich drang eine Stimme wie ein zerbrochener Gong an
sein Ohr. Der alte Mann, der die Wan Tans feilbot, war schrecklich, kurzsichtig
und hatte sich zu Mo Ran herübergetastet, um sich neben ihn zu setzen. Dieser
Mann war wahrscheinlich in seinem eigenen Bett an Altersschwäche gestorben. Sein
von der Sonne dunkel gegerbtes Gesicht war schrumpelig und faltig wie ein
Pappelbaum in der Wüste. Er holte eine Pfeife aus seinem Grabgewand hervor,
steckte sie sich zwischen die Zähne und begann mit Mo Ran mit jener
freundlichen Neugier zu plaudern, die nur älteren Menschen eigen ist.
Mo Ran schniefte, dann drehte er sich um und grinste ihn
an. „Mn, erster Tag."
„Kein Wunder, dass ich Sie nicht erkenne. Wenn ich fragen
darf, wie seid du so jung gestorben?"
„Qi-Abweichung."
„Oh..." Der alte Mann inhalierte den Rauch seiner
Pfeife, obwohl sie dunkel und unbeleuchtet blieb. „Ein Kultivierer, was?"
„Mn", nickte Mo Ran und warf ihm einen Blick zu. Ohne
viel Hoffnung zog er wieder die Porträtrolle aus seiner Robe und fragte, „Großvater,
ich suche jemanden. Das ist mein Shizun. Er ist auch neu hier. Habt Ihr ihn
zufällig gesehen?"
Der alte Mann nahm die Zeichnung entgegen und beugte sich
näher an das Licht heran. Er blinzelte eine ganze Weile durch seine vom grauen
Star getrübten Augen darauf. Mo Ran seufzte und streckte die Hand aus, um sie
zu holen. „Schon gut, ich habe schon viele Leute gefragt. Es ist in Ordnung,
wenn Ihr es auch nicht wisst. Alle anderen..."
„Ich habe ihn gesehen."
Mo Ran zuckte zusammen. Das Blut in seinen Adern floss
schneller und er klammerte sich an den Arm des alten Mannes. „Opa, Ihr habt ihn
gesehen?! Seid Ihr Euch sicher?"
„Ich bin mir sicher." Der alte Mann schlug ein Bein
über das andere und griff sich an den Fuß. „So einen sieht man nicht jeden Tag.
Es war definitiv Euer Shizun."
Mo Ran hatte sich bereits aufgerappelt, fand dann aber,
dass er unhöflich gewesen war, und verbeugte sich respektvoll vor dem alten
Mann. Er blickte auf. „Opa", sagte er ernst, „bitte zeigt mir den Weg."
„Aiya, ihr müsst nicht so höflich sein, mein Sohn. Wir
sitzen hier unten alle im selben Boot, nur Geister, die darauf warten, ins
nächste Leben überzugehen. Wir haben nur acht oder zehn Jahre Zeit, bevor die
Erinnerungen an dieses Leben für immer verschwinden. Mein eigener Sohn ist zu
früh gestorben, deshalb habe ich eine Schwäche für junge Leute wie Euch."
Er wischte sich die Tränen aus den Augen und schnäuzte sich im Ärmel, dann
fragte er schließlich: „Habt Ihr den prächtigen Palast in der ersten Straße da
oben gesehen?"
„Ja, habe ich. Ist da mein Shizun?"
„Ja, er ist da drin. Es ist der zweite Palast des vierten
Geisterkönigs", seufzte der alte Mann. „Der Geisterkönig wohnt nicht
wirklich dort. Er hat ihn gebaut, um all die Schönheiten einzusperren, die
seine Lakaien aus der Unterwelt entführen. Dieser vierte Geisterkönig ist ein
echter Lüstling. Er kommt ab und zu hierher, um sich die Konkubinen des zweiten
Palastes auszusuchen ‒ Männer und Frauen. Diejenigen, die er auswählt, nimmt er
mit in die vierte Stufe der Hölle mit, und die, die er nicht auswählt, gibt er
angeblich seinen Untergebenen als Spielzeuge." Der alte Mann seufzte
erneut. „Die Welt von heute..."
Er seufzte noch immer, als der kleine Kultivierer neben ihm
in ängstlicher Hast die Laterne in seine Arme nahm und wie ein Hund auf der
Fährte in die Nacht stürmte.
Der alte Mann schaute eine Sekunde lang schweigend zu und
murmelte dann, nicht ohne einen Anflug von Neid: „Es muss schön sein, jung zu
sein und so schnell rennen zu können..."
Erklärungen:
Shaobing auch Huoshao genannt, ist eine Art gebackenes, ungesäuertes,
geschichtetes Fladenbrot in der nordchinesischen Küche. Shaobing kann mit oder
ohne Füllung und mit oder ohne Sesambelag zubereitet werden. Shaobing enthält
eine Vielzahl von Füllungen, die sich in zwei Hauptgeschmacksrichtungen
einteilen lassen: herzhaft oder süß.
Strohhund: In der Antike wurden Hunde
aus Stroh als Opfergaben verwendet und anschließend weggeworfen. Daher bedeutet
dieser Begriff auch etwas Niedriges und Wertloses.
Wan Tans: Die Wan Tans hier sind Hintun, 馄饨, die nördliche Variante der Wan Tans, die mild sind und typischerweise in der Suppe serviert werden. Sie unterscheiden sich von der Sichuan-Variante der Wan Tans, Chaoshou, 抄⼿, die Chu Wanning für Mo Ran herstellt, die anders gewickelt und in einem scharfen Chili-Öl serviert werden.
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Man wusste, das Mo Ran seine Kindheit keine leichte war, aber das... *seufz*
AntwortenLöschenWie kann man da nicht auf die schiefe Bahn geraden. Seine Mutter war talentiert und gab ihr Bestes, damit sie um die Runden kamen. Selbst Mo Ran ging betteln, obwohl sie das nicht wollte. Sie hatten es schwer, aber sie hatten dennoch sich. Und dann meinen die Reichen daherzukommen und es ihnen noch schwerer zu machen. Es wurde noch schwerer für beide. Dennoch versucht sie, das Mo Ran ein gutes Kind wird und einen guten Weg einschlagen wird. Bei all dem was Mo Ran durchgemacht hat, wäre ich wohl schon längst vor Wut, Hass und Frust Amok gelaufen. Kein Wunder das er so geworden ist. Jetzt hat er die Chance es besser zu machen.
Aber wieder ist alles schwer. Doch diesmal trifft er auf einen freundlichen Geist, wenn dieser auch nur einen kurzen Auftritt hatte, mochte ich ihn und er wusste wo Chu Wanning ist. Und das beschert mir jetzt vollends weißes Haar. Meine Nerven sind schon blank und nun das? Und CLIFFHANGER!
Ich will dir mal eins verraten, Mo Rans Gipfel der Grausamkeit der Kindheit ist hiermit leider noch lange nicht erreicht. q__q
LöschenIch finde es auch sehr interessant, wie man Mo Rans Werdegang nachvollziehen kann.
Aber Mo Ran war ja glücklich, so lange er jemanden hatte, den er lieben konnte und der ihn liebt. Nur leider erlag in seinem vergangenen Leben, als Shi Mei starb Mo Ran dem Gedanken, dass er jetzt ganz alleine auf der Welt ist und sich niemand mehr um ihn sorgt. Ich denke, vieles wäre anders in seinem letzten Leben verlaufen, hätte Chu Wanning sich getraut über seinen eigenen Schatten zu springen und seine Wärme zu Mo Ran offener zu zeigen.
Ich finde es auch erstaunlich wie manche Leute von ihrem Reichtum einen Mini-Bruchteil abgeben und meinen sie täten was Gutes, aber dann von anderen 100 % und mehr wollen.
Ich glaube, dass der Geist später noch eine Rolle spielen wird aufgrund eines Details, dass erwähnt wird, kurz bevor Mo Ran die Unterwelt verlässt. Vielleicht erkennst du dieses Mini-Detail, dann ja auch.
Keine Sorge es kommt bald die Zeit mit wieder zwei Kapiteln pro Woche. :)
Der Gipfel ist noch lange nicht erreicht? Q_______Q
LöschenJa, er war glücklich, dennoch macht all das erlebte etwas mit einem und wenn es still und verborgen in einem drinnen ist und es dann etwas braucht, wie Shi Mei, als er gestorben war um es vollends ausbrechen zu lassen. Hätte Chu Wanning sich wirklich getraut über seinen Schatten zu springen, wäre sicherlich vieles anders verlaufen und so war es bei Mo Ran wohl einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.
So sind leider die Reichen, nicht alle, aber viele. Und es machte einem beim Lesen so wütend, als man die Szene las.
Uuuuh ich bin gespannt. Ich mag den Geist.
Wunderbar und vielen Dank *-*
Hallo, Yiling. Du schreibst mir immer so nette Kommis unter die Kapitel, also will ich mich auch mal bei einem deiner Projekte melden. Habe zwar immer wenig Zeit, neue Bücher anzufangen, aber bei Husky will ich doch gerne mitreden!
AntwortenLöschenOh, hilfe, in dem Kapitel sind so viele "Messer" versteckt! Da blutet einem das Herz! Jedes Mal, wenn wirklich mal was über Mo Rans Kindheit erzählt wird, will ich in die Geschichte springen und ihn GANZ FEST drücken! Ihm sind so viele schlimme Dinge passiert, und trotzdem hat er immer noch versucht zu lächeln und keinem Probleme zu machen...
Ich frage mich, was er dann mit dem Händler als Taxian-Jun gemacht hat...
Ein Glück, dass er den alten Herrn in der Geisterwelt getroffen hat. Ja, jetzt gibt es einen Hinweispunkt auf Shizuns Aufenthalt! Bleib dran, Mo Ran, dann findest du deinen Shizun!
Ohh, danke, dass du mir auch einen netten Kommentar schreibst.
LöschenIch verstehe es, dass du eher wenig Zeit hast für neue Bücher, die habe ich momentan auch nicht.
Ich will Mo Ran auch nur jedes Mal drücken, wenn ich ein neues dunkles Kapitel seiner Kindheit entdecke. Ja, Mo Ran sind und passieren leider immer noch viele schlimme Dinge, aber wenigstens kriegt er bald seinen Shizun wieder.
Ich glaube, Taxian-Jun hat mit dem Händler nicht viel gemacht, einen wirklichen Groll gegen ihn schient er nicht zu hegen. Außer wenn der Händler so dumm sein sollte und Taxian-Jun nicht seinem Koch zu übergeben, wenn er das tut, dann hat er sicherlich Taxian-Juns Groll auf sich gezogen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, klingt fast wie Menschenhandel, so als ob der Koch kein Wörtchen mit zu reden hätte. XD Aber ich glaube, zum Kaiser der Sterblichen sagt man lieber "Ja" als "Nein".
Ich frage mich ja, ob der alte Mann nachdem Unterwelt-Abschnitt noch eine Rolle spielt oder nicht?
Genau bald findest du ihn Mo Ran, bleib stark.