Kapitel 120 ~ Shizun geht in die Abgeschiedenheit

Das erste Licht der Morgendämmerung färbte die Wolken rot. Obwohl es noch früh war, hatte sich bereits eine große Anzahl von Schülern vor dem Roten-Lotus-Pavillon versammelt. Sie säumten den Weg in ihren weißen Roben, die Köpfe gesenkt und die Augen niedergeschlagen.

Dong, dong, dong.

Der Klang der Morgenglocke ertönte vom Himmelsdurchdringenden Turm. In der Ferne waren mehrere Gestalten zu sehen, die langsam einen Sarg trugen. Xue Zhengyong und der Tanlang Ältester gingen voran, gefolgt von Mo Ran und Xue Meng. Shi Mei und ein Mönch in abgetragener Robe gingen an beiden Seiten. Sie näherten sich langsam durch den Morgennebel und folgten dem taufrischen Weg aus blauen Steinen.

Der Mönch hielt eine Laterne in der Hand. Selbst im Licht der Morgendämmerung war der helle Schein der Laterne sichtbar; sie strahlte einen goldenen Glanz aus, der an Sommerblüten erinnerte. Die versammelten Schüler senkten feierlich ihre Köpfe und wagten es kaum zu atmen. Sie hatten alle gehört, dass Meister Huaizui vom Wubei-Tempel wegen des Yuheng Ältesten herbeigeeilt war ‒ dieser bescheidene Mönch musste er sein. Die Ehrfurcht der Jüngeren vor dieser legendären Gestalt überwog bei Weitem ihre Neugier, und keiner wagte es, ihm zu nahe zu kommen, als er den langen Bergpfad hinaufging. So zog der Große Meister an den ehrfürchtigen Schülern vorbei, in seinem Schlepptau eine luftige Woge der Roben. Sein Vorbeigehen war für sie durch das Klopfen seines Mönchsstabes und der gelegentliche Anblick von Hanfschuhen in ihren niedergeschlagenen Blicken gekennzeichnet.

Der Sarg wurde unablässig den ganzen Weg über getragen. Doch dies war kein Begräbnis, sondern eine Wiederbelebung. Keiner weinte. Als sie den Roten-Lotus-Pavillon erreichten, sah sich Huaizui um und sagte dann: „Neben dem Lotusteich, das reicht. Dort gibt es eine Fülle an spiritueller Energie, die sich für Zaubersprüche eignet."

„In Ordnung, ihr habt den Großen Meister gehört!" Xue Zhengyong, der die anderen anführte, stellte den Sarg aus schwarzem Eis neben dem Lotusteich ab. „Großer Meister, wenn Ihr etwas braucht, braucht Ihr nur ein Wort zu sagen. Die Rettung Yuhengs ist so gut wie die Rettung meines eigenen Lebens. Wenn ich irgendetwas tun kann, um zu helfen, werde ich es tun!"

„Vielen Dank für Xue-Zhangmens Freundlichkeit", sagte Huaizui. „Dieser bescheidene Mönch braucht im Moment nichts, aber ich werde den Sektenanführer informieren, wenn sich die Notwendigkeit ergibt."

„Gewiss. Bitte zögern Sie nicht."

Huaizui lächelte. Er presste die Handflächen zusammen und verneigte sich respektvoll vor Xue Zhengyong, dann wandte er sich an die anderen, die in der Nähe standen. „Dieser bescheidene Mönch ist ungelernt und wird fünf Jahre brauchen, um die Seele des Ältesten Chu zurückzubringen. Damit dieser bescheidene Mönch nicht gestört wird, wird der Rote-Lotus-Pavillon von heute an bis zur Wiederbelebung des Ältesten Chu für Besucher geschlossen."

Obwohl Xue Meng bereits gehört hatte, dass es fünf Jahre dauern würde, bis sein Shizun zurückkehrte, wurden seine Augenränder bei Huaizuis Erinnerung noch einmal rot und er senkte schweigend den Kopf.

„Wenn jemand noch ein paar Abschiedsworte an den Ältesten Chu richten möchte, so möge er dies jetzt tun. Es wird sonst über tausend Tage lang keine Gelegenheit dazugeben."

Und so traten sie vor, einer nach dem anderen.

Xue Zhengyong und die Ältesten des Sisheng-Gipfels gingen als Erste, jeder stellte sich feierlich vor den Sarg und verabschiedete sich von ihnen. Xue Zhengyong sagte: „Wir wollen uns bald wiedersehen."

Tanlang sagte: „Wacht bald auf."

Xuanji sagte: „Hoffentlich geht alles gut."

Und Lucun sagte seufzend: „Irgendwie beneide ich dich, dass du fünf Jahre lang in der Zeit eingefroren bist und keinen Tag altern wirst."

Auch die anderen Ältesten trugen ihren Teil bei, manche mit langen, manche mit kurzen Reden. Im Handumdrehen war Xue Meng an der Reihe. Xue Meng war fest entschlossen, sich zusammenzureißen, aber der junge Mann war schon immer von seinen Gefühlen beherrscht worden, und dies war keine Ausnahme. Er stand neben dem Sarg von Chu Wanning und begann zu weinen.

Zwischen den Schluchzern, während er sich energisch die Tränen wegwischte, schaffte er es, ein paar Worte zu sagen: „Shizun, ich werde hart trainieren, auch wenn du nicht da bist. Ich werde dich beim Spirituellen Bergwettbewerb bestimmt nicht blamieren. Wenn du aufwachst, werde ich dir erzählen, wie hoch mein Rang ist. Mein Shizun hat schließlich keine Verlierer unter seinen Schülern."

Xue Zhengyong ging hinüber und klopfte seinem Sohn auf die Schulter. Xue Meng klammerte sich nicht wie sonst an seinen Vater, sondern wandte sich mit einem Schniefen ab. Vor seinem Shizun wollte er nicht noch einmal wie ein nutzloses, verwöhntes Kind aussehen, das sich bei jeder Kleinigkeit auf seinen Vater verlässt.

Der Nächste war Shi Mei. Auch seine Augen waren feucht, aber er sagte nichts. Er sah Chu Wanning nur eine Zeit lang mit gesenktem Kopf an, bevor er sich leise zurückzog.

Nachdem Shi Mei sich zurückgezogen hatte, wurde eine blassrosa Hai-Tang-Blüte vorsichtig in den Sarg gelegt. Die schlanke Hand, die sie hielt, war zwar noch jugendlich, aber schon fast so lang und breit wie die eines Erwachsenen.

Mo Ran stand an der Seite des Sarges. Eine Brise tanzte über die Wasseroberfläche des Teiches und trug den zart-süßen Duft blühender Lotusblumen mit sich. Die Brise zerzauste sein Pony, aber als er die Hand hob, strich er über Chu Wannings Gesicht.

Mo Ran presste seine Lippen aufeinander. Er sah aus, als wollte er viele Dinge sagen, aber am Ende kam nur ein leiser, leicht heiserer Satz heraus: „Ich werde auf dich warten."

Warten auf was? Das hat er nicht gesagt. Er hatte überlegt, ob er sagen sollte: Ich warte darauf, dass du aufwachst, aber diese Worte erschienen ihm irgendwie unzureichend. Es gab keine Möglichkeit, die Gefühle auszudrücken, die das Gefäß in seiner Brust fast zum Platzen brachten, als wäre in seinem Herzen eine Lache kochender Lava eingeschlossen und aufgewühlt, die gegen die Wände schlug und ihm Schmerz und Angst bereitete. Er hatte das Gefühl, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis diese Wände durchbrochen würden und die Lava unkontrolliert ausströmen und ihn zu Asche schmelzen würde.

Aber selbst jetzt war er sich noch nicht sicher, was dieses brennende Gefühl war. Also sagte er nur: „Ich werde auf dich warten."

Damit wurde der Roter-Lotus-Pavillon geschlossen und verriegelt. Eine riesige Barriere fiel herab wie ein Tor, das Leben und Tod trennte und allen den Zutritt verwehrte. In den nächsten fünf Jahren würde niemandem den Duft der Lotusblüten im Sommer oder die stille Einsamkeit des Schnees im Winter im Pavillon vergönnt sein.

Bambusblätter raschelten im Wind und Hai-Tang-Blüten schwebten langsam zu Boden. Von außerhalb des Roten-Lotus-Pavillons bis hin zum Haupttor fielen die Schüler auf die Knie und verneigten sich. Am Ende dieses riesigen Flusses standen Mo Ran, Xue Meng und Shi Mei.

Xue Zhengyong verkündete mit dröhnender Stimme, die durch Himmel und Wälder hallte: „Ich wünsche dem Yuheng Ältesten alles Gute in seiner Abgeschiedenheit."

Die Schüler, die ihre Köpfe zu Boden neigten, stimmten feierlich ein: „Ich wünsche dem Yuheng Ältesten alles Gute in seiner Abgeschiedenheit."

Tausende von sich überschneidenden Stimmen erhoben sich wie eine einzige, dröhnten vom nebelverhangenen Sisheng-Gipfel herab und ließen die Vögel auffliegen. Ihre Rufe erfüllten den Himmel, während sie über den Baumwipfeln kreisten und sich nicht trauten, zu landen. Das Stimmengewirr erhob sich zum Himmel und rollte wie ein Donnerschlag durch die Wolken.

„Ich wünsche Shizun alles Gute für seine Abgeschiedenheit", sagte Mo Ran mit sanfter Stimme. Er verbeugte sich lange Zeit.

Fünf Jahre des Wartens.

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Nachdem Yuheng sich zurückgezogen hatte, trainierte und kultivierte sich jeder seiner drei Schüler allein, da sie nicht bereit war, einen anderen Ältesten als Lehrer zu nehmen, auch nicht vorübergehend.

Shi Mei und Xue Meng blieben aus verschiedenen Gründen ‒ Begabung, Kultivierungsweg und andere Faktoren ‒ auf dem Gipfel. Mo Ran entschied sich für die Reise. Es stimmte zwar, dass er durch Erfahrung besser lernte, aber das war nicht der einzige Grund für seine Entscheidung. So viele Dinge hatten sich in diesem wiedergeborenen Leben anders entwickelt. Abgesehen von Chu Wannings unerwartetem Tod machte sich Mo Ran auch noch große Sorgen um den falschen Gouchen.

Er vermutete, dass die Person, die hinter all dem steckte, ebenfalls wiedergeboren sein könnte. Denn wer auch immer es war, er beherrschte die Zhenlong-Schachformation wohl recht gut. Doch niemand sonst in seinem bisherigen Leben ‒ bis er sich das Leben genommen hatte ‒ war in der Lage gewesen, diese verbotene Technik in dem Maße anzuwenden, wie er es bei ihrer zweiten Begegnung erlebt hatte.

Mo Ran hatte kein Talent fürs Spionieren. Seit dem Kampf in der Schmetterlingsstadt war die ganze Kultivierungswelt in höchster Alarmbereitschaft und wartete darauf, dass dieser geheimnisvolle Fremde einen Fehler machte und sich verriet. Er brauchte sich nicht wirklich einzumischen. Mo Ran wusste, dass er nicht besonders klug war; seine Stärken lagen in seinem Reichtum an spiritueller Energie und seiner natürlichen Begabung für die Kultivierung. Da eine künftige Konfrontation wahrscheinlich unvermeidlich war, bestand das Beste, was er jetzt tun konnte, darin, so schnell wie möglich seine Kampfkraft von vor seiner Wiedergeburt wiederzuerlangen.

In seinem letzten Leben war er ein Zerstörer gewesen. In diesem Leben wollte er ein Beschützer sein.

Nicht, lange nachdem Chu Wanning sich zurückgezogen hatte, stand Mo Ran vor dem Haupttor des Sisheng-Gipfels, eine Reisetasche auf dem Rücken, bereit, seine Reise anzutreten. Nur ein paar Leute waren gekommen, um ihn zu verabschieden: Xue Zhengyong, Frau Wang und Shi Mei. Xue Zhengyong klopfte ihm auf die Schulter und sagte etwas unbeholfen: „Meng-er wird nicht kommen, er sagte..."

Mo Ran kicherte: „Er sagte, er sei zu sehr mit dem Training im Wald beschäftigt, um mich zu verabschieden, stimmt's?"

Nach einem kurzen, gedemütigten Schweigen fluchte Xue Zhengyong: „Diese gedankenlose Göre!"

Mo Ran lächelte. „Er will unbedingt den ersten Platz beim Spirituellen Bergwettbewerb erreichen. Da ist es nur natürlich, dass er fleißig trainiert. Ich werde es ihm überlassen, Shizuns Namen zu Ruhm und Ehre zu verhelfen."

Xue Zhengyong sah Mo Ran an und sagte dann zögernd: „Der Spirituelle Bergwettbewerb ist das wichtigste Turnier in der Welt der traditionellen Kultivierung. Ich bin mir sicher, dass Ran-er auf seinen Reisen viel lernen und wachsen wird, aber der Wettbewerb wird wahrscheinlich die Art von Mischtechniken ausschließen, die du dort erlernen wirst. Es wäre schade, wenn du deswegen den Anschluss verpasst."

„Mein Cousin hat alles im Griff", antwortete Mo Ran.

„Willst du dir nicht einen Namen machen?"

Daraufhin brach Mo Ran in Gelächter aus. Sich einen Namen machen? In seinem früheren Leben hatte er den Spirituellen Bergwettbewerb verpasst, weil er sich etwas zuschulden kommen lassen hatte und dafür mit Hausarrest bestraft worden war. Er hatte sich immer darüber geärgert. Aber jetzt erschien ihm diese Sache so unbedeutend ‒ was spielte das überhaupt für eine Rolle? Er war jemand, der so viel Tod und so viele Abschiede erlebt hatte, überschwemmt von einer endlosen Flut von Prüfungen und Drangsalen; er war jemand, der von trotzig zu hoffnungsvoll, von hoffnungsvoll zu nachtragend, von nachtragend zu erleichtert und von erleichtert zu reumütig geworden war. Der Mo Ran der Gegenwart interessierte sich nicht mehr für Schönheiten und edle Weine oder die Verehrung von Tausenden, schon gar nicht für Dinge wie Rache oder den Nervenkitzel des Tötens und der Zerstörung. Er hatte die grenzenlose Opulenz und den Luxus an der Spitze der Welt bereits mit eigenen Augen gesehen und war all dessen überdrüssig geworden. Er wollte nicht an einen so kalten Ort zurückkehren, ohne jemanden an seiner Seite zu haben.

Schließlich war er einst Kaiser Taxian-Jun gewesen; er hatte auf dem mächtigsten Gipfel gestanden und die Welt in seiner Hand gehalten, und er hatte alles gesehen, was es zu sehen gab. Natürlich würde er sich nicht um Kleinigkeiten kümmern, wie ein paar mickrige Beifallsbekundungen oder ein paar Anfeuerungsrufe beim Spirituellen Bergwettbewerb. Und was die Rangliste anbelangt... Wer sie haben wollte, konnte sie haben.

„Es gibt andere Dinge, die ich lieber tun würde", sagte Mo Ran mit einem Lächeln. „Xue Meng ist ein junger Meister, und junge Meister haben ihren eigenen Lebensstil. Ich bin nur ein Faulpelz, und Faulpelze führen ihr eigenes Faulpelzerleben."

Frau Wang schimpfte sanft: „Dummes Kind, was sagst du da? Du bist nicht anders als Meng-er, was soll das mit 'junger Meister' hier und 'Faulpelz' da?"

Mo Ran lachte frech, fühlte aber innerlich einen kleinen Schmerz. Der eine war in den Schoß des Luxus hineingeboren worden, während der andere von niedriger und unbedeutender Geburt war. Obwohl er das große Glück gehabt hatte, hier auf dem Sisheng-Gipfel zu landen, hatte er die letzten zehn Jahre seines Lebens in einem düsteren Nebel verbracht. Wie konnten er und sein Cousin überhaupt gleich sein? Aber er konnte Frau Wang nichts davon sagen, nicht, wenn sie ihn mit diesem sanften, besorgten Blick ansah, also nickte er nur und sagte: „Tantchen hat recht, ich habe mich falsch ausgedrückt."

Frau Wang schüttelte lächelnd den Kopf und reichte ihm einen kleinen, mit Pollia-Blüten bestickten Qiankun-Beutel. „Du musst auf dich selbst aufpassen, während du reist. Nimm das hier; es ist gefüllt mit allerlei Medizin zur Behandlung von Verletzungen. Ich habe sie selbst zusammengemischt, deshalb sind sie wirksamer als das, was man in jedem Laden kaufen kann. Pass auf, dass du sie gut aufbewahrst."

„Vielen Dank, Tantchen", sagte Mo Ran dankbar.

Shi Mei ergriff als Nächste das Wort. „Ich habe nicht viel, was ich dir geben könnte, außer diesem Jadeanhänger. Hier, trage ihn. Er wärmt deinen spirituellen Kern."

In Mo Rans Hand war die weiße Jade cremefarben, glatt und fühlte sich warm an: Es war ein äußerst seltenes, hochwertiges Stück. Eilig drückte er den Jadeanhänger zurück in Shi Meis Hand. „Ich kann das nicht annehmen, er ist viel zu wertvoll. Außerdem gehört mein spiritueller Kern von vornherein zum Feuerelement; wenn er weiter erwärmt wird ... könnte ich eine Qi-Abweichung geraten."

Shi Mei lachte. „Sei nicht dumm. Was meinst du mit Qi-Abweichung?"

„Auf jeden Fall nehme ich ihn nicht an." Mo Ran blieb standhaft. „Du hast eine schwache Konstitution, es wird dir mehr nützen als mir."

„Aber ich habe es bei der Auktion im Xuanyuan-Pavillon extra für dich kaufen lassen..."

Mo Ran fühlte sich durch seine Worte erwärmt, aber mehr noch, brach es ihm das Herz. „Dann muss er sehr teuer gewesen sein... Dieser Jadeanhänger wird mir nicht viel nützen, aber für dich wäre er großartig. Shi Mei, ich weiß das zu schätzen, aber behalte ihn bitte für dich und vergiss nicht, ihn zu tragen, damit er deine spirituelle Energie nähren kann."

Bevor Shi Mei etwas erwidern konnte, wickelte Mo Ran die dünne Schnur ab und schlang den Jadeanhänger um Shi Meis Hals. „Er steht dir gut", sagte er grinsend und klopfte ihm mit einer Hand auf die Schulter. „Viel besser als mir. Ich bin so ein grobschlächtiger Mensch, ich würde so etwas wahrscheinlich in zwei Tagen kaputtmachen."

„Ran-er hat recht. Der Jadeanhänger kann von jedem getragen werden, aber er ist am besten für Menschen mit einem spirituellen Kern des Wasserelements geeignet. Mei-er, du solltest ihn behalten."

Jetzt, wo sogar Frau Wang gesprochen hatte, musste Shi Mei natürlich einwilligen. Er nickte und sagte zu Mo Ran: „Dann pass gut auf dich auf."

„Keine Sorge, ich werde dir oft schreiben."

Trotz seines Kummers darüber, dass er sich so früh verabschieden musste, konnte Shi Mei nicht anders, als darüber zu lächeln. „Du weißt schon, dass nur Shizun deine Handschrift lesen kann, oder?"

Die Erwähnung von Chu Wanning hinterließ bei Mo Ran ein Gefühl, das er nicht beschreiben konnte. Der Hass, der an seinen Knochen genagt hatte, hatte sich verflüchtigt, aber die Reue blieb, wie eine Wunde, die verschorft war: ein dumpfer, juckender Schmerz in seinem Herzen. Mit diesem Gefühl in der Brust machte sich Mo Ran allein auf den Weg den Berg hinunter.

„Eins, zwei, drei..."

Er zählte in seinem Kopf, während er mit gesenktem Kopf ging.

„Einhunderteins, einhundertzwei, einhundertdrei..."

Am Fuße des Berges konnte er nicht umhin, zum Sisheng-Gipfel zurückzublicken, der von den hohen Wolken umhüllt war, und die lange Steintreppe hinaufzusteigen, die kein Ende zu nehmen schien.

Er murmelte: „Dreitausend, siebenhundertneunundneunzig."

Er hatte gezählt, während er ging. Das war die Anzahl der Stufen bis zum Haupttor, die Anzahl der Stufen, die Chu Wanning an diesem Tag hinaufgestiegen war, wobei er ihn auf dem Rücken getragen hatte. Er war sich sicher, dass er niemals die eiskalten, wundgescheuerten und blutigen Hände von Chu Wanning vergessen würde, so lange er lebte.

Ob ein Mensch Gutes tat oder Böses beging, war selten ein Merkmal seines Wesens. Jeder Mensch war wie ein Stück Ackerland: Manche hatten Glück und ihre Felder wurden mit Getreide bestellt, das im Herbst eine reiche Ernte bringen würde, Reisfelder, die den sanften Duft von Reis verströmten, Weizenfelder, die sich wie Wellen im Wind bewegten. Wenn man auf das Land blickte, konnte man es als gut und lobenswert empfinden.

Aber andere hatten nicht so viel Glück. Ihre Felder waren mit Mohn bepflanzt, und die Frühlingsbrise brachte nur das Miasma berauschter Sünde und euphorischer Dekadenz, das den Himmel füllte und das Land mit diesem abscheulichen, blutigen Rot und Gold überzog. Die Menschen verabscheuten es, verfluchten es und fürchteten es, selbst als sie sich in seinem glückseligen Rausch befanden und vor seinem schmutzigen Gestank verrotteten.

Am Ende versammelten sich die Gerechten und Aufrechten, um das Feld in Brand zu stecken, und als der Rauch in den Himmel stieg, sagten sie: Oh, er war eine Brutstätte der Sünde, er war ein dämonischer böser Geist, er war bösartig und rücksichtslos, er hatte kein Gewissen, er verdient es. Und das alles, während er sich in den Flammen wand und vor Schmerzen schrie, während die Mohnblumen zu einem verkohlten, schlammigen Morast verschrumpelten.

Aber auch dieser Mensch war einmal ein gutes Stück Ackerland gewesen. Einst hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht als Wasser und Sonnenlicht. Wer war es, der die erste Saat der Finsternis gepflanzt hatte, der das Unheil säte, das außer Kontrolle geriet? Das einst gemäßigte und üppige Stück Land ging in Flammen auf und versank in Asche. Es lag brach.

Mo Ran war ein Stück ungewolltes, verlassenes Land. Er hätte nie gedacht, dass jemand in sein Leben treten würde, um diese Felder wieder zu bestellen, ihm eine zweite Chance zu geben.

Chu Wanning. Es würde fünf Jahre dauern, bis er ihn wiedersehen konnte. Heute war der erste Tag. Er vermisste bereits Chu Wannings Gesicht ‒ sein strenges, wütendes, sanftes, ernstes, unerschütterliches Gesicht.

Mo Ran schloss langsam die Augen. Er erinnerte sich an sein Leben, das vergangene und das gegenwärtige, an so viele vergangene Tage, die wie Schnee im Wind verstreut waren. Ihm wurde klar, dass der Vorfall beim Himmlischen Riss in der Tat der größte Scheideweg seines Lebens gewesen war.

In seinem letzten Leben hatte er jemanden innig geliebt. Später hatte diese Person ihr Leben geopfert, und Mo Ran war in die Hölle gestürzt.

In diesem Leben gab es jemanden, der ihn liebte und beschützte. Später hatte diese Person ihr Leben geopfert und Mo Ran in die Welt der Lebenden zurückgebracht.




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3 Kommentare:

  1. Der Anfang beschert einem gleich Gänsehaut, wenn man sich diese Szene vorstellt, die so feierlich war. Es war keine Beerdigung, denn dies war ein Moment von Hoffnung. Dennoch konnte jeder noch etwas sagen, ehe die Barriere den Roten Lotus Pavillon schützt. Jetzt heißt es geduldig warten und ganz ehrlich, ich bin sowas von gespannt auf den Moment, wenn Chu Wanning erwacht.
    Derweil macht jeder weiter und übt, während Mo Ran auf Reisen geht. Diesmal ist alles anders, als in seinem früheren Leben und dennoch verfolgen ihn die Gefühle. Die Reue wird ihn immer begleiten, aber er nutzt jetzt seine zweite Chance und es liegt an ihm, was er damit weiterhin machen wird.

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    1. Diese Szene müsste einen krassen Kontrast zu Chu Wannings und Shi Meis Tod für Mo Ran dargestellt haben, aber immerhin wird er hier nicht mehr alleingelassen und kann "bald" seinen Shizun wiedersehen.
      Ich kann dir nur eins sagen, Mo Rans und Chu Wannings erstes Wiedersehen ist pures Komediegold und davor ist Chu Wanning unglaublich niedlich in Bezug auf Mo Ran.
      Mo Ran nutzt die Zeit zu hundert Prozent und mausert sich zu einem wahren Helden.

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  2. Ja, diese Anfangsszene berührt unheimlich. Und ich muss zugeben, dass es mir Mo Ran manchmal echt schwer gemacht, Sympathie für ihn aufzubringen, aber in dem Kapitel kann man ihn nur mögen, so voller Reue und erwachsen geworden

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