Kapitel 119 ~ Die vier Seelen von Shizun sind versammelt

Chu Wanning konnte die Worte, die Rong Jiu hinter ihnen rief, nicht hören. Doch er brauchte sich nur umzudrehen, um zu erkennen, dass Rong Jiu ihn im Lagerhaus absichtlich provoziert hatte. Er hatte Chu Wanning absichtlich wütend gemacht und dann den günstigen Moment genutzt, um zu fliehen und ihn zu verpfeifen.

Normalerweise war Chu Wanning der Typ, der in jeder Situation rational denkt. Aber wenn es um etwas ging, das mit Mo Ran zu tun hatte, schienen sich all seine Vernunft und Ruhe in Luft aufzulösen. Er war verblüfft darüber, wie leicht er sich von einem solchen Feigling mit ein paar Worten hinters Licht führen ließ. Er blickte zu Mo Ran, der ein paar Schritte vor ihm lief, und fragte unwillkürlich: „Bist du danach jemals... zu diesem Unsterblichen-Pfirsich-Pavillon zurückgekehrt?"

Als Mo Ran diesen Namen hörte, den er selbst fast vergessen hatte, stolperte er. „Rong Jiu, dieser dreckige Bastard!", schrie er wütend. „Hat er gesagt, ich sei zum Unsterblichen-Pfirsich-Pavillon zurückgegangen?! Warum sollte ich?! Shizun, bist du deshalb so wütend? Weil er gesagt hat, dass ich dich belogen habe?"

Chu Wanning antwortete nicht.

„Nach der Sache auf der Plattform der Sünde und der Tugend bin ich nie wieder zu... solchen Orten gegangen. Ich würde Shizun nicht anlügen. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du Jiangui benutzen, um mich zu fesseln, und mich dann fragen."

Nach einer Sekunde sagte Chu Wanning: „Nicht nötig." Er blickte auf Jiangui hinunter, die er immer noch fest in der Hand hielt. Wenn er daran dachte, wie er gerade eben spirituelle Energie in die Weidenranke injiziert hatte, um Mo Ran blutig zu peitschen, ohne Rücksicht und Grund, das war wirklich...

Moment, eine heilige Waffe?!

Jianguis Flammen erleuchteten sein Antlitz, hell gegen die Dunkelheit der Nacht. Chu Wanning starrte sie an, sein Verstand drehte und wendete sich rasend schnell. Er versuchte, den Fluss der spirituellen Energie umzukehren, indem er sie von Jiangui in seine Handfläche zog, und spürte augenblicklich eine starke, reichhaltige Energie in sich aufsteigen. Plötzlich wusste Chu Wanning, woher er die spirituelle Energie nehmen konnte. Während diese Energie nicht zwischen den Lebenden und den Toten fließen konnte, war es der Energie einer heiligen Waffe völlig egal, ob der Träger ein Mensch, ein Geist, ein Gott oder ein Dämon war. Solange die Waffe selbst dies zuließ, machte es keinen Unterschied!

Mo Ran brauchte eine Sekunde, um zu bemerken, dass Chu Wanning zurückgeblieben war. Als er es bemerkte, drehte er sich sofort um und fragte besorgt: „Shizun, was ist los?" Die Peitschenwunde in seinem Gesicht blutete noch immer, und mit seinen leuchtenden schwarzen Augen sah er noch mitleiderregender aus.

Chu Wanning schürzte die Lippen, verärgert und ein wenig gequält. Er fühlte, dass er Mo Ran unrecht getan hatte, doch sein Stolz wies ihn darauf hin, dass Mo Ran sich damals tatsächlich mit Leuten wie Rong Jiu eingelassen hatte, so dass der Peitschenhieb nicht ganz unverdient gewesen war. Selbst nach kurzem Nachdenken wusste Chu Wanning nicht, in welchem Ton oder mit welchem Gesichtsausdruck er ihm gegenübertreten sollte. Er konnte nur den einfachsten Weg gehen und weder mit Gefühl noch mit Nachdruck sprechen. „Mo Ran, bleib stehen. Zieh dich zu den Palastmauern zurück."

„Um was zu tun?", fragte Mo Ran zögernd.

Chu Wannings Ton war flach. „Ich werde dir einen Trick zeigen."

Mo Ran war verblüfft. Bevor er die Worte seines Shizuns verstehen konnte, sah er, wie das rote Licht von Jiangui unaufhörlich in das Seelenfragment von Chu Wanning floss und ihn in einen Flammenvorhang einhüllte. Mo Rans Augen weiteten sich, als er sah, wie Chu Wanning und Jiangui aufeinander reagierten. Dann verschwanden die Flammen. Der Mann in der rot-goldenen Robe hob die Weidenranke mit den zischenden Flammenfäden in die Höhe und wandte seinen Kopf zu ihm. „Mo Ran, gib Jiangui einen Befehl."

Mo Ran ahnte nun, was Chu Wanning zu tun gedachte, auch wenn er es kaum glauben konnte. Prompt rief er einen Befehl: „Jiangui, befolge die Befehle von Shizun als wären es meine!"

Die Weidenranke in Chu Wannings Hand knisterte, dann brach sie in kristallrote Funkenfäden aus, und die Blätter der Ranke leuchteten hell auf. Chu Wanning hob seine freie Hand und strich mit den Fingerspitzen Zentimeter für Zentimeter über Jiangui. Durch seine Berührung erstrahlte die Weidenranke in einem noch helleren Glanz. Die Tausende von Geistersoldaten kamen nun immer näher. Hinter ihnen ragten die mit Barrieren versiegelten Palastmauern in die Höhe. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen.

Aber das hatte Chu Wanning auch nicht vor.

Licht flackerte in seinen Augen auf und breitete sich aus, und ein Sturm brauste auf. Chu Wannings Robe tanzte im Sturm, während er die Weidenranke hochhielt und sie wild durch die Luft peitschte. Jiangui schlug aus wie ein aufsteigender Drache, leuchtete golden und strahlend und erhellte den weiten Nachthimmel. Auf Mo Rans Befehl hin wies Jiangui Chu Wanning nicht mehr zurück, sondern kanalisierte ihre reichhaltige spirituelle Energie unaufhörlich in Chu Wannings Erdseele. Seine Augen leuchteten mit diesem blendenden Glanz, und seine Stimme war tief und fest, als er befahl: „Jiangui, Zehntausend Särge!"

In diesem Sekundenbruchteil brachen zahllose Schlangen goldener und roter Weidenranken mit einem Grollen aus der Erde hervor und zerfetzten die prächtige Palasthalle in zerbrochene Schindeln und Ziegelbrocken. Dicke, mächtige, uralte Ranken umschlangen die Geistersoldaten, zogen sie hinein und schlossen sie dann fest ein.

Mo Ran sah schockiert zu, wie all dies vor seinen Augen geschah. Er sah, wie die heilige Waffe und das Seelenfragment von Chu Wanning zusammenwirkten und zu einer Einheit verschmolzen. Er sah Chu Wannings Robe flattern, sein tiefschwarzes Haar wie Rauch und Wolken. Ob im Leben oder im Tod, sein Geist war immer so gewesen. Welterschütternd lodernd. Unaufhaltsam.

Chu Wanning nutzte diese Gelegenheit, sprang zurück und legte seine Hand auf die Palastmauer. Er schloss die Augen, und in Sekundenschnelle hatte er die Schwachstelle der Barriere ausgemacht. „Neun Fuß und vier Zentimeter nach rechts oben. Greift mit Feuer an!"

Mo Ran befolgte seine Anweisungen, ohne zu zögern, und sprang hoch. Bevor einer der Geister des zweiten Palastes reagieren konnte, hatte der lodernde Feuerzauber in seinen Handflächen Gestalt angenommen. Er schleuderte ihn genau auf die Stelle, die Chu Wanning angegeben hatte. Die Erde bebte und die Berge erzitterten. Die unvorstellbar hohen Palastmauern zerfielen in Windeseile und kehrten auf ihre ursprüngliche Höhe zurück, und auch das Barrieresiegel zerbrach und zerfiel im Handumdrehen zu Staub.

„Los!"

Mo Ran ließ sich das nicht zweimal sagen, er sprang auf die Mauer und drehte sich dann um, um Chu Wanning an seiner Seite hochzuziehen. Die beiden brachen aus dem zweiten Palast des vierten Geisterkönigs aus und verschwanden in der grenzenlosen Nacht.

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In einer kleinen, engen Gasse lehnten Chu Wanning und Mo Ran an den gegenüberliegenden Wänden und starrten sich gegenseitig an, ohne ein Wort zu sagen. Mo Ran war der Erste, der einknickte und ein Kichern von sich gab. „Der alte Geist wird wahrscheinlich so wütend sein, dass er stirbt...hss!" Seine Mundwinkel zogen sich nach hinten und zogen an der Wunde auf seiner Wange.

Chu Wanning musterte ihn. „Hör auf zu lachen."

Mo Ran hielt inne. In der schummrigen Gasse flackerten seine Wimpern, und seine sanften, pechschwarzen Augen blickten Chu Wanning an. „Shizun, bist du immer noch böse auf mich?"

Wenn er gesagt hätte: ‘Shizun, hast du mir nicht unrecht getan?', hätte Chu Wanning es vielleicht nicht zu schätzen gewusst. Aber stattdessen hatte er gefragt, ob er immer noch böse sei. Chu Wanning schwankte einen Moment, dann wich er entschlossen dem Thema aus. „Beeil dich und sprich den Zauber. Wir sind dem vierten König nur knapp entkommen. Er hat vielleicht noch nicht das Gesicht, es den anderen Geisterkönigen zu sagen, aber darauf können wir uns nicht verlassen, wenn sich das hier noch länger hinzieht."

In dem Moment, als Mo Ran diese Worte hörte, wusste er, dass Chu Wanning nicht mehr gehen würde. Er würde nicht verschwinden. Und so entspannte sich endlich sein Herz, das die ganze Zeit über wie eine Bogensehne gespannt gewesen war. Er konnte nicht anders, als wieder zu grinsen. „Mn." Aber je mehr er lächelte, desto mehr schmerzte es, und seine Hand hob sich unbewusst, um seine Wange zu bedecken.

Chu Wanning sah ihn wieder an, sagte aber nichts.

Mo Ran holte die Seelenruf-Laterne hervor. Er hielt sie vorsichtig mit beiden Händen vor sich und senkte den Kopf, während er wortlos den Zauberspruch aufsagte.

Als er ihn dreimal wiederholt hatte, blitzte die Seelenruf-Laterne in einem blendenden Licht auf, so hell, dass sie die Augen zusammenkneifen mussten.

Mo Ran konnte vage den Gesang von Meister Huaizui hören, der über die tosenden Wasser des Landes der Toten hinweggetragen wurde, unaufhörlich vorbei an dem ruhigen und friedlichen Fluss des Vergessens.

„Zeit, zurückzukehren... Zeit, zurückzukehren..."

Die Worte waren schwer zu verstehen, als kämen sie aus großer Entfernung. Aber nach vielen Wiederholungen schien der Ruf zur Rückkehr immer näher zu kommen. Dann erklang auf einmal die undeutliche Stimme von Meister Huaizui in Mo Rans Ohren. „Warum gibt es zwei Erdseelen?" In der Stimme lag eine Spur von Besorgnis.

Mo Ran schloss seine Augen und übermittelte Huaizui alles mit einem Gedanken.

Die schwache Stimme verstummte für einen Moment, bevor sie sprach. „Ihr habt Chu Xun von der Halle-des-Rückenwinds getroffen?"

„Mn."

Ein langes Schweigen.

„Meister?"

„Es ist nichts. Wenn Chu-Gongzi behauptet, es sei normal, zwei Erdseelen zu haben, dann sollte es so sein, wie er sagt", sagte Huaizui. „Nur ‒ dieser bescheidene Mönch hat noch nie versucht, zwei Erdseelen gleichzeitig aus dem Geisterreich zurückzurufen, also könnte es länger dauern als erwartet. Ich werde Mo-Shizhu bitten, noch ein wenig zu warten."

Mo Ran warf einen Blick auf den zweiten Palast des vierten Königs. „Wie lange noch?", fragte er. „Wir sind gerade aus dem zweiten Palast des vierten Geisterkönigs geflohen, und sie könnten uns jeden Moment einholen..."

„Nicht mehr allzu lange. Seid unbesorgt, Mo-Shizhu." Bei diesen Worten wurde seine Stimme noch schwächer und wurde schließlich ganz vom Klang des Gesangs überlagert.

Chu Wanning konnte Huaizuis Stimme nicht hören, und seine Augenbrauen waren leicht zusammengezogen, als er sie beobachtete. „Was ist hier los?"

„Shizuns Seelen haben etwas Ungewöhnliches an sich, und der Meister sagt, dass wir noch warten müssen,", erklärte Mo Ran. „Wir sind hier zu nahe am zweiten Palast. Lass uns weiter weggehen."

Chu Wanning nickte, und die beiden gingen ein Stück weiter, bis sie um eine Ecke bogen. Inzwischen hatte sich der Himmel aufgehellt, und der alte Mann, der Mo Ran den Weg gewiesen hatte, war dabei, seinen Wan Tanstand zusammenzupacken. Als er Mo Ran entdeckte, wirkte er ziemlich erstaunt. „Aiya! Ihr habt ihn gefunden?"

Mo Ran hatte nicht damit gerechnet, diesen Mann noch einmal anzutreffen, und blinzelte überrascht. „Ja", antwortete er, „ja, das habe ich. Vielen Dank, Opa."

„Wofür bedankt Ihr Euch bei mir? Das ist alles dem Glück des kleinen Xianjun zu verdanken. Ay... Euer Gesicht ist verletzt?"

„Oh, das ist... eine Peitsche von den Geistersoldaten", sagte Mo Ran suchend Mo Ran nach einer Ausrede.

„Kein Wunder. Ich wollte sagen, nichts Durchschnittliches kann einem Geist etwas anhaben." Der alte Mann seufzte. „Es sieht schmerzhaft aus." Er überlegte einen Moment, dann öffnete er wieder die Schublade, die er weggepackt hatte, und zauberte zwei Schüsseln mit kleinen Wan Tans hervor, die er den beiden reichte. „Das sind nur die Reste, die ich heute nicht verkaufen konnte, aber ich lade euch ein. Esst etwas, bevor ihr geht."

Mo Ran bedankte sich bei dem Standbesitzer und verabschiedete sich von ihm. Der alte Mann schlenderte davon und nahm seinen Stand mit.

Chu Wanning mochte weder Frühlingszwiebeln noch Schnittlauch, und die Wan Tansuppe des alten Mannes war mit Frühlingszwiebeln gespickt. Mo Ran pflückte alle Frühlingszwiebeln aus seiner Schüssel und tauschte sie mit der von Chu Wanning aus. „Shizun, warum nimmst du nicht die hier?"

Chu Wanning warf ihm einen Blick zu, lehnte aber nicht ab. Er hob seinen Löffel und probierte vorsichtig. Mo Ran beobachtete ihn. Die eiskalte Suppe der Unterwelt berührte seine blassen Lippen, weder die Wan Tans noch die Suppe wurden kleiner, genau so, wie echte Geister aßen.

„Sind sie gut?"

„Es ist in Ordnung."

„Sie sind nicht so gut wie die Wan Tans, die du machst."

Chu Wanning verschluckte sich. Er blickte auf und starrte verblüfft auf den grinsenden Mann, der neben ihm saß und sein Kinn in die Hände gestützt hatte. Plötzlich fühlte sich Chu Wanning wie eine Flussmuschel, deren Schale aufgesprengt und in der Sonne liegen gelassen worden war, ohne ein einziges Geheimnis mehr. Es gab eine lange Pause. „Was für Wan Tans?", fragte er. Der Yuheng Älteste zog die Augenbrauen zusammen, machte ein strenges Gesicht und tat so, als ob er nichts wüsste, um die Lehrerwürde zu wahren, die gerade auf dem Boden verschüttet worden war.

„Es gibt keinen Grund mehr, es zu verbergen." Bevor diese Würde gerettet werden konnte, wurde sie von Mo Rans Hand, die sein Haar streicheln wollte, zerschmettert. Chu Wanning war wütend und niedergeschlagen zugleich.

„Ich weiß jetzt alles."

Chu Wanning wandte den Blick ab.

Mo Ran holte die Laterne mit Chu Wannings menschlicher Seele aus seinem Qiankunbeutel und legte sie neben die beiden auf die Steinbank. „Shizun war schon  zu Lebzeiten unbeholfen; selbst in der Unterwelt ist nur deine menschliche Seele aufrichtig."

„Ich habe sie für dich gemacht, es war nur, weil..."

Mo Ran zog eine Augenbraue hoch und blickte ihn mit einem kleinen Lächeln unverwandt an.

Es war nur, weil, was? Nur weil ich mich schlecht fühlte? Weil ich nicht wollte, dass du verhungerst? Weil ich es bedauerte? Das waren alles Worte die Chu Wanning nie laut aussprechen konnte.

Chu Wanning glaubte, sein eigenes Herz leide unter einem unsagbaren Schmerz. Er war immer viel stolzer gewesen als der Durchschnittsmensch und hielt es für eine Schande, jemandem Freundlichkeit zu erweisen, ihn zu lieben oder sich an ihn zu binden. Er hatte die Winde und den Regen vieler Jahre überstanden und sich an die Einsamkeit gewöhnt, wie ein strenger, einsamer Baum, der sich in den Himmel reckt. Ein großer Baum wie dieser zitterte nicht wie eine Blume und er weckte auch nicht die Zuneigung in den Herzen der Menschen. Er wiegte sich auch nicht sanft im Wind wie eine Reihe von Reben, verführerisch und verlockend. Er stand nur schweigend und streng, standhaft und verlässlich, hielt wortlos Wind und Regen für die Vorbeigehenden ab und bot denjenigen, die unter seinen Ästen Schutz vor der sengenden Sonne suchten, Schutz.

Vielleicht war er zu groß geworden, sein Blattwerk zu dicht. Die Menschen unter ihm würden nicht wissen, dass er derjenige war, der den sanften Schatten spendete, den sie genossen, es sei denn, sie würden sich bewusst bemühen, nach oben zu schauen. Aber von all den Reisenden, die hin und her gingen, hob nicht einer den Blick; keiner hatte ihn je bemerkt. Schließlich war die Blickrichtung der meisten Menschen gewohnheitsmäßig tiefer als sie selbst oder höchstens auf Augenhöhe ausgerichtet.Und so hatte sich Chu Wanning allmählich daran gewöhnt, so sehr, dass es ihm zur zweiten Natur wurde. Er erwartete es.

Aber niemand auf der Welt war von Geburt an abhängig oder verlässlich. Es gab einige, die sich an den Starken klammerten. Diese Art von Menschen wurde immer charmanter, immer süßer, und sie bauschten ihre knochenlosen Körper auf, um sich Gunst zu verschaffen, um zu betören, um sich mit honigsüßen Worten ihren Platz in der Welt zu sichern.

Und dann gab es solche wie Chu Wanning. Seit er in die Kultivierungswelt eingetreten war, war er immer derjenige, auf den man sich verlassen konnte. Menschen wie er wurden immer standhafter, immer stärker, bis schließlich sogar ihr Gesicht zu Eisen und ihr Herz zu Stahl wurde. Diese Art von Menschen hatte genug von der Verletzlichkeit und Unfähigkeit anderer gesehen. Sie hatten alles gesehen, was es an Charme und Liebenswürdigkeit gab, und weigerten sich daher, selbst auch nur einen Funken Schwäche zu zeigen. Sie waren die Schwertträger, die immer in voller Rüstung bereitstanden. Sie konnten keine Schwäche zeigen, und sie kannten keine Zärtlichkeit.

Nach so langer Zeit konnte man leicht vergessen, dass jeder Mensch mit Emotionen und Zuneigung geboren wurde, sowohl mit heftigen als auch mit sanften. Dass jeder Mensch schon als Kind wusste, wie man lacht und weint. Dass er wusste, wie man sich nach einem Sturz wieder aufrichtet, während er sich gleichzeitig ein Paar starke Arme wünschte, die ihm auf die Beine helfen.

Vielleicht hatte er vor langer Zeit einmal gehofft. Er hatte gehofft, dass ihm jemand die Hand reichen und ihm aufhelfen würde. Aber er hatte einmal gewartet, und es war niemand da gewesen. Ein zweites Mal und es war immer noch niemand da gewesen. Er hatte eine Enttäuschung nach der anderen erlebt und sich allmählich daran gewöhnt. Als endlich jemand kam, um ihm aufzuhelfen, hielt er es nicht mehr für nötig, sondern nur noch für beschämend.

Es ist nur ein kleiner Sturz. Ist ja nicht so, als hätte ich mir das Bein gebrochen. Kein Grund, zur Aufregung.

Und wenn das Bein gebrochen wäre? Er war der Typ, der einfach dachte: Es ist nur ein gebrochenes Bein; es ist nicht so, als wäre ich tot. Kein Grund, zur Aufregung.

Und was, wenn er gestorben wäre? Selbst als Geist würde er vielleicht denken: Nun, ich bin ja schon tot, es gibt keinen Grund, sich darüber aufzuregen.

Dieser Typus bemühte sich so sehr, sich von dem pingeligen Melodrama der Schwachen zu distanzieren. Doch ohne es zu merken, fielen sie stattdessen einer anderen Art von Melodrama zum Opfer: einem Stolz, der so hartnäckig war wie eine unheilbare Krankheit.

Mo Ran starrte diesen unheilbaren Mann an und war gespannt, was er sagen würde. Schließlich sagte Chu Wanning gar nichts mehr. Er presste nur die Lippen aufeinander und legte den Löffel hölzern ab. Er war sehr unglücklich.

Deshalb sprang er einen halben Moment später auf die Füße. „Versuch den Zauberspruch noch einmal", sagte er. „Ich will in die Seelenruf-Laterne gehen."

„Ah ..." Mo Ran blinzelte eine Sekunde lang, dann lachte er. „Ist die Seelenruf-Laterne eine Muschelschale, in der man sich verstecken kann, wenn einem etwas peinlich ist?"

Chu Wanning blickte Mo Ran mit ernster und feierlicher Miene an. Er schüttelte seine Ärmel aus. „Peinlich? Und warum, bitte schön, sollte mir das peinlich sein?"

„Natürlich ist es Shizun peinlich, weil..."

„Hör auf zu reden!", rief Chu Wanning verärgert und erschrocken aus. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Mo Ran so dickhäutig sein würde, dass er damit herausrückte, und fühlte sich, als hätte ihn eine Nadel gestochen.

„Weil Shizun gut zu mir ist."

Chu Wanning verstummte.

Mo Ran erhob sich nun auch auf seine Füße. Die roten Wolken des Geisterreichs segelten über den Himmel und verdeckten die trübe Mondsichel, die ihren Kopf herausstreckte, um den Boden mit einer Schicht aus frischem Frost zu bespritzen und Mo Rans Gesicht zu beleuchten. Er lachte nicht mehr ‒ sein Gesichtsausdruck war ernst und aufrichtig.

„Shizun, ich weiß, dass du gut zu mir bist. Ich weiß nicht, ob du dich noch an all das erinnern wirst, wenn deine Seelen zurückgekehrt sind, aber... Wie auch immer, ich möchte es trotzdem sagen. Von nun an bist du für mich einer der wichtigsten Menschen auf der Welt. Dieser Schüler hat in der Vergangenheit viele Dummheiten begangen, und obwohl ich eindeutig den besten Shizun der Welt hatte, war mein Herz mit Groll und Hass erfüllt. Wenn ich jetzt zurückblicke, bin ich nur von unendlichem Bedauern erfüllt."

Chu Wanning sah ihn an.

„Shizun ist der beste, beste Shizun, und dieser Schüler ist der schlechteste, schlechteste Schüler."

Chu Wanning hatte sich zunächst unwohl gefühlt. Aber als er Mo Ran zuhörte, wie er versuchte, sich mit seinem jämmerlichen Vokabular auszudrücken, wie er sein Bestes gab und doch so unbeholfen war, versuchte Chu Wanning zu widerstehen, aber am Ende konnte er sich ein leises Lächeln nicht verkneifen. „Ich verstehe." Er nickte und wiederholte: „Shizun ist der beste, beste Shizun, und dieser Schüler ist der schlechteste, schlechteste Schüler. Wenigstens hast du endlich etwas Selbsterkenntnis."

Chu Wanning war kein gieriger Mensch. Er gab anderen großzügig, verlangte aber nie viel für sich selbst. Vielleicht hatte er nicht die Zuneigung von Mo Ran. Aber eine wichtige Person für Mo Ran zu sein, der beste Shizun für ihn zu sein? Das war gar nicht so schlecht. Wenn es um Gefühle ging, war er ohnehin immer arm gewesen ‒ verzweifelt arm, aber nicht bereit, um mehr zu betteln. Und jetzt war da jemand, der ihm ein kleines Stück warmes Shaobing zu essen gab. Er war furchtbar glücklich und genoss das Shaobing in winzigen Bissen. Das war genug für ihn.

Dieser Dummkopf Mo Ran hingegen... Als er sah, dass er auch dieses Stück Seele zum Lächeln gebracht hatte, war er ein wenig verblüfft, und sein Herz schwoll an vor unerklärlicher Freude. „Shizun, du solltest mehr lächeln. Du siehst viel hübscher aus, wenn du lächelst."

Chu Wanning hörte auf zu lächeln. Da war seine hartnäckige, stolze Krankheit, die ihn dazu brachte, ‘hübsch aussehen‘ für ein kokettes Lob zu halten, das an Wildkräuter wie Rong Jiu gerichtet war. Er wollte damit nichts zu tun haben.

Aber Mo Ran mit seinem miserablen Urteilsvermögen versuchte immer noch krampfhaft, seinen lieben Shizun zu loben. „Shizun, wusstest du das? Wenn du lächelst ... äh ... wie soll ich es beschreiben ..." Er zerbrach sich den Kopf, um einen Ausdruck zu finden, der die Schönheit des Anblicks, den er gerade erlebt hatte, angemessen beschreiben konnte. Etwas, das mit Lächeln zu tun hatte.

Der Glockenschwengel in der Unterwelt ertönte noch drei weitere Male. Die Inspiration schlug zu. „Natürlich!", platzte es aus ihm heraus. „Es ist ein Lächeln in der Unterwelt!"

Chu Wanning war sprachlos, und jetzt war er wirklich wütend. Er tat so, als hätte er es nicht gehört, und zog abrupt seinen Ärmel zur Seite, um die Seelenruf-Laterne aufzuheben. „Mo Weiyu", schimpfte er streng, „all dieses Gequassel und du kannst den Zauber immer noch nicht sprechen? Noch ein Wort des Unsinns und ich marschiere selbst zum Palast des vierten Königs zurück. Das ist besser, als in das Reich der Sterblichen zurückzukehren, um sich den ganzen Tag lang dein Gefasel anzuhören!"

Mo Ran war verblüfft. ‘Lächeln in der Unterwelt‘... hatte er das falsch gesagt? Aber Chu Wanning hatte, doch ein besonders hübsches Lächeln, und sie befanden sich in der Unterwelt. Es war nicht falsch...

So ein Streit in der Öffentlichkeit würde zu viel Aufmerksamkeit erregen. Mo Ran hatte keine Ahnung, was er falsch gemacht hatte, aber wenn Shizun ihm sagte, er solle die Klappe halten, würde er die Klappe halten. Bei diesem Gedanken kratzte er sich am Kopf und zerrte Chu Wanning in eine abgelegenere Ecke. Das stetige Singen in seinem Kopf war inzwischen lauter geworden. Mo Ran wagte es, Huaizui zu fragen: „Meister, seid Ihr bald fertig?"

Auf der anderen Seite war es einen Moment lang still. Dann ertönte das hohle Klopfen einer Holzglocke, und Huaizuis Stimme, kristallklar, sprach wie neben seinem Ohr: „Fast."

Huaizuis Stimme war gerade wieder verklungen, als sich aus Chu Wannings zweite Erdseele goldene Lichtflecken zu verbreiten begannen. Seine Gestalt wurde immer schwächer, während sich das goldene Licht zerstreute, bis es schließlich in Millionen von Glühwürmchen zerfiel, die wie die Sterne der Milchstraße in die Seelenlampe strömten.

Mo Ran konnte Meister Huaizui singen hören, getragen über die tosenden Wasser des Landes der Toten, unaufhörlich vorbei an dem ruhigen und friedlichen Fluss des Vergessens. „Zeit, zurückzukehren... Zeit, zurückzukehren..."

Alle sterblichen Leiden wurden allmählich von den Seufzern des buddhistischen Gesangs, der weit entfernt und doch nah war, in ein blasses Weiß gewaschen. Mo Ran umarmte die Seelenruf-Laterne und spürte, wie sein Körper immer leichter, immer leerer und leerer wurde.

Dong! Ein klarer Ton von der Holzglocke. Er schnitt wie ein scharfes Messer und zerbrach brutal die tranceartige Rezitation.

Mo Rans Augen flogen auf, und er kam ruckartig wieder zu sich. Alles aus dem Geisterreich war verschwunden, als wäre er aus einem langen Traum erwacht. Er fand sich auf einem Bambusfloß wieder, das an der Naihe-Brücke des Sisheng-Gipfels vertäut war. Das Wasser unter den Bambusleisten plätscherte und spritzte um ihn herum.

Der Himmel war blau wie eine Krabbenschale, gefärbt mit einem Hauch von blassem Rot. Die Bambusblätter an den Ufern des großen Flusses tanzten in der Brise, das tausendfache Flüstern ihrer Millionen von Blättern lag zart in der Luft. Die Morgendämmerung brach gerade an.

Mo Ran blinzelte benommen. Als er feststellte, dass die Seelenruf-Laterne, die er in den Armen gehalten hatte, verschwunden war, setzte er sich in aller Eile aufrecht hin und erschrak zu Tode.

Shizun‒!"

„Schreit nicht", sagte eine Stimme gleichmäßig.

Mo Ran keuchte, als wäre er aus einem Albtraum erwacht. Sein Gesicht war blass, als er den Kopf drehte und sah, wie Huaizui am Ufer kniete und auf eine hölzerne Glocke klopfte, die auf einem Felsen stand, seine klaren Augen offen. „Selbst wenn Ihr schreit, wird er Euch nicht hören."

Die Seelenruf-Laterne ruhte neben der Holzglocke und strahlte mit ihrem Licht, glühend und prächtig. Die Kraft von Chu Wannings Seele war unbeschreiblich schön.

Huaizui hob die Laterne auf und erhob sich. Er nickte Mo Ran zu. „Das habt Ihr sehr gut gemacht, junger Mo-Shizhu."

Mo Ran kletterte ebenfalls auf seine Füße und sprang mit Leichtigkeit vom Bambusfloß ans Ufer. Er zerrte ängstlich an Huaizui. „Meister, sollen wir Shizuns sterblichen Körper in der Frosthimmel-Halle suchen gehen? Lasst uns jetzt gehen! Wenn wir zu lange warten, fürchte ich, dass sich seine Seelen wieder zerstreuen werden."

Huaizui konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Für Seelen ist es nicht so einfach sich aufzulösen. Keine Sorge, dieser bescheidene Mönch hat bereits Xue-Shizhu geschickt, um mit eurem geschätzten Sektenanführer zu sprechen. Der sterbliche Körper von Chu Wanning sollte jetzt auf dem Weg zum Roten-Lotus-Pavillon sein. Ich werde mich dort zurückziehen, während ich den Ritus durchführe, um die Seelen eures Shizun zurück in seinen Körper zu übertragen."

„Dann lasst uns gehen, schnell!" drängte Mo Ran. Als er Huaizuis schwaches Lächeln sah, fügte er hastig hinzu: „Ich meine, lasst Euch Zeit, Meister. Keine Eile, keine Eile." Aber absolut alles ihm deutete darauf hin, dass er es nicht eilig hatte ‒ seine Stirn war sichtlich gerunzelt, seine Füße schritten wie von selbst vorwärts, und fast wollte er die Hand ausstrecken, um an Huaizuis Ärmel zu ziehen.

Huaizui schüttelte den Kopf. Er seufzte und sagte dann mit einem Lächeln: „Der junge Shizhu sollte nicht so ungeduldig sein."

Mo Ran winkte mit den Händen. „Keine Eile, keine Eile, langsam und gleichmäßig ist am besten."

„In der Tat, Stetigkeit ist wichtig. Wenn die Seelen den Körper verlassen, können sie nicht sofort in das Fleisch zurückkehren. Das würde gegen die Gesetze des Himmels verstoßen, und die Seelen würden sich auf natürliche Weise auflösen. Gewiss wird dieser bescheidene Mönch es langsam angehen."

„Richtig, richtig, richtig. Gut, gut, gut, macht es langsam." Mo Ran stimmte zu. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten, und nach einigem Zögern fragte er sehr vorsichtig: „Wie lange wird es dann dauern, bis Shizun wieder ins Leben zurückkehrt?"

Huaizai antwortete ruhig: „Fünf Jahre."

„Verstehe, fünf Jahre sind in Ord ‒ fünf Jahre?!" Die Farbe wich aus Mo Rans Gesicht. Er fühlte sich, als würde er ersticken.

„Mindestens fünf Jahre."

Mo Ran war absolut, vollkommen, total sprachlos.

 

 

Erklärungen:

…ein Lächeln in der Unterwelt: ‘In der Unterwelt lächeln‘, 含笑九泉, ist eine Redewendung, die bedeutet im Grab zu lächeln, d. h. ohne Bedauern zu sterben. Mo Ran hat es wörtlich genommen.

Die Holzglocke ist auch als Holzfisch bekannt. Ein buddhistisches hölzernes Perkussionsinstrument, das bei Ritualen und zur Aufrechterhaltung des Rhythmus während des Gesangs verwendet wird.




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Extrakapitel: Meatbun's Mini-Theater~  Der kleine Welpe und das große weiße Kätzchen

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3 Kommentare:

  1. Wo fang ich an... es passiert so viel in diesem Kapitel und ich bin zu sehr begeistert *-*
    Die Szene, als Chu Wanning merkt, dass er die Energie von Jiangui benützen kann und ihre Verfolger damit loswerden konnte und den Barriere Siegel zerstören. Allein wie Chu Wanning beschrieben würde *-*
    Diese Hürde wäre jetzt geschafft. Aber in Chu Wanning geht so vieles vor, als er die Wunde auf Mo Ran seiner Wange sieht. Und Mo Ran weiß nun langsam wie sein Shizun tickt und findet die richtigen Worte. Allein als sie die Wan Tans gegessen haben und Chu Wanning einfach nur in die Laterne flüchten will XD
    Aber dann haben sie es geschafft. Jetzt heißt es, sich fünf Jahre zu gedulden. Für Mo Ran erstmal ein Schock, der es kaum erwarten konnte, dass es weiter geht. Aber was sind schon fünf Jahre? So gesehen ist das keine Zeit, wenn man jemanden für immer hätte verlieren können.

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    1. Ich frage mich nur wie lange dieser Befehl für Jiangui gilt? Also könnte Chu Wanning auch Jahre später noch von diesem Befehl und damit JIangui gebrauch machen?
      Mo Ran lernt halt sehr schnell, besonders wenn es um etwas geht das ihm sehr wichtig ist. Ich glaube in einem Test um Chu Wannings Launen und Emotionen zu entschlüsseln würde Mo Ran ihn mit Bravour bestehen. ^^
      Chu Wannings Lieblingsmethode in Herzensangelegenheiten ist und bleibt die Flucht und bei Mo Ran ist es, wenn er sich einer Sache sicher ist die Konfrontation. Also alles in allem ein Trubel verursachendes Paar.
      Zum Glück werden diese fünf Jahre nicht in ewig langen Kapiteln dargestellt, ich glaube es sind maximal fünf Kapitel bevor Chu Wanning wieder aufersteht

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  2. So ein schönes Kapitel, es weckt einfach Erwartungen, wie es mit den Beiden weitergeht, wenn die 5 Jahre vorbei sind, ich freu mich drauf

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