Chu Wanning konnte die Worte, die Rong Jiu hinter ihnen rief, nicht hören. Doch er brauchte sich nur umzudrehen, um zu erkennen, dass Rong Jiu ihn im Lagerhaus absichtlich provoziert hatte. Er hatte Chu Wanning absichtlich wütend gemacht und dann den günstigen Moment genutzt, um zu fliehen und ihn zu verpfeifen.
Normalerweise war Chu Wanning der Typ, der in jeder
Situation rational denkt. Aber wenn es um etwas ging, das mit Mo Ran zu tun
hatte, schienen sich all seine Vernunft und Ruhe in Luft aufzulösen. Er war
verblüfft darüber, wie leicht er sich von einem solchen Feigling mit ein paar
Worten hinters Licht führen ließ. Er blickte zu Mo Ran, der ein paar Schritte
vor ihm lief, und fragte unwillkürlich: „Bist du danach jemals... zu diesem
Unsterblichen-Pfirsich-Pavillon zurückgekehrt?"
Als Mo Ran diesen Namen hörte, den er selbst fast vergessen
hatte, stolperte er. „Rong Jiu, dieser dreckige Bastard!", schrie er
wütend. „Hat er gesagt, ich sei zum Unsterblichen-Pfirsich-Pavillon
zurückgegangen?! Warum sollte ich?! Shizun, bist du deshalb so wütend? Weil er
gesagt hat, dass ich dich belogen habe?"
Chu Wanning antwortete nicht.
„Nach der Sache auf der Plattform der Sünde und der Tugend
bin ich nie wieder zu... solchen Orten gegangen. Ich würde Shizun nicht
anlügen. Wenn du mir nicht glaubst, kannst du Jiangui benutzen, um mich zu
fesseln, und mich dann fragen."
Nach einer Sekunde sagte Chu Wanning: „Nicht nötig."
Er blickte auf Jiangui hinunter, die er immer noch fest in der Hand hielt. Wenn
er daran dachte, wie er gerade eben spirituelle Energie in die Weidenranke
injiziert hatte, um Mo Ran blutig zu peitschen, ohne Rücksicht und Grund, das
war wirklich...
Moment, eine heilige Waffe?!
Jianguis Flammen erleuchteten sein Antlitz, hell gegen die
Dunkelheit der Nacht. Chu Wanning starrte sie an, sein Verstand drehte und
wendete sich rasend schnell. Er versuchte, den Fluss der spirituellen Energie umzukehren,
indem er sie von Jiangui in seine Handfläche zog, und spürte augenblicklich
eine starke, reichhaltige Energie in sich aufsteigen. Plötzlich wusste Chu
Wanning, woher er die spirituelle Energie nehmen konnte. Während diese Energie nicht
zwischen den Lebenden und den Toten fließen konnte, war es der Energie einer
heiligen Waffe völlig egal, ob der Träger ein Mensch, ein Geist, ein Gott oder
ein Dämon war. Solange die Waffe selbst dies zuließ, machte es keinen
Unterschied!
Mo Ran brauchte eine Sekunde, um zu bemerken, dass Chu
Wanning zurückgeblieben war. Als er es bemerkte, drehte er sich sofort um und
fragte besorgt: „Shizun, was ist los?" Die Peitschenwunde in seinem
Gesicht blutete noch immer, und mit seinen leuchtenden schwarzen Augen sah er
noch mitleiderregender aus.
Chu Wanning schürzte die Lippen, verärgert und ein wenig gequält.
Er fühlte, dass er Mo Ran unrecht getan hatte, doch sein Stolz wies ihn darauf
hin, dass Mo Ran sich damals tatsächlich mit Leuten wie Rong Jiu eingelassen
hatte, so dass der Peitschenhieb nicht ganz unverdient gewesen war. Selbst nach
kurzem Nachdenken wusste Chu Wanning nicht, in welchem Ton oder mit welchem
Gesichtsausdruck er ihm gegenübertreten sollte. Er konnte nur den einfachsten
Weg gehen und weder mit Gefühl noch mit Nachdruck sprechen. „Mo Ran, bleib
stehen. Zieh dich zu den Palastmauern zurück."
„Um was zu tun?", fragte Mo Ran zögernd.
Chu Wannings Ton war flach. „Ich werde dir einen Trick
zeigen."
Mo Ran war verblüfft. Bevor er die Worte seines Shizuns
verstehen konnte, sah er, wie das rote Licht von Jiangui unaufhörlich in das
Seelenfragment von Chu Wanning floss und ihn in einen Flammenvorhang einhüllte.
Mo Rans Augen weiteten sich, als er sah, wie Chu Wanning und Jiangui
aufeinander reagierten. Dann verschwanden die Flammen. Der Mann in der
rot-goldenen Robe hob die Weidenranke mit den zischenden Flammenfäden in die
Höhe und wandte seinen Kopf zu ihm. „Mo Ran, gib Jiangui einen Befehl."
Mo Ran ahnte nun, was Chu Wanning zu tun gedachte, auch
wenn er es kaum glauben konnte. Prompt rief er einen Befehl: „Jiangui, befolge
die Befehle von Shizun als wären es meine!"
Die Weidenranke in Chu Wannings Hand knisterte, dann brach
sie in kristallrote Funkenfäden aus, und die Blätter der Ranke leuchteten hell
auf. Chu Wanning hob seine freie Hand und strich mit den Fingerspitzen
Zentimeter für Zentimeter über Jiangui. Durch seine Berührung erstrahlte die
Weidenranke in einem noch helleren Glanz. Die Tausende von Geistersoldaten
kamen nun immer näher. Hinter ihnen ragten die mit Barrieren versiegelten
Palastmauern in die Höhe. Es gab keine Möglichkeit zu fliehen.
Aber das hatte Chu Wanning auch nicht vor.
Licht flackerte in seinen Augen auf und breitete sich aus,
und ein Sturm brauste auf. Chu Wannings Robe tanzte im Sturm, während er die
Weidenranke hochhielt und sie wild durch die Luft peitschte. Jiangui schlug aus
wie ein aufsteigender Drache, leuchtete golden und strahlend und erhellte den
weiten Nachthimmel. Auf Mo Rans Befehl hin wies Jiangui Chu Wanning nicht mehr
zurück, sondern kanalisierte ihre reichhaltige spirituelle Energie unaufhörlich
in Chu Wannings Erdseele. Seine Augen leuchteten mit diesem blendenden Glanz,
und seine Stimme war tief und fest, als er befahl: „Jiangui, Zehntausend Särge!"
In diesem Sekundenbruchteil brachen zahllose Schlangen
goldener und roter Weidenranken mit einem Grollen aus der Erde hervor und
zerfetzten die prächtige Palasthalle in zerbrochene Schindeln und
Ziegelbrocken. Dicke, mächtige, uralte Ranken umschlangen die Geistersoldaten,
zogen sie hinein und schlossen sie dann fest ein.
Mo Ran sah schockiert zu, wie all dies vor seinen Augen
geschah. Er sah, wie die heilige Waffe und das Seelenfragment von Chu Wanning
zusammenwirkten und zu einer Einheit verschmolzen. Er sah Chu Wannings Robe
flattern, sein tiefschwarzes Haar wie Rauch und Wolken. Ob im Leben oder im
Tod, sein Geist war immer so gewesen. Welterschütternd lodernd. Unaufhaltsam.
Chu Wanning nutzte diese Gelegenheit, sprang zurück und
legte seine Hand auf die Palastmauer. Er schloss die Augen, und in
Sekundenschnelle hatte er die Schwachstelle der Barriere ausgemacht. „Neun Fuß
und vier Zentimeter nach rechts oben. Greift mit Feuer an!"
Mo Ran befolgte seine Anweisungen, ohne zu zögern, und
sprang hoch. Bevor einer der Geister des zweiten Palastes reagieren konnte,
hatte der lodernde Feuerzauber in seinen Handflächen Gestalt angenommen. Er
schleuderte ihn genau auf die Stelle, die Chu Wanning angegeben hatte. Die Erde
bebte und die Berge erzitterten. Die unvorstellbar hohen Palastmauern zerfielen
in Windeseile und kehrten auf ihre ursprüngliche Höhe zurück, und auch das Barrieresiegel
zerbrach und zerfiel im Handumdrehen zu Staub.
„Los!"
Mo Ran ließ sich das nicht zweimal sagen, er sprang auf die
Mauer und drehte sich dann um, um Chu Wanning an seiner Seite hochzuziehen. Die
beiden brachen aus dem zweiten Palast des vierten Geisterkönigs aus und
verschwanden in der grenzenlosen Nacht.
_______________________
In einer kleinen, engen Gasse lehnten Chu Wanning und Mo
Ran an den gegenüberliegenden Wänden und starrten sich gegenseitig an, ohne ein
Wort zu sagen. Mo Ran war der Erste, der einknickte und ein Kichern von sich
gab. „Der alte Geist wird wahrscheinlich so wütend sein, dass er stirbt...hss!"
Seine Mundwinkel zogen sich nach hinten und zogen an der Wunde auf seiner
Wange.
Chu Wanning musterte ihn. „Hör auf zu lachen."
Mo Ran hielt inne. In der schummrigen Gasse flackerten
seine Wimpern, und seine sanften, pechschwarzen Augen blickten Chu Wanning an. „Shizun,
bist du immer noch böse auf mich?"
Wenn er gesagt hätte: ‘Shizun, hast du mir nicht unrecht
getan?', hätte Chu Wanning es vielleicht nicht zu schätzen gewusst. Aber
stattdessen hatte er gefragt, ob er immer noch böse sei. Chu Wanning schwankte
einen Moment, dann wich er entschlossen dem Thema aus. „Beeil dich und sprich
den Zauber. Wir sind dem vierten König nur knapp entkommen. Er hat vielleicht
noch nicht das Gesicht, es den anderen Geisterkönigen zu sagen, aber darauf
können wir uns nicht verlassen, wenn sich das hier noch länger hinzieht."
In dem Moment, als Mo Ran diese Worte hörte, wusste er,
dass Chu Wanning nicht mehr gehen würde. Er würde nicht verschwinden. Und so
entspannte sich endlich sein Herz, das die ganze Zeit über wie eine Bogensehne
gespannt gewesen war. Er konnte nicht anders, als wieder zu grinsen. „Mn."
Aber je mehr er lächelte, desto mehr schmerzte es, und seine Hand hob sich
unbewusst, um seine Wange zu bedecken.
Chu Wanning sah ihn wieder an, sagte aber nichts.
Mo Ran holte die Seelenruf-Laterne hervor. Er hielt sie
vorsichtig mit beiden Händen vor sich und senkte den Kopf, während er wortlos
den Zauberspruch aufsagte.
Als er ihn dreimal wiederholt hatte, blitzte die
Seelenruf-Laterne in einem blendenden Licht auf, so hell, dass sie die Augen
zusammenkneifen mussten.
Mo Ran konnte vage den Gesang von Meister Huaizui hören,
der über die tosenden Wasser des Landes der Toten hinweggetragen wurde,
unaufhörlich vorbei an dem ruhigen und friedlichen Fluss des Vergessens.
„Zeit, zurückzukehren... Zeit, zurückzukehren..."
Die Worte waren schwer zu verstehen, als kämen sie aus
großer Entfernung. Aber nach vielen Wiederholungen schien der Ruf zur Rückkehr
immer näher zu kommen. Dann erklang auf einmal die undeutliche Stimme von
Meister Huaizui in Mo Rans Ohren. „Warum gibt es zwei Erdseelen?" In der
Stimme lag eine Spur von Besorgnis.
Mo Ran schloss seine Augen und übermittelte Huaizui alles
mit einem Gedanken.
Die schwache Stimme verstummte für einen Moment, bevor sie
sprach. „Ihr habt Chu Xun von der Halle-des-Rückenwinds getroffen?"
„Mn."
Ein langes Schweigen.
„Meister?"
„Es ist nichts. Wenn Chu-Gongzi behauptet, es sei normal,
zwei Erdseelen zu haben, dann sollte es so sein, wie er sagt", sagte
Huaizui. „Nur ‒ dieser bescheidene Mönch hat noch nie versucht, zwei Erdseelen
gleichzeitig aus dem Geisterreich zurückzurufen, also könnte es länger dauern
als erwartet. Ich werde Mo-Shizhu bitten, noch ein wenig zu warten."
Mo Ran warf einen Blick auf den zweiten Palast des vierten
Königs. „Wie lange noch?", fragte er. „Wir sind gerade aus dem zweiten
Palast des vierten Geisterkönigs geflohen, und sie könnten uns jeden Moment einholen..."
„Nicht mehr allzu lange. Seid unbesorgt, Mo-Shizhu."
Bei diesen Worten wurde seine Stimme noch schwächer und wurde schließlich ganz
vom Klang des Gesangs überlagert.
Chu Wanning konnte Huaizuis Stimme nicht hören, und seine
Augenbrauen waren leicht zusammengezogen, als er sie beobachtete. „Was ist hier
los?"
„Shizuns Seelen haben etwas Ungewöhnliches an sich, und der
Meister sagt, dass wir noch warten müssen,", erklärte Mo Ran. „Wir sind
hier zu nahe am zweiten Palast. Lass uns weiter weggehen."
Chu Wanning nickte, und die beiden gingen ein Stück weiter,
bis sie um eine Ecke bogen. Inzwischen hatte sich der Himmel aufgehellt, und
der alte Mann, der Mo Ran den Weg gewiesen hatte, war dabei, seinen Wan Tanstand
zusammenzupacken. Als er Mo Ran entdeckte, wirkte er ziemlich erstaunt. „Aiya! Ihr
habt ihn gefunden?"
Mo Ran hatte nicht damit gerechnet, diesen Mann noch einmal
anzutreffen, und blinzelte überrascht. „Ja", antwortete er, „ja, das habe
ich. Vielen Dank, Opa."
„Wofür bedankt Ihr Euch bei mir? Das ist alles dem Glück
des kleinen Xianjun zu verdanken. Ay... Euer Gesicht ist verletzt?"
„Oh, das ist... eine Peitsche von den Geistersoldaten",
sagte Mo Ran suchend Mo Ran nach einer Ausrede.
„Kein Wunder. Ich wollte sagen, nichts Durchschnittliches
kann einem Geist etwas anhaben." Der alte Mann seufzte. „Es sieht
schmerzhaft aus." Er überlegte einen Moment, dann öffnete er wieder die
Schublade, die er weggepackt hatte, und zauberte zwei Schüsseln mit kleinen Wan
Tans hervor, die er den beiden reichte. „Das sind nur die Reste, die ich heute
nicht verkaufen konnte, aber ich lade euch ein. Esst etwas, bevor ihr geht."
Mo Ran bedankte sich bei dem Standbesitzer und
verabschiedete sich von ihm. Der alte Mann schlenderte davon und nahm seinen
Stand mit.
Chu Wanning mochte weder Frühlingszwiebeln noch
Schnittlauch, und die Wan Tansuppe des alten Mannes war mit Frühlingszwiebeln
gespickt. Mo Ran pflückte alle Frühlingszwiebeln aus seiner Schüssel und
tauschte sie mit der von Chu Wanning aus. „Shizun, warum nimmst du nicht die
hier?"
Chu Wanning warf ihm einen Blick zu, lehnte aber nicht ab.
Er hob seinen Löffel und probierte vorsichtig. Mo Ran beobachtete ihn. Die
eiskalte Suppe der Unterwelt berührte seine blassen Lippen, weder die Wan Tans
noch die Suppe wurden kleiner, genau so, wie echte Geister aßen.
„Sind sie gut?"
„Es ist in Ordnung."
„Sie sind nicht so gut wie die Wan Tans, die du machst."
Chu Wanning verschluckte sich. Er blickte auf und starrte
verblüfft auf den grinsenden Mann, der neben ihm saß und sein Kinn in die Hände
gestützt hatte. Plötzlich fühlte sich Chu Wanning wie eine Flussmuschel, deren
Schale aufgesprengt und in der Sonne liegen gelassen worden war, ohne ein
einziges Geheimnis mehr. Es gab eine lange Pause. „Was für Wan Tans?",
fragte er. Der Yuheng Älteste zog die Augenbrauen zusammen, machte ein strenges
Gesicht und tat so, als ob er nichts wüsste, um die Lehrerwürde zu wahren, die
gerade auf dem Boden verschüttet worden war.
„Es gibt keinen Grund mehr, es zu verbergen." Bevor
diese Würde gerettet werden konnte, wurde sie von Mo Rans Hand, die sein Haar
streicheln wollte, zerschmettert. Chu Wanning war wütend und niedergeschlagen
zugleich.
„Ich weiß jetzt alles."
Chu Wanning wandte den Blick ab.
Mo Ran holte die Laterne mit Chu Wannings menschlicher
Seele aus seinem Qiankunbeutel und legte sie neben die beiden auf die
Steinbank. „Shizun war schon zu
Lebzeiten unbeholfen; selbst in der Unterwelt ist nur deine menschliche Seele
aufrichtig."
„Ich habe sie für dich gemacht, es war nur, weil..."
Mo Ran zog eine Augenbraue hoch und blickte ihn mit einem
kleinen Lächeln unverwandt an.
Es war nur, weil, was? Nur weil ich mich
schlecht fühlte? Weil ich nicht wollte, dass du verhungerst? Weil ich es
bedauerte? Das waren alles Worte die Chu Wanning nie laut
aussprechen konnte.
Chu Wanning glaubte, sein eigenes Herz leide unter einem
unsagbaren Schmerz. Er war immer viel stolzer gewesen als der
Durchschnittsmensch und hielt es für eine Schande, jemandem Freundlichkeit zu
erweisen, ihn zu lieben oder sich an ihn zu binden. Er hatte die Winde und den
Regen vieler Jahre überstanden und sich an die Einsamkeit gewöhnt, wie ein
strenger, einsamer Baum, der sich in den Himmel reckt. Ein großer Baum wie
dieser zitterte nicht wie eine Blume und er weckte auch nicht die Zuneigung in
den Herzen der Menschen. Er wiegte sich auch nicht sanft im Wind wie eine Reihe
von Reben, verführerisch und verlockend. Er stand nur schweigend und streng,
standhaft und verlässlich, hielt wortlos Wind und Regen für die Vorbeigehenden
ab und bot denjenigen, die unter seinen Ästen Schutz vor der sengenden Sonne
suchten, Schutz.
Vielleicht war er zu groß geworden, sein Blattwerk zu
dicht. Die Menschen unter ihm würden nicht wissen, dass er derjenige war, der
den sanften Schatten spendete, den sie genossen, es sei denn, sie würden sich
bewusst bemühen, nach oben zu schauen. Aber von all den Reisenden, die hin und
her gingen, hob nicht einer den Blick; keiner hatte ihn je bemerkt. Schließlich
war die Blickrichtung der meisten Menschen gewohnheitsmäßig tiefer als sie
selbst oder höchstens auf Augenhöhe ausgerichtet.Und so hatte sich Chu Wanning
allmählich daran gewöhnt, so sehr, dass es ihm zur zweiten Natur wurde. Er
erwartete es.
Aber niemand auf der Welt war von Geburt an abhängig oder
verlässlich. Es gab einige, die sich an den Starken klammerten. Diese Art von
Menschen wurde immer charmanter, immer süßer, und sie bauschten ihre
knochenlosen Körper auf, um sich Gunst zu verschaffen, um zu betören, um sich
mit honigsüßen Worten ihren Platz in der Welt zu sichern.
Und dann gab es solche wie Chu Wanning. Seit er in die
Kultivierungswelt eingetreten war, war er immer derjenige, auf den man sich
verlassen konnte. Menschen wie er wurden immer standhafter, immer stärker, bis
schließlich sogar ihr Gesicht zu Eisen und ihr Herz zu Stahl wurde. Diese Art
von Menschen hatte genug von der Verletzlichkeit und Unfähigkeit anderer
gesehen. Sie hatten alles gesehen, was es an Charme und Liebenswürdigkeit gab,
und weigerten sich daher, selbst auch nur einen Funken Schwäche zu zeigen. Sie
waren die Schwertträger, die immer in voller Rüstung bereitstanden. Sie konnten
keine Schwäche zeigen, und sie kannten keine Zärtlichkeit.
Nach so langer Zeit konnte man leicht vergessen, dass jeder
Mensch mit Emotionen und Zuneigung geboren wurde, sowohl mit heftigen als auch
mit sanften. Dass jeder Mensch schon als Kind wusste, wie man lacht und weint.
Dass er wusste, wie man sich nach einem Sturz wieder aufrichtet, während er
sich gleichzeitig ein Paar starke Arme wünschte, die ihm auf die Beine helfen.
Vielleicht hatte er vor langer Zeit einmal gehofft. Er
hatte gehofft, dass ihm jemand die Hand reichen und ihm aufhelfen würde. Aber
er hatte einmal gewartet, und es war niemand da gewesen. Ein zweites Mal und es
war immer noch niemand da gewesen. Er hatte eine Enttäuschung nach der anderen
erlebt und sich allmählich daran gewöhnt. Als endlich jemand kam, um ihm
aufzuhelfen, hielt er es nicht mehr für nötig, sondern nur noch für beschämend.
Es ist nur ein kleiner Sturz. Ist ja nicht so,
als hätte ich mir das Bein gebrochen. Kein Grund, zur Aufregung.
Und wenn das Bein gebrochen wäre? Er war der Typ, der
einfach dachte: Es ist nur ein gebrochenes Bein; es ist nicht so, als wäre
ich tot. Kein Grund, zur Aufregung.
Und was, wenn er gestorben wäre? Selbst als Geist würde er
vielleicht denken: Nun, ich bin ja schon tot, es gibt keinen Grund, sich
darüber aufzuregen.
Dieser Typus bemühte sich so sehr, sich von dem pingeligen
Melodrama der Schwachen zu distanzieren. Doch ohne es zu merken, fielen sie
stattdessen einer anderen Art von Melodrama zum Opfer: einem Stolz, der so
hartnäckig war wie eine unheilbare Krankheit.
Mo Ran starrte diesen unheilbaren Mann an und war gespannt,
was er sagen würde. Schließlich sagte Chu Wanning gar nichts mehr. Er presste
nur die Lippen aufeinander und legte den Löffel hölzern ab. Er war sehr
unglücklich.
Deshalb sprang er einen halben Moment später auf die Füße. „Versuch
den Zauberspruch noch einmal", sagte er. „Ich will in die
Seelenruf-Laterne gehen."
„Ah ..." Mo Ran blinzelte eine Sekunde lang, dann
lachte er. „Ist die Seelenruf-Laterne eine Muschelschale, in der man sich
verstecken kann, wenn einem etwas peinlich ist?"
Chu Wanning blickte Mo Ran mit ernster und feierlicher
Miene an. Er schüttelte seine Ärmel aus. „Peinlich? Und warum, bitte schön,
sollte mir das peinlich sein?"
„Natürlich ist es Shizun peinlich, weil..."
„Hör auf zu reden!", rief Chu Wanning verärgert und
erschrocken aus. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Mo Ran so dickhäutig sein
würde, dass er damit herausrückte, und fühlte sich, als hätte ihn eine Nadel
gestochen.
„Weil Shizun gut zu mir ist."
Chu Wanning verstummte.
Mo Ran erhob sich nun auch auf seine Füße. Die roten Wolken
des Geisterreichs segelten über den Himmel und verdeckten die trübe Mondsichel,
die ihren Kopf herausstreckte, um den Boden mit einer Schicht aus frischem
Frost zu bespritzen und Mo Rans Gesicht zu beleuchten. Er lachte nicht mehr ‒
sein Gesichtsausdruck war ernst und aufrichtig.
„Shizun, ich weiß, dass du gut zu mir bist. Ich weiß nicht,
ob du dich noch an all das erinnern wirst, wenn deine Seelen zurückgekehrt
sind, aber... Wie auch immer, ich möchte es trotzdem sagen. Von nun an bist du
für mich einer der wichtigsten Menschen auf der Welt. Dieser Schüler hat in der
Vergangenheit viele Dummheiten begangen, und obwohl ich eindeutig den besten
Shizun der Welt hatte, war mein Herz mit Groll und Hass erfüllt. Wenn ich jetzt
zurückblicke, bin ich nur von unendlichem Bedauern erfüllt."
Chu Wanning sah ihn an.
„Shizun ist der beste, beste Shizun, und dieser Schüler ist
der schlechteste, schlechteste Schüler."
Chu Wanning hatte sich zunächst unwohl gefühlt. Aber als er
Mo Ran zuhörte, wie er versuchte, sich mit seinem jämmerlichen Vokabular
auszudrücken, wie er sein Bestes gab und doch so unbeholfen war, versuchte Chu
Wanning zu widerstehen, aber am Ende konnte er sich ein leises Lächeln nicht
verkneifen. „Ich verstehe." Er nickte und wiederholte: „Shizun ist der
beste, beste Shizun, und dieser Schüler ist der schlechteste, schlechteste
Schüler. Wenigstens hast du endlich etwas Selbsterkenntnis."
Chu Wanning war kein gieriger Mensch. Er gab anderen
großzügig, verlangte aber nie viel für sich selbst. Vielleicht hatte er nicht
die Zuneigung von Mo Ran. Aber eine wichtige Person für Mo Ran zu sein, der
beste Shizun für ihn zu sein? Das war gar nicht so schlecht. Wenn es um Gefühle
ging, war er ohnehin immer arm gewesen ‒ verzweifelt arm, aber nicht bereit, um
mehr zu betteln. Und jetzt war da jemand, der ihm ein kleines Stück warmes Shaobing
zu essen gab. Er war furchtbar glücklich und genoss das Shaobing in winzigen
Bissen. Das war genug für ihn.
Dieser Dummkopf Mo Ran hingegen... Als er sah, dass er auch
dieses Stück Seele zum Lächeln gebracht hatte, war er ein wenig verblüfft, und
sein Herz schwoll an vor unerklärlicher Freude. „Shizun, du solltest mehr
lächeln. Du siehst viel hübscher aus, wenn du lächelst."
Chu Wanning hörte auf zu lächeln. Da war seine hartnäckige,
stolze Krankheit, die ihn dazu brachte, ‘hübsch aussehen‘ für ein kokettes Lob
zu halten, das an Wildkräuter wie Rong Jiu gerichtet war. Er wollte damit
nichts zu tun haben.
Aber Mo Ran mit seinem miserablen Urteilsvermögen versuchte
immer noch krampfhaft, seinen lieben Shizun zu loben. „Shizun, wusstest du das?
Wenn du lächelst ... äh ... wie soll ich es beschreiben ..." Er zerbrach
sich den Kopf, um einen Ausdruck zu finden, der die Schönheit des Anblicks, den
er gerade erlebt hatte, angemessen beschreiben konnte. Etwas, das mit Lächeln
zu tun hatte.
Der Glockenschwengel in der Unterwelt ertönte noch drei
weitere Male. Die Inspiration schlug zu. „Natürlich!", platzte es aus ihm
heraus. „Es ist ein Lächeln in der Unterwelt!"
Chu Wanning war sprachlos, und jetzt war er wirklich
wütend. Er tat so, als hätte er es nicht gehört, und zog abrupt seinen Ärmel
zur Seite, um die Seelenruf-Laterne aufzuheben. „Mo Weiyu", schimpfte er
streng, „all dieses Gequassel und du kannst den Zauber immer noch nicht
sprechen? Noch ein Wort des Unsinns und ich marschiere selbst zum Palast des
vierten Königs zurück. Das ist besser, als in das Reich der Sterblichen
zurückzukehren, um sich den ganzen Tag lang dein Gefasel anzuhören!"
Mo Ran war verblüfft. ‘Lächeln in der Unterwelt‘... hatte
er das falsch gesagt? Aber Chu Wanning hatte, doch ein besonders hübsches
Lächeln, und sie befanden sich in der Unterwelt. Es war nicht falsch...
So ein Streit in der Öffentlichkeit würde zu viel
Aufmerksamkeit erregen. Mo Ran hatte keine Ahnung, was er falsch gemacht hatte,
aber wenn Shizun ihm sagte, er solle die Klappe halten, würde er die Klappe
halten. Bei diesem Gedanken kratzte er sich am Kopf und zerrte Chu Wanning in
eine abgelegenere Ecke. Das stetige Singen in seinem Kopf war inzwischen lauter
geworden. Mo Ran wagte es, Huaizui zu fragen: „Meister, seid Ihr bald fertig?"
Auf der anderen Seite war es einen Moment lang still. Dann
ertönte das hohle Klopfen einer Holzglocke, und Huaizuis
Stimme, kristallklar, sprach wie neben seinem Ohr: „Fast."
Huaizuis Stimme war gerade wieder verklungen, als sich aus
Chu Wannings zweite Erdseele goldene Lichtflecken zu verbreiten begannen. Seine
Gestalt wurde immer schwächer, während sich das goldene Licht zerstreute, bis
es schließlich in Millionen von Glühwürmchen zerfiel, die wie die Sterne der
Milchstraße in die Seelenlampe strömten.
Mo Ran konnte Meister Huaizui singen hören, getragen über
die tosenden Wasser des Landes der Toten, unaufhörlich vorbei an dem ruhigen
und friedlichen Fluss des Vergessens. „Zeit, zurückzukehren... Zeit, zurückzukehren..."
Alle sterblichen Leiden wurden allmählich von den Seufzern
des buddhistischen Gesangs, der weit entfernt und doch nah war, in ein blasses
Weiß gewaschen. Mo Ran umarmte die Seelenruf-Laterne und spürte, wie sein
Körper immer leichter, immer leerer und leerer wurde.
Dong! Ein klarer Ton von der
Holzglocke. Er schnitt wie ein scharfes Messer und zerbrach brutal die
tranceartige Rezitation.
Mo Rans Augen flogen auf, und er kam ruckartig wieder zu
sich. Alles aus dem Geisterreich war verschwunden, als wäre er aus einem langen
Traum erwacht. Er fand sich auf einem Bambusfloß wieder, das an der
Naihe-Brücke des Sisheng-Gipfels vertäut war. Das Wasser unter den Bambusleisten
plätscherte und spritzte um ihn herum.
Der Himmel war blau wie eine Krabbenschale, gefärbt mit
einem Hauch von blassem Rot. Die Bambusblätter an den Ufern des großen Flusses
tanzten in der Brise, das tausendfache Flüstern ihrer Millionen von Blättern
lag zart in der Luft. Die Morgendämmerung brach gerade an.
Mo Ran blinzelte benommen. Als er feststellte, dass die
Seelenruf-Laterne, die er in den Armen gehalten hatte, verschwunden war, setzte
er sich in aller Eile aufrecht hin und erschrak zu Tode.
Shizun‒!"
„Schreit nicht", sagte eine Stimme gleichmäßig.
Mo Ran keuchte, als wäre er aus einem Albtraum erwacht.
Sein Gesicht war blass, als er den Kopf drehte und sah, wie Huaizui am Ufer
kniete und auf eine hölzerne Glocke klopfte, die auf einem Felsen stand, seine
klaren Augen offen. „Selbst wenn Ihr schreit, wird er Euch nicht hören."
Die Seelenruf-Laterne ruhte neben der Holzglocke und
strahlte mit ihrem Licht, glühend und prächtig. Die Kraft von Chu Wannings
Seele war unbeschreiblich schön.
Huaizui hob die Laterne auf und erhob sich. Er nickte Mo
Ran zu. „Das habt Ihr sehr gut gemacht, junger Mo-Shizhu."
Mo Ran kletterte ebenfalls auf seine Füße und sprang mit
Leichtigkeit vom Bambusfloß ans Ufer. Er zerrte ängstlich an Huaizui. „Meister,
sollen wir Shizuns sterblichen Körper in der Frosthimmel-Halle suchen gehen?
Lasst uns jetzt gehen! Wenn wir zu lange warten, fürchte ich, dass sich seine
Seelen wieder zerstreuen werden."
Huaizui konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. „Für
Seelen ist es nicht so einfach sich aufzulösen. Keine Sorge, dieser bescheidene
Mönch hat bereits Xue-Shizhu geschickt, um mit eurem geschätzten Sektenanführer
zu sprechen. Der sterbliche Körper von Chu Wanning sollte jetzt auf dem Weg zum
Roten-Lotus-Pavillon sein. Ich werde mich dort zurückziehen, während ich den
Ritus durchführe, um die Seelen eures Shizun zurück in seinen Körper zu
übertragen."
„Dann lasst uns gehen, schnell!" drängte Mo Ran. Als
er Huaizuis schwaches Lächeln sah, fügte er hastig hinzu: „Ich meine, lasst
Euch Zeit, Meister. Keine Eile, keine Eile." Aber absolut alles ihm
deutete darauf hin, dass er es nicht eilig hatte ‒ seine Stirn war sichtlich
gerunzelt, seine Füße schritten wie von selbst vorwärts, und fast wollte er die
Hand ausstrecken, um an Huaizuis Ärmel zu ziehen.
Huaizui schüttelte den Kopf. Er seufzte und sagte dann mit
einem Lächeln: „Der junge Shizhu sollte nicht so ungeduldig sein."
Mo Ran winkte mit den Händen. „Keine Eile, keine Eile,
langsam und gleichmäßig ist am besten."
„In der Tat, Stetigkeit ist wichtig. Wenn die Seelen den
Körper verlassen, können sie nicht sofort in das Fleisch zurückkehren. Das
würde gegen die Gesetze des Himmels verstoßen, und die Seelen würden sich auf
natürliche Weise auflösen. Gewiss wird dieser bescheidene Mönch es langsam angehen."
„Richtig, richtig, richtig. Gut, gut, gut, macht es
langsam." Mo Ran stimmte zu. Trotzdem konnte er sich nicht zurückhalten,
und nach einigem Zögern fragte er sehr vorsichtig: „Wie lange wird es dann
dauern, bis Shizun wieder ins Leben zurückkehrt?"
Huaizai antwortete ruhig: „Fünf Jahre."
„Verstehe, fünf Jahre sind in Ord ‒ fünf Jahre?!" Die
Farbe wich aus Mo Rans Gesicht. Er fühlte sich, als würde er ersticken.
„Mindestens fünf Jahre."
Mo Ran war absolut, vollkommen, total sprachlos.
Erklärungen:
…ein Lächeln in der Unterwelt: ‘In
der Unterwelt lächeln‘, 含笑九泉, ist
eine Redewendung, die bedeutet im Grab zu lächeln, d. h. ohne Bedauern zu
sterben. Mo Ran hat es wörtlich genommen.
Die Holzglocke ist auch als Holzfisch
bekannt. Ein buddhistisches hölzernes Perkussionsinstrument, das bei Ritualen
und zur Aufrechterhaltung des Rhythmus während des Gesangs verwendet wird.
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Charakterguide und mehr von Kapitel 89 bis Kapitel 119
Extrakapitel: Meatbun's Mini-Theater~ Der kleine Welpe und das große weiße Kätzchen
Wo fang ich an... es passiert so viel in diesem Kapitel und ich bin zu sehr begeistert *-*
AntwortenLöschenDie Szene, als Chu Wanning merkt, dass er die Energie von Jiangui benützen kann und ihre Verfolger damit loswerden konnte und den Barriere Siegel zerstören. Allein wie Chu Wanning beschrieben würde *-*
Diese Hürde wäre jetzt geschafft. Aber in Chu Wanning geht so vieles vor, als er die Wunde auf Mo Ran seiner Wange sieht. Und Mo Ran weiß nun langsam wie sein Shizun tickt und findet die richtigen Worte. Allein als sie die Wan Tans gegessen haben und Chu Wanning einfach nur in die Laterne flüchten will XD
Aber dann haben sie es geschafft. Jetzt heißt es, sich fünf Jahre zu gedulden. Für Mo Ran erstmal ein Schock, der es kaum erwarten konnte, dass es weiter geht. Aber was sind schon fünf Jahre? So gesehen ist das keine Zeit, wenn man jemanden für immer hätte verlieren können.
Ich frage mich nur wie lange dieser Befehl für Jiangui gilt? Also könnte Chu Wanning auch Jahre später noch von diesem Befehl und damit JIangui gebrauch machen?
LöschenMo Ran lernt halt sehr schnell, besonders wenn es um etwas geht das ihm sehr wichtig ist. Ich glaube in einem Test um Chu Wannings Launen und Emotionen zu entschlüsseln würde Mo Ran ihn mit Bravour bestehen. ^^
Chu Wannings Lieblingsmethode in Herzensangelegenheiten ist und bleibt die Flucht und bei Mo Ran ist es, wenn er sich einer Sache sicher ist die Konfrontation. Also alles in allem ein Trubel verursachendes Paar.
Zum Glück werden diese fünf Jahre nicht in ewig langen Kapiteln dargestellt, ich glaube es sind maximal fünf Kapitel bevor Chu Wanning wieder aufersteht
So ein schönes Kapitel, es weckt einfach Erwartungen, wie es mit den Beiden weitergeht, wenn die 5 Jahre vorbei sind, ich freu mich drauf
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