„Hier, Mo-Xiong, darf ich Euch vorstellen. Das ist Song Qiutong, eine kleine Shimei aus meiner Sekte."
Letztendlich zwang sich Mo Ran, sich an den Tisch zu setzen
und Nangong Sis enthusiastische Vorstellung zu ertragen. Song Qiutong, Song Qiutong...
Als ob Mo Ran es nötig gehabt hätte, dass Nangong Si ihm diese Frau vorstellte,
wo er doch die Anzahl der Leberflecke auf ihrem Rücken und die Lage der
Muttermale auf ihren Oberschenkeln genauestens kannte.
Aber mit großer Zurückhaltung straffte er seine Miene und
nickte. „Fräulein Song."
„Das ist der Schüler von Chu-Zongshi, Mo Weiyu vom
Sisheng-Gipfel. Du hast ihn wahrscheinlich in der Schmetterlingsstadt gesehen,
aber es waren viele Leute dort, du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an
ihn."
Song Qiutong lächelte sanft und verbeugte sich respektvoll.
„Qiutong freut sich, Mo-Xianjun kennenzulernen."
Mo Ran blieb sitzen. Er warf ihr einen langen,
unleserlichen Blick zu, bevor er schließlich ein forsches: „Gleichfalls",
sagte.
Um die Wahrheit zu sagen, fühlte Mo Ran eine unglaubliche
Abscheu gegenüber seiner Frau aus seinem früheren Leben. Diese Abscheu war
nicht erst nach seiner Wiedergeburt entstanden; sie war etwas, das ihm sogar im
letzten Leben tief in die Knochen gedrungen war. Die wenigen Male, die er ihr
in diesem Leben über den Weg gelaufen war, hatten sie sich nur beiläufig
getroffen, und so war es ihm gelungen, es zu tolerieren. Heute jedoch war es
anders.
Song Qiutong war eine zerbrechliche Frau, zart und
sanftmütig in jedem Blick und jeder Geste. Sie war wie eine unreife Frucht an
einem Zweig im Frühherbst, verborgen hinter üppigem Laub. Ihr gedämpfter Duft
war weniger wohlriechend als der der umliegenden Blüten, ihre zurückhaltende
Farbe nicht übermäßig auffällig, aber sehr sympathisch ‒ eine schlanke und doch
volle Gestalt, die vor unendlicher Sanftheit und zarter junger Liebe strotzte
und bereit war, beim kleinsten Biss ihren süßsäuerlichen Saft abzugeben. Erst
wenn man tief ins Innere biss, entdeckte man den toten, faulenden Wurm in
seinem Inneren, stechend und eiternd, die Frucht von Schimmel befallen.
Aber im Vergleich zu dem, was Mo Ran getan hatte, war es
nicht so, dass die Song Qiutong aus dem letzten Leben so abscheulich gehandelt
hätte. Alles, was sie getan hatte, war, die Rufeng-Sekte zu verraten, die
Sekte, die ihr das Leben gerettet hatte. Sie hatte lediglich Ye Wangxi
geopfert, um sich selbst zu retten, als Mo Ran die Stadt verwüstete. Alles, was
sie getan hatte, war, sich zu verpuppen, als Linyi sich in Berge von Leichen
und Meere von Blut um sie herum verwandelte, überglücklich, dass sie Mo Rans
Gunst gewonnen hatte, und begierig, ihrem neuen Meister zu dienen. Alles, was
sie getan hatte, war, Ye Wangxi nach dem Massaker zu verunglimpfen, um ihre
Aufrichtigkeit zu beweisen, und vor dem stummen, toten Körper von Ye Wangxi
mitleidig zu weinen ‒zu sagen, wie grausam er gewesen war, wie er sie täglich
gequält hatte, wie elend ihr Leben gewesen wäre, wenn Mo Ran nicht gekommen
wäre.
Und nun?
Mo Ran grübelte im Stillen. Was hatte sie sonst noch
getan?
Nangong Si war ein ungeduldiger Mensch. Ein paar Gerichte
ließen auf sich warten, also eilte er in die Küche und ließ den Mann und die
Frau aus einem früheren Leben allein im Zimmer zurück.
„Mo-Gongzi, einen Toast, wenn Ihr wollt." Lächelnd
füllte sie ihm dem Becher, wobei sie unter ihren wallenden Ärmeln einen Blick
auf ihren weißen Arm und den leuchtenden Zinnoberfleck an ihrem Handgelenk
freigab.
Plötzlich griff Mo Ran nach ihrem Handgelenk. Song Qiutong
stieß einen überraschten Laut aus und blickte ihn an, wobei in ihren zarten,
taufrischen Augen ein gewisser Schreck lag. „Mo-Gongzi, was macht Ihr..."
Mo Ran betrachtete ihr Gesicht eine Weile, dann fiel sein
Blick auf diese schönen, schlanken Hände. „Ihr habt schöne Hände", sagte
er leise, mit kühlen und distanzierten Zügen. „Weiß Fräulein Song, wie man
Schach spielt?"
„Ein bisschen."
„Hände, die so schön sind, müssen im Schachspiel sehr
geschickt sein", fuhr er kalt fort.
Das Geräusch von Nangong Sis Schritten kam von draußen, und
sein Wolf begann neben der Tür zu bellen.
„Verzeiht mir." Mo Ran ließ das schmale Handgelenk von
Song Qiutong los. Dann wischte er sich vorsichtig die Hand mit einem
Taschentuch ab.
Draußen warfen die Strahlen der untergehenden Sonne einen
leuchtenden Farbklecks auf den düsteren Himmel. Drinnen wurde ein üppiges
Festmahl für einen angenehmen Frühlingsabend aufgetischt. Mo Ran trug seinen
üblichen Gesichtsausdruck, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Song
Qiutong war ohne ersichtlichen Grund verunglimpft worden, aber sie war schon
immer gut darin gewesen, Demütigungen zu ertragen, und war sogar einmal während
des Essens aufgestanden, um Mo Rans Becher aufzufüllen. Er hatte keine Lust,
den Wein zu trinken, den sie einschenkte, und ließ den Becher für den Rest der
Mahlzeit unberührt.
„Mo-Xiong, der Spirituellen Bergwettbewerb steht bald an",
sagte Nangong Si. „Ihr seid der Schüler von Chu-Zongshi, also passt auf, dass Ihr
ihn nicht in Verlegenheit bringt. Seid Ihr bereit?"
„Ich werde nicht hingehen."
Nangong Si starrte ihn verblüfft an. „Ihr macht Witze,
nicht wahr?"
„Ich meine es ernst", sagte Mo Ran und lachte. „Mein
Cousin hat alles im Griff. Jede Sekte wird dabei sein. Ich habe keine Lust, auf
die ganzen Leute und den Trubel."
Nangong Si schien ihm immer noch nicht zu glauben, seine
stechenden braunen Augen verengten sich wie die eines Adlers. Mo Ran erwiderte
seinen Blick mit offenen Augen und ohne Vorbehalte.
Der Adler starrte den Felsen an, bis er sich vergewissert
hatte, dass es sich wirklich nur um einen Felsen handelte und nicht um ein
schlaues Kaninchen oder eine verschlagene Schlange. Er lehnte sich in seinem
Stuhl zurück, wirbelte seine Stäbchen zwischen den Fingern und grinste. „Interessant.
Dann sehe ich Euch also nicht beim Spirituellen Bergwettbewerb?"
„Nö."
Nangong Si legte eine Hand an seine Stirn und schnaubte
lachend. „Der Schüler von Chu-Zongshi muss wirklich etwas Besonderes sein, wenn
er einen so prestigeträchtigen Wettbewerb brüskiert."
Verdammte Scheiße,
dachte Mo Ran bei sich. Wie sollte er das erklären? Er konnte Nangong Si ja
nicht sagen, dass er in Wirklichkeit ein alter Geist in den Dreißigern war, der
ins Leben zurückgekehrt war. Ja genau, Taxian-Jun sollte mit all diesen Gören
spielen, die noch grün hinter den Ohren waren, während ein Haufen
Sektenanführer, die er in seinem früheren Leben entweder getötet oder
verprügelt hatte, auf diesen hohen Podesten im Kreis saßen und seine Leistungen
auf ihren kleinen Bewertungsbögen bewerteten.
Was für ein Witz.
Er räusperte sich. „Es ist nicht so, dass ich denke, es sei
unter meiner Würde oder so. Ich bin eher nicht gut in orthodoxen
Kultivierungstechniken; ich möchte nicht riskieren, Shizun mit meinen
oberflächlichen Kenntnissen in Verlegenheit zu bringen, wenn ich dort hingehe.
Jemand, der so geschickt ist wie Nangong-Gongzi, ist für den Wettbewerb viel
besser geeignet. Bitte verschont mich mit Euren Sticheleien."
Wenn ein argloser kleiner Vogel wie Xue Meng das gehört
hätte, wäre er wahrscheinlich überglücklich gewesen, als hätte Mo Ran ihn genau
an der richtigen Stelle gekratzt. Aber Nangong Si stammte aus der Rufeng-Sekte
mit ihrer komplizierten Innenpolitik und hatte seine Mutter, als er noch sehr
jung war, verloren. Sein Leben war bei Weitem nicht so einfach gewesen, deshalb
lächelte er nur ein wenig über Mo Rans Lob und ließ es sich nicht zu Kopf
steigen. Er nahm mehrere große Schlucke Wein, wobei seine Kehle wippte, bevor
er sich mit dem Ärmel den Mund abwischte und fragte: „Da Mo-Gongzi nicht
teilnehmen wird, wer wird wohl diese Runde gewinnen? Lasst uns die ungetrübte
Perspektive eines Zuschauers einnehmen."
Mo Ran sah ihn an und dachte sich, dass Nangong Si sicher
die richtige Person gefragt hatte. Wer könnte die Ergebnisse des Wettbewerbs
besser kennen als er? Abgesehen von diesem falschen Gouchen, der
höchstwahrscheinlich auch wiedergeboren war, war Mo Ran der Einzige auf der
Welt, der wusste, wie der Wettbewerb um den Spirituellen Berg ausgehen würde.
Der Gewinner war...
„Nangong Si.“
Der Perlenvorhang über dem Eingang des Privatzimmers wurde
zur Seite geschoben. Im schwankenden Licht erschien ein Gesicht, das halb im
Schatten verborgen war. Bevor einer der Männer im Raum reagieren konnte, war
Song Qiutong bereits wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, mit
panischem Gesichtsausdruck senkte sie den Kopf und sagte entschuldigend: „Y-Ye-Gongzi."
Der Neuankömmling stand groß und aufrecht da, gekleidet in
eine schwarze Robe, die mit gedämpftem Gold verziert war. Um seine Handgelenke
waren Armschienen befestigt, die ihm eine schlanke, geschmeidige Figur
verliehen. Drei Teile elegant und sieben Teile gut aussehend ‒ wer sonst als Ye
Wangxi könnte das sein?
„Ich habe nicht mit dir gesprochen." Ye Wangxi schob
den Perlenvorhang beiseite und betrat den Raum, ohne ihr auch nur einen Blick
zu schenken. Seine Augen, die die ganze Zeit auf eine einzige Person gerichtet
waren, waren kalt ‒ wenn auch mit einem subtilen Aufflackern einer anderen
Emotion. „Nangong Si, ich habe mit dir gesprochen. Sieh auf, wenn du mich hören
kannst."
Nangong Si blickte nicht auf. Stattdessen wandte er sich an
Song Qiutong: „Was tust du da? Setz dich hin."
„Das ist schon in Ordnung, Nangong-Gongzi. Mein Status ist
niedrig; ich sollte stehen."
Nangong Si geriet abrupt in Rage und seine Stimme erhob
sich. „Setz dich hin!" Song Qiutong zuckte zusammen und hielt sich zögernd
an der Tischkante fest. Um weiterzukommen, sagte Ye Wangxi mit kalter Stimme: „Tu,
was er sagt."
„Danke, Ye-Gongzi..."
Ye Wangxi wandte sich von Song Qiutong ab, als hätte er ihn
nicht gehört. „Nangong Si, wie lange willst du diese Farce noch hinauszögern?
Der Sektenanführer ist so wütend, dass er kurz davor ist, verrückt zu werden.
Steh auf und komm mit mir zurück."
„Das ist mir sehr recht. Ich werde ihn für einen Verrückten
halten, und er kann mich für tot halten! Selbst wenn ich zurückkäme, gäbe es
nichts zu diskutieren; ich werde keinen halben Fuß in die Rufeng-Sekte setzen,
solange der Befehl gilt." Nangong Si sprach klar und deutlich, mit einer
Pause zwischen jeder Silbe: „Ye-Gongzi, sieh zu, dass du hinauskommst."
„Du..." Ye Wangxis Hände ballten sich zu Fäusten, und
sein ganzer Körper zitterte leicht. Mo Ran beobachtete das Geschehen von der
Seite und erwartete fast, dass er den Tisch umstoßen, Nangong Si packen und
wegschleifen würde. Aber Ye Wangxi war durch und durch ein Gentleman; nach
einem Moment gelang es ihm, die Flammen seiner Wut zu ersticken.
Es herrschte eine lange Stille. „Nangong Si." Als Ye
Wangxi wieder sprach, war es eine heisere, erschöpfte Stimme, die im
Widerspruch zu seiner aufrechten Haltung stand. „Musst du wirklich so weit
gehen?"
„Und was ist, wenn ich es tue?"
Ye Wangxi schloss seine Augen und stieß einen fast
unmerklichen Seufzer aus, bevor er sie langsam wieder öffnete. Vor dem Tisch
stehend, drehte er sich schließlich um und warf einen Blick in Mo Rans
Richtung.
So wie die schmutzige Wäsche einer Familie nicht in der
Öffentlichkeit gewaschen werden sollte, so sollten auch die internen
Angelegenheiten einer Sekte am besten vor Außenstehenden geheim gehalten
werden. Mo Ran stand taktvoll auf und verbeugte sich vor Ye Wangxi. „Wisst Ihr,
mir ist gerade eingefallen, dass ich einen Termin beim Schneider habe, und ich
sollte den Ladenbesitzer wirklich nicht warten lassen. Ich sollte mich auf den
Weg machen."
Ye Wangxi nickte. „Vielen Dank, Mo-Gongzi."
„Keine Ursache, nehmt Euch sich Zeit zum Plaudern."
Mo Ran blickte Ye Wangxi an, als er an ihm vorbeiging. Der
junge Mann war wie eine robuste Kiefer und hielt sich mit der gleichen
Gelassenheit wie immer. Aber aus dieser Nähe konnte Mo Ran eine leichte Rötung
in seinen Augenwinkeln erkennen, als hätte er kurz vor seiner Ankunft geweint.
Er spürte plötzlich, dass Ye Wangxis stille Nachsicht, der von Chu Wanning
nicht unähnlich war.
Von einem Impuls getrieben, wandte er sich an Nangong Si. „Nangong-Gongzi,
ich weiß zwar nicht, was zwischen Euch und Ye-Gongzi vorgefallen ist, aber ich
weiß, dass er Euch immer aufrichtig gut behandelt hat. Wenn Ihr also bereit seid,
solltet Ihr euch offen mit ihm unterhalten und nicht zurückhalten, was Ihr
sagen wollt."
Nangong Si hatte wenig Verständnis für diesen Rat. Im Eifer
des Gefechts warf er die Etikette über Bord und antwortete kalt: „Kümmere dich
um deinen eigenen Kram."
...Dieser kurzlebige Dreckskerl!
Mo Ran ging. Er war noch nicht einmal die Treppe hinunter,
als er Nangong Sis wütendes Gebrüll aus dem Zimmer über ihm hörte, als der
wölfische junge Mann mit seinen scharfen Reißzähnen in Ye Wangxis Seele biss. „Ye
Wangxi! Welchen Zauber hast du bei meinem Vater angewandt, dass er mehr von dir
hält als von mir?! Mit dir zurückgehen? Wozu, verdammt?! In meinem ganzen
Leben, wann hatte ich jemals eine Wahl? Hm? Sag mir, Ye Wangxi, wofür... Wofür
haltet ihr mich eigentlich alle?"
Tische und Stühle stürzten um, Teller und Tassen fielen zu
Boden. Jedes Dienstmädchen im Korridor wurde durch den Lärm aufgeschreckt, und
einige andere Gäste spähten aus ihren Zimmern.
„Was ist denn hier los?"
„Aiyo, was für ein Temperament! Hoffentlich verwüsten sie
nicht das Haus."
Mo Ran presste die Lippen aufeinander und drehte den Kopf,
um wieder den Korridor hinunterzusehen. Er konnte die Stimme von Ye Wangxi
hören, brüchig und leblos wie ein welkes Blatt im Herbst.
„Nangong, wenn dich meine Anwesenheit zu Hause stört, dann
gehe ich, und du musst mich nie wieder sehen.“
Eine lange, stille Pause.
„Also komm zurück", fuhr Ye Wangxi fort. „Ich flehe
dich an."
Hätte er es nicht mit eigenen Ohren gehört, hätte Mo Ran
niemals geglaubt, dass jemand wie Ye Wangxi mit seinem kerzengeraden Rückgrat
jemals so schwache Worte wie ‘Ich flehe dich an‘ aussprechen würde. Er
hatte sich Ye Wangxi als eine unbewegliche, integre Person vorgestellt, als
eine unbesiegbare Kraft auf dem Schlachtfeld; es war für Mo Ran viel einfacher,
ihn sich blutend als weinend vorzustellen, ihn sich sterbend als kniend vorzustellen.
Aber an diesem Tag, in diesem Restaurant, vor Song Qiutong,
hatte Ye Wangxi zu jemandem gesagt: Ich flehe dich an.
Mo Ran schloss die Augen.
Wie viele Dinge würde ein Mensch im Laufe seines Lebens nie
erfahren, nie herausfinden? Keiner stand nackt vor den anderen. Jeder verbarg
seinen Körper unter der Kleidung und seine Gefühle hinter Worten und Gesichtsausdrücken.
Jeder hüllte sich in Schichten über Schichten, wobei der Kopf wie ein blühender
Zweig hervortrat und der Welt nur ein bemaltes Gesicht mit einem eindeutigen
Blick bot. Jeder spielte seine eigene Rolle - denn das Leben war nur ein
Theaterstück, und die Rollen waren klar und eindeutig: Sheng,
Dan, Jing und Chou. Wenn jemand schon immer sheng, die männliche Rolle,
gespielt hatte, wie konnte er dann einfach einen Kostümwechsel und eine neue
Schicht Farbe akzeptieren, um stattdessen dann, die weibliche Rolle, zu
spielen?
Aber mitten in der Nacht, wenn die Zimbeln verstummten und
die Lauten verklangen, wenn alle ihre dicke Schminkschicht abgewaschen hatten,
trug das Wasser die bunten, deutlich geschminkten Gesichter weg und enthüllte
die unbekannten Züge darunter. Es stellte sich heraus, dass die junge Dame auf
der Bühne in Wirklichkeit ein galanter junger Mann war und der Soldat ein Paar
zarter, verliebter Augen hatte.
Mo Ran kehrte in das kleine Zimmer zurück, in dem er sich
aufgehalten hatte, und war tief in Gedanken versunken. Er hatte zwei Leben
gelebt, aber wie viel verstand er wirklich von den Menschen? Und was war mit
ihm selbst? Chu Wanning allein hatte ausgereicht, um sein Herz zum Blühen zu
bringen und dann zum Sterben, nur um wieder es aufblühen zulassen.
Chu Wanning...
Seine Gedanken schweiften zurück zu der Zeit, als Nangong Si
ihn vorhin mit Chu Wanning verwechselt hatte. Er hatte es lustig gefunden, wie
konnte eine solche Verwechslung überhaupt passieren? Doch als er sich vor dem
Kupferspiegel für das Bett wusch, starrte er auf das Spiegelbild eines Mannes
in einer einfachen weißen Robe, der sein Haar zu einem Pferdeschwanz
hochgesteckt hatte.
Er hatte sich heute Morgen aus einer Laune heraus die Haare
zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Was die Robe anbelangt, so hatten seine
Kleider vor ein paar Tagen angefangen, sich eng anzufühlen, und so war er zum
Schneider gegangen, um sich ein neues Set auszusuchen, und die weiße Robe war
ihm aufgefallen, als er durch den Laden ging. Er hatte sie gekauft und
angezogen, ohne groß nachzudenken; er hatte nicht darüber nachgedacht, warum
die Robe seinen Augen so gut gefiel. Erst jetzt, als er in den Spiegel schaute,
wurde ihm klar, dass diese weiße Robe derjenigen, die Chu Wanning einst
getragen hatte, sehr ähnlich ist.
Der Spiegel war mattgelb, und sein früheres Leben war wie
ein Traum. Als Mo Ran die Person im Spiegel betrachtete, hatte er das Gefühl,
durch diese trübe Farbe hindurch ein Fragment von Chu Wanning zu sehen, eine
Halluzination von ihm, gedämpft wie in einer Vision.
Das Wasser, das er sich noch nicht aus dem Gesicht gewischt
hatte, rann an den allmählich reifenden Linien seines Kiefers hinunter und
tropfte von seinem Kinn. Vor dem Spiegel erkannte er vage, dass sein der
Wächter der Heiligen Nacht eine unbeholfene Nachahmung von Chu Wanning war und
dass er selbst ebenso unbeholfen versuchte, seinen Shizun zu imitieren. Mo Ran
hatte unbewusst nach Chu Wannings Schatten in der Welt gesucht; da er ihn nicht
finden konnte, war er stattdessen langsam zu ihm geworden.
Die Zeit schritt voran. Und ich, aus
Gewissensbissen, oder vielleicht aus etwas anderem‒
Ich konnte dich nicht sehen, aber ich dachte
immer daran, was du tun würdest, wenn du hier wärst; was dich zum Lächeln
bringen würde, was dich wütend machen würde. Ich habe an dich gedacht, bevor
ich etwas tat, und versucht, dich mit allem, was ich tat, stolz zu machen. Ich
dachte: ‘Wenn du hier wärst und ich dies tun würde, würdest du nicken? Würdest
du mich ein bisschen loben, sagen, dass ich es gut gemacht habe?‘
Tag für Tag habe ich darüber nachgedacht, bis
es mir in den Knochen steckte und zur zweiten Natur geworden war. Deshalb habe
ich im Laufe der Zeit nicht einmal gemerkt.
Dass ich im Laufe der Tage zu dem Du geworden
war, das ich in meinem Herzen trage.
Erklärungen:
Sheng, Dan, Jing und Chou: Sind Rollen in vielen Genres der chinesischen Oper: sheng (生), ist eine raffinierte oder gewöhnliche männliche Rolle; dan (旦), ist die allgemeine Kategorie für weibliche Rollen; jing (净), ist eine kraftvolle, übertriebene männliche Rolle, die oft mit besonders schweren, symbolischen Gesichtsbemalungen gespielt wird; und chou (丑), ist eine männliche Witzboldrolle.
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Ye Wangxi wird zu einer immer interessanteren Figur, bestimmt werden wir noch einiges von ihm erfahren. Und wie schön eigentlich, dass Mo Ran bemerkt, wie sehr er versucht, durch sein Verhalten Chu Wannig bei sich zu behalten
AntwortenLöschenEin ernstes und auch etwas bedrückendes Kapitel. Zwischen Ye Wangxi und Nangong Si steht so einiges, was geklärt werden muss. Da sind viel Schmerz, Wut und Trauer. Und dann ist da noch Song Qiutong... Mo Ran erträgt sie kaum und die Schatten des früheren Lebens bringen ihm die Erinnerungen, was sie alles getan hat.
AntwortenLöschenWährend Ye Wangxi und Nangong Si mit ihren Problemen und Sorgen zu kämpfen haben, realisiert Mo Ran in seinem Zimmer, das er Chu Wanning unbewusst imitiert hat. Ich weiß es wird noch etwas dauern, bis sie sich wieder sehen, aber bis dahin wird es für Mo Ran wohl doch eine schwere Zeit werden.