Kapitel 122 ~ Shizuns Spiegelbild

„Hier, Mo-Xiong, darf ich Euch vorstellen. Das ist Song Qiutong, eine kleine Shimei aus meiner Sekte."

Letztendlich zwang sich Mo Ran, sich an den Tisch zu setzen und Nangong Sis enthusiastische Vorstellung zu ertragen. Song Qiutong, Song Qiutong... Als ob Mo Ran es nötig gehabt hätte, dass Nangong Si ihm diese Frau vorstellte, wo er doch die Anzahl der Leberflecke auf ihrem Rücken und die Lage der Muttermale auf ihren Oberschenkeln genauestens kannte.

Aber mit großer Zurückhaltung straffte er seine Miene und nickte. „Fräulein Song."

„Das ist der Schüler von Chu-Zongshi, Mo Weiyu vom Sisheng-Gipfel. Du hast ihn wahrscheinlich in der Schmetterlingsstadt gesehen, aber es waren viele Leute dort, du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an ihn."

Song Qiutong lächelte sanft und verbeugte sich respektvoll. „Qiutong freut sich, Mo-Xianjun kennenzulernen."

Mo Ran blieb sitzen. Er warf ihr einen langen, unleserlichen Blick zu, bevor er schließlich ein forsches: „Gleichfalls", sagte.

Um die Wahrheit zu sagen, fühlte Mo Ran eine unglaubliche Abscheu gegenüber seiner Frau aus seinem früheren Leben. Diese Abscheu war nicht erst nach seiner Wiedergeburt entstanden; sie war etwas, das ihm sogar im letzten Leben tief in die Knochen gedrungen war. Die wenigen Male, die er ihr in diesem Leben über den Weg gelaufen war, hatten sie sich nur beiläufig getroffen, und so war es ihm gelungen, es zu tolerieren. Heute jedoch war es anders.

Song Qiutong war eine zerbrechliche Frau, zart und sanftmütig in jedem Blick und jeder Geste. Sie war wie eine unreife Frucht an einem Zweig im Frühherbst, verborgen hinter üppigem Laub. Ihr gedämpfter Duft war weniger wohlriechend als der der umliegenden Blüten, ihre zurückhaltende Farbe nicht übermäßig auffällig, aber sehr sympathisch ‒ eine schlanke und doch volle Gestalt, die vor unendlicher Sanftheit und zarter junger Liebe strotzte und bereit war, beim kleinsten Biss ihren süßsäuerlichen Saft abzugeben. Erst wenn man tief ins Innere biss, entdeckte man den toten, faulenden Wurm in seinem Inneren, stechend und eiternd, die Frucht von Schimmel befallen.

Aber im Vergleich zu dem, was Mo Ran getan hatte, war es nicht so, dass die Song Qiutong aus dem letzten Leben so abscheulich gehandelt hätte. Alles, was sie getan hatte, war, die Rufeng-Sekte zu verraten, die Sekte, die ihr das Leben gerettet hatte. Sie hatte lediglich Ye Wangxi geopfert, um sich selbst zu retten, als Mo Ran die Stadt verwüstete. Alles, was sie getan hatte, war, sich zu verpuppen, als Linyi sich in Berge von Leichen und Meere von Blut um sie herum verwandelte, überglücklich, dass sie Mo Rans Gunst gewonnen hatte, und begierig, ihrem neuen Meister zu dienen. Alles, was sie getan hatte, war, Ye Wangxi nach dem Massaker zu verunglimpfen, um ihre Aufrichtigkeit zu beweisen, und vor dem stummen, toten Körper von Ye Wangxi mitleidig zu weinen ‒zu sagen, wie grausam er gewesen war, wie er sie täglich gequält hatte, wie elend ihr Leben gewesen wäre, wenn Mo Ran nicht gekommen wäre.

Und nun?

Mo Ran grübelte im Stillen. Was hatte sie sonst noch getan?

Nangong Si war ein ungeduldiger Mensch. Ein paar Gerichte ließen auf sich warten, also eilte er in die Küche und ließ den Mann und die Frau aus einem früheren Leben allein im Zimmer zurück.

„Mo-Gongzi, einen Toast, wenn Ihr wollt." Lächelnd füllte sie ihm dem Becher, wobei sie unter ihren wallenden Ärmeln einen Blick auf ihren weißen Arm und den leuchtenden Zinnoberfleck an ihrem Handgelenk freigab.

Plötzlich griff Mo Ran nach ihrem Handgelenk. Song Qiutong stieß einen überraschten Laut aus und blickte ihn an, wobei in ihren zarten, taufrischen Augen ein gewisser Schreck lag. „Mo-Gongzi, was macht Ihr..."

Mo Ran betrachtete ihr Gesicht eine Weile, dann fiel sein Blick auf diese schönen, schlanken Hände. „Ihr habt schöne Hände", sagte er leise, mit kühlen und distanzierten Zügen. „Weiß Fräulein Song, wie man Schach spielt?"

„Ein bisschen."

„Hände, die so schön sind, müssen im Schachspiel sehr geschickt sein", fuhr er kalt fort.

Das Geräusch von Nangong Sis Schritten kam von draußen, und sein Wolf begann neben der Tür zu bellen.

„Verzeiht mir." Mo Ran ließ das schmale Handgelenk von Song Qiutong los. Dann wischte er sich vorsichtig die Hand mit einem Taschentuch ab.

Draußen warfen die Strahlen der untergehenden Sonne einen leuchtenden Farbklecks auf den düsteren Himmel. Drinnen wurde ein üppiges Festmahl für einen angenehmen Frühlingsabend aufgetischt. Mo Ran trug seinen üblichen Gesichtsausdruck, als ob nichts zwischen ihnen vorgefallen wäre. Song Qiutong war ohne ersichtlichen Grund verunglimpft worden, aber sie war schon immer gut darin gewesen, Demütigungen zu ertragen, und war sogar einmal während des Essens aufgestanden, um Mo Rans Becher aufzufüllen. Er hatte keine Lust, den Wein zu trinken, den sie einschenkte, und ließ den Becher für den Rest der Mahlzeit unberührt.

„Mo-Xiong, der Spirituellen Bergwettbewerb steht bald an", sagte Nangong Si. „Ihr seid der Schüler von Chu-Zongshi, also passt auf, dass Ihr ihn nicht in Verlegenheit bringt. Seid Ihr bereit?"

„Ich werde nicht hingehen."

Nangong Si starrte ihn verblüfft an. „Ihr macht Witze, nicht wahr?"

„Ich meine es ernst", sagte Mo Ran und lachte. „Mein Cousin hat alles im Griff. Jede Sekte wird dabei sein. Ich habe keine Lust, auf die ganzen Leute und den Trubel."

Nangong Si schien ihm immer noch nicht zu glauben, seine stechenden braunen Augen verengten sich wie die eines Adlers. Mo Ran erwiderte seinen Blick mit offenen Augen und ohne Vorbehalte.

Der Adler starrte den Felsen an, bis er sich vergewissert hatte, dass es sich wirklich nur um einen Felsen handelte und nicht um ein schlaues Kaninchen oder eine verschlagene Schlange. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, wirbelte seine Stäbchen zwischen den Fingern und grinste. „Interessant. Dann sehe ich Euch also nicht beim Spirituellen Bergwettbewerb?"

„Nö."

Nangong Si legte eine Hand an seine Stirn und schnaubte lachend. „Der Schüler von Chu-Zongshi muss wirklich etwas Besonderes sein, wenn er einen so prestigeträchtigen Wettbewerb brüskiert."

Verdammte Scheiße, dachte Mo Ran bei sich. Wie sollte er das erklären? Er konnte Nangong Si ja nicht sagen, dass er in Wirklichkeit ein alter Geist in den Dreißigern war, der ins Leben zurückgekehrt war. Ja genau, Taxian-Jun sollte mit all diesen Gören spielen, die noch grün hinter den Ohren waren, während ein Haufen Sektenanführer, die er in seinem früheren Leben entweder getötet oder verprügelt hatte, auf diesen hohen Podesten im Kreis saßen und seine Leistungen auf ihren kleinen Bewertungsbögen bewerteten.

Was für ein Witz.

Er räusperte sich. „Es ist nicht so, dass ich denke, es sei unter meiner Würde oder so. Ich bin eher nicht gut in orthodoxen Kultivierungstechniken; ich möchte nicht riskieren, Shizun mit meinen oberflächlichen Kenntnissen in Verlegenheit zu bringen, wenn ich dort hingehe. Jemand, der so geschickt ist wie Nangong-Gongzi, ist für den Wettbewerb viel besser geeignet. Bitte verschont mich mit Euren Sticheleien."

Wenn ein argloser kleiner Vogel wie Xue Meng das gehört hätte, wäre er wahrscheinlich überglücklich gewesen, als hätte Mo Ran ihn genau an der richtigen Stelle gekratzt. Aber Nangong Si stammte aus der Rufeng-Sekte mit ihrer komplizierten Innenpolitik und hatte seine Mutter, als er noch sehr jung war, verloren. Sein Leben war bei Weitem nicht so einfach gewesen, deshalb lächelte er nur ein wenig über Mo Rans Lob und ließ es sich nicht zu Kopf steigen. Er nahm mehrere große Schlucke Wein, wobei seine Kehle wippte, bevor er sich mit dem Ärmel den Mund abwischte und fragte: „Da Mo-Gongzi nicht teilnehmen wird, wer wird wohl diese Runde gewinnen? Lasst uns die ungetrübte Perspektive eines Zuschauers einnehmen."

Mo Ran sah ihn an und dachte sich, dass Nangong Si sicher die richtige Person gefragt hatte. Wer könnte die Ergebnisse des Wettbewerbs besser kennen als er? Abgesehen von diesem falschen Gouchen, der höchstwahrscheinlich auch wiedergeboren war, war Mo Ran der Einzige auf der Welt, der wusste, wie der Wettbewerb um den Spirituellen Berg ausgehen würde. Der Gewinner war...

„Nangong Si.“

Der Perlenvorhang über dem Eingang des Privatzimmers wurde zur Seite geschoben. Im schwankenden Licht erschien ein Gesicht, das halb im Schatten verborgen war. Bevor einer der Männer im Raum reagieren konnte, war Song Qiutong bereits wie von der Tarantel gestochen aufgesprungen, mit panischem Gesichtsausdruck senkte sie den Kopf und sagte entschuldigend: „Y-Ye-Gongzi."

Der Neuankömmling stand groß und aufrecht da, gekleidet in eine schwarze Robe, die mit gedämpftem Gold verziert war. Um seine Handgelenke waren Armschienen befestigt, die ihm eine schlanke, geschmeidige Figur verliehen. Drei Teile elegant und sieben Teile gut aussehend ‒ wer sonst als Ye Wangxi könnte das sein?

„Ich habe nicht mit dir gesprochen." Ye Wangxi schob den Perlenvorhang beiseite und betrat den Raum, ohne ihr auch nur einen Blick zu schenken. Seine Augen, die die ganze Zeit auf eine einzige Person gerichtet waren, waren kalt ‒ wenn auch mit einem subtilen Aufflackern einer anderen Emotion. „Nangong Si, ich habe mit dir gesprochen. Sieh auf, wenn du mich hören kannst."

Nangong Si blickte nicht auf. Stattdessen wandte er sich an Song Qiutong: „Was tust du da? Setz dich hin."

„Das ist schon in Ordnung, Nangong-Gongzi. Mein Status ist niedrig; ich sollte stehen."

Nangong Si geriet abrupt in Rage und seine Stimme erhob sich. „Setz dich hin!" Song Qiutong zuckte zusammen und hielt sich zögernd an der Tischkante fest. Um weiterzukommen, sagte Ye Wangxi mit kalter Stimme: „Tu, was er sagt."

„Danke, Ye-Gongzi..."

Ye Wangxi wandte sich von Song Qiutong ab, als hätte er ihn nicht gehört. „Nangong Si, wie lange willst du diese Farce noch hinauszögern? Der Sektenanführer ist so wütend, dass er kurz davor ist, verrückt zu werden. Steh auf und komm mit mir zurück."

„Das ist mir sehr recht. Ich werde ihn für einen Verrückten halten, und er kann mich für tot halten! Selbst wenn ich zurückkäme, gäbe es nichts zu diskutieren; ich werde keinen halben Fuß in die Rufeng-Sekte setzen, solange der Befehl gilt." Nangong Si sprach klar und deutlich, mit einer Pause zwischen jeder Silbe: „Ye-Gongzi, sieh zu, dass du hinauskommst."

„Du..." Ye Wangxis Hände ballten sich zu Fäusten, und sein ganzer Körper zitterte leicht. Mo Ran beobachtete das Geschehen von der Seite und erwartete fast, dass er den Tisch umstoßen, Nangong Si packen und wegschleifen würde. Aber Ye Wangxi war durch und durch ein Gentleman; nach einem Moment gelang es ihm, die Flammen seiner Wut zu ersticken.

Es herrschte eine lange Stille. „Nangong Si." Als Ye Wangxi wieder sprach, war es eine heisere, erschöpfte Stimme, die im Widerspruch zu seiner aufrechten Haltung stand. „Musst du wirklich so weit gehen?"

„Und was ist, wenn ich es tue?"

Ye Wangxi schloss seine Augen und stieß einen fast unmerklichen Seufzer aus, bevor er sie langsam wieder öffnete. Vor dem Tisch stehend, drehte er sich schließlich um und warf einen Blick in Mo Rans Richtung.

So wie die schmutzige Wäsche einer Familie nicht in der Öffentlichkeit gewaschen werden sollte, so sollten auch die internen Angelegenheiten einer Sekte am besten vor Außenstehenden geheim gehalten werden. Mo Ran stand taktvoll auf und verbeugte sich vor Ye Wangxi. „Wisst Ihr, mir ist gerade eingefallen, dass ich einen Termin beim Schneider habe, und ich sollte den Ladenbesitzer wirklich nicht warten lassen. Ich sollte mich auf den Weg machen."

Ye Wangxi nickte. „Vielen Dank, Mo-Gongzi."

„Keine Ursache, nehmt Euch sich Zeit zum Plaudern."

Mo Ran blickte Ye Wangxi an, als er an ihm vorbeiging. Der junge Mann war wie eine robuste Kiefer und hielt sich mit der gleichen Gelassenheit wie immer. Aber aus dieser Nähe konnte Mo Ran eine leichte Rötung in seinen Augenwinkeln erkennen, als hätte er kurz vor seiner Ankunft geweint. Er spürte plötzlich, dass Ye Wangxis stille Nachsicht, der von Chu Wanning nicht unähnlich war.

Von einem Impuls getrieben, wandte er sich an Nangong Si. „Nangong-Gongzi, ich weiß zwar nicht, was zwischen Euch und Ye-Gongzi vorgefallen ist, aber ich weiß, dass er Euch immer aufrichtig gut behandelt hat. Wenn Ihr also bereit seid, solltet Ihr euch offen mit ihm unterhalten und nicht zurückhalten, was Ihr sagen wollt."

Nangong Si hatte wenig Verständnis für diesen Rat. Im Eifer des Gefechts warf er die Etikette über Bord und antwortete kalt: „Kümmere dich um deinen eigenen Kram."

...Dieser kurzlebige Dreckskerl!

Mo Ran ging. Er war noch nicht einmal die Treppe hinunter, als er Nangong Sis wütendes Gebrüll aus dem Zimmer über ihm hörte, als der wölfische junge Mann mit seinen scharfen Reißzähnen in Ye Wangxis Seele biss. „Ye Wangxi! Welchen Zauber hast du bei meinem Vater angewandt, dass er mehr von dir hält als von mir?! Mit dir zurückgehen? Wozu, verdammt?! In meinem ganzen Leben, wann hatte ich jemals eine Wahl? Hm? Sag mir, Ye Wangxi, wofür... Wofür haltet ihr mich eigentlich alle?"

Tische und Stühle stürzten um, Teller und Tassen fielen zu Boden. Jedes Dienstmädchen im Korridor wurde durch den Lärm aufgeschreckt, und einige andere Gäste spähten aus ihren Zimmern.

„Was ist denn hier los?"

„Aiyo, was für ein Temperament! Hoffentlich verwüsten sie nicht das Haus."

Mo Ran presste die Lippen aufeinander und drehte den Kopf, um wieder den Korridor hinunterzusehen. Er konnte die Stimme von Ye Wangxi hören, brüchig und leblos wie ein welkes Blatt im Herbst.

„Nangong, wenn dich meine Anwesenheit zu Hause stört, dann gehe ich, und du musst mich nie wieder sehen.“

Eine lange, stille Pause.

„Also komm zurück", fuhr Ye Wangxi fort. „Ich flehe dich an."

Hätte er es nicht mit eigenen Ohren gehört, hätte Mo Ran niemals geglaubt, dass jemand wie Ye Wangxi mit seinem kerzengeraden Rückgrat jemals so schwache Worte wie ‘Ich flehe dich an‘ aussprechen würde. Er hatte sich Ye Wangxi als eine unbewegliche, integre Person vorgestellt, als eine unbesiegbare Kraft auf dem Schlachtfeld; es war für Mo Ran viel einfacher, ihn sich blutend als weinend vorzustellen, ihn sich sterbend als kniend vorzustellen.

Aber an diesem Tag, in diesem Restaurant, vor Song Qiutong, hatte Ye Wangxi zu jemandem gesagt: Ich flehe dich an.

Mo Ran schloss die Augen.

Wie viele Dinge würde ein Mensch im Laufe seines Lebens nie erfahren, nie herausfinden? Keiner stand nackt vor den anderen. Jeder verbarg seinen Körper unter der Kleidung und seine Gefühle hinter Worten und Gesichtsausdrücken. Jeder hüllte sich in Schichten über Schichten, wobei der Kopf wie ein blühender Zweig hervortrat und der Welt nur ein bemaltes Gesicht mit einem eindeutigen Blick bot. Jeder spielte seine eigene Rolle - denn das Leben war nur ein Theaterstück, und die Rollen waren klar und eindeutig: Sheng, Dan, Jing und Chou. Wenn jemand schon immer sheng, die männliche Rolle, gespielt hatte, wie konnte er dann einfach einen Kostümwechsel und eine neue Schicht Farbe akzeptieren, um stattdessen dann, die weibliche Rolle, zu spielen?

Aber mitten in der Nacht, wenn die Zimbeln verstummten und die Lauten verklangen, wenn alle ihre dicke Schminkschicht abgewaschen hatten, trug das Wasser die bunten, deutlich geschminkten Gesichter weg und enthüllte die unbekannten Züge darunter. Es stellte sich heraus, dass die junge Dame auf der Bühne in Wirklichkeit ein galanter junger Mann war und der Soldat ein Paar zarter, verliebter Augen hatte.

Mo Ran kehrte in das kleine Zimmer zurück, in dem er sich aufgehalten hatte, und war tief in Gedanken versunken. Er hatte zwei Leben gelebt, aber wie viel verstand er wirklich von den Menschen? Und was war mit ihm selbst? Chu Wanning allein hatte ausgereicht, um sein Herz zum Blühen zu bringen und dann zum Sterben, nur um wieder es aufblühen zulassen.

Chu Wanning...

Seine Gedanken schweiften zurück zu der Zeit, als Nangong Si ihn vorhin mit Chu Wanning verwechselt hatte. Er hatte es lustig gefunden, wie konnte eine solche Verwechslung überhaupt passieren? Doch als er sich vor dem Kupferspiegel für das Bett wusch, starrte er auf das Spiegelbild eines Mannes in einer einfachen weißen Robe, der sein Haar zu einem Pferdeschwanz hochgesteckt hatte.

Er hatte sich heute Morgen aus einer Laune heraus die Haare zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Was die Robe anbelangt, so hatten seine Kleider vor ein paar Tagen angefangen, sich eng anzufühlen, und so war er zum Schneider gegangen, um sich ein neues Set auszusuchen, und die weiße Robe war ihm aufgefallen, als er durch den Laden ging. Er hatte sie gekauft und angezogen, ohne groß nachzudenken; er hatte nicht darüber nachgedacht, warum die Robe seinen Augen so gut gefiel. Erst jetzt, als er in den Spiegel schaute, wurde ihm klar, dass diese weiße Robe derjenigen, die Chu Wanning einst getragen hatte, sehr ähnlich ist.

Der Spiegel war mattgelb, und sein früheres Leben war wie ein Traum. Als Mo Ran die Person im Spiegel betrachtete, hatte er das Gefühl, durch diese trübe Farbe hindurch ein Fragment von Chu Wanning zu sehen, eine Halluzination von ihm, gedämpft wie in einer Vision.

Das Wasser, das er sich noch nicht aus dem Gesicht gewischt hatte, rann an den allmählich reifenden Linien seines Kiefers hinunter und tropfte von seinem Kinn. Vor dem Spiegel erkannte er vage, dass sein der Wächter der Heiligen Nacht eine unbeholfene Nachahmung von Chu Wanning war und dass er selbst ebenso unbeholfen versuchte, seinen Shizun zu imitieren. Mo Ran hatte unbewusst nach Chu Wannings Schatten in der Welt gesucht; da er ihn nicht finden konnte, war er stattdessen langsam zu ihm geworden.

Die Zeit schritt voran. Und ich, aus Gewissensbissen, oder vielleicht aus etwas anderem‒

Ich konnte dich nicht sehen, aber ich dachte immer daran, was du tun würdest, wenn du hier wärst; was dich zum Lächeln bringen würde, was dich wütend machen würde. Ich habe an dich gedacht, bevor ich etwas tat, und versucht, dich mit allem, was ich tat, stolz zu machen. Ich dachte: ‘Wenn du hier wärst und ich dies tun würde, würdest du nicken? Würdest du mich ein bisschen loben, sagen, dass ich es gut gemacht habe?‘

Tag für Tag habe ich darüber nachgedacht, bis es mir in den Knochen steckte und zur zweiten Natur geworden war. Deshalb habe ich im Laufe der Zeit nicht einmal gemerkt.

Dass ich im Laufe der Tage zu dem Du geworden war, das ich in meinem Herzen trage.

 

 

 

Erklärungen:

Sheng, Dan, Jing und Chou: Sind Rollen in vielen Genres der chinesischen Oper: sheng (), ist eine raffinierte oder gewöhnliche männliche Rolle; dan (), ist die allgemeine Kategorie für weibliche Rollen; jing (), ist eine kraftvolle, übertriebene männliche Rolle, die oft mit besonders schweren, symbolischen Gesichtsbemalungen gespielt wird; und chou (), ist eine männliche Witzboldrolle.




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2 Kommentare:

  1. Ye Wangxi wird zu einer immer interessanteren Figur, bestimmt werden wir noch einiges von ihm erfahren. Und wie schön eigentlich, dass Mo Ran bemerkt, wie sehr er versucht, durch sein Verhalten Chu Wannig bei sich zu behalten

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  2. Ein ernstes und auch etwas bedrückendes Kapitel. Zwischen Ye Wangxi und Nangong Si steht so einiges, was geklärt werden muss. Da sind viel Schmerz, Wut und Trauer. Und dann ist da noch Song Qiutong... Mo Ran erträgt sie kaum und die Schatten des früheren Lebens bringen ihm die Erinnerungen, was sie alles getan hat.
    Während Ye Wangxi und Nangong Si mit ihren Problemen und Sorgen zu kämpfen haben, realisiert Mo Ran in seinem Zimmer, das er Chu Wanning unbewusst imitiert hat. Ich weiß es wird noch etwas dauern, bis sie sich wieder sehen, aber bis dahin wird es für Mo Ran wohl doch eine schwere Zeit werden.

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