Kapitel 129 ~ Shizun, gefällt dir, was du siehst?

In diesem Bruchteil einer Sekunde schwamm das Chaos in Chu Wannings Kopf wie die aufgewühlte See, der peitschende Regen, das Dröhnen des Donners, das Aufleuchten der Blitze, die Verdunkelung der Wolken.

Sie abnehmen oder anbehalten ‒ das war die entscheidende Frage. Sie anzubehalten erschien ihm unangebracht, jetzt, da er wusste, dass er die falsche Kleidung angezogen hatte. Und er konnte nicht so tun, als hätte er nicht gehört, was Mo Ran gesagt hatte.

Sie ausziehen...?

Er konnte unmöglich die Peinlichkeit ertragen, die Kleidung, die er schließlich angezogen hatte, Stück für Stück auszuziehen, wenn Mo Ran dabei war.

Ein paar Augenblicke herrschte betretenes Schweigen. Schließlich sagte Mo Ran: „Aber ich habe diese Kleider gründlich gewaschen. Sie sind sehr sauber, wenn es Shizun also nichts ausmacht, dann...kannst du sie gerne anziehen."

„Mn."

Mo Ran atmete erleichtert aus. Er war schon immer ein wenig schwer von Begriff gewesen. Erst nachdem er gesprochen hatte, war ihm klar geworden, dass die Enthüllung der Wahrheit, während Chu Wanning schon fast angezogen war, nichts anderes bedeuten würde, als dass er seinen Shizun zwingen würde, sich vor ihm auszuziehen. Der bloße Funke dieser Vorstellung versengte ihn, und sein Gesicht wurde noch röter. Zum Glück war er in den letzten Jahren viel herumgekommen und hatte nicht mehr eine so weiße Haut wie früher. Die Röte war nicht mehr so auffällig auf seinen weizengoldenen Wangen. Aber sein Herzschlag fühlte sich viel zu laut an, und sein Gewissen plagte ihn vor Angst und Schuldgefühlen, dass Chu Wanning ihn hören würde. Eilig senkte er den Kopf und machte sich daran, Chu Wannings Robe aufzuheben, um sich selbst zu bekleiden.

Nachdem beide angezogen waren, sahen sie sich wieder an, nur um in eine andere Art von peinlichem Schweigen zu verfallen.

Die Kleider passten nicht.

Chu Wannings Roben waren eindeutig zu klein für Mo Ran. Sie reichten vorne nicht einmal bis zur Hüfte und ließen eine große Fläche der festen, honigfarbenen Brust frei. Und zu kurz waren sie auch: Die Art und Weise, wie die Hälfte seiner Beine unbedeckt blieb, als wäre er komplett abgebrannt, war zugegebenermaßen ein trauriger Anblick.

Chu Wanning erging es nicht besser: Mo Rans Robe hing über ihm, bedeckte ihn vom Hals bis zu den Zehen und sammelte sich auf dem Boden, um hinter ihm wie ein weißer Nebelschwaden zu verlaufen. Es sah gut aus, aber es machte auch deutlich, wie viel kleiner er jetzt war als Mo Ran. Chu Wanning fühlte sich ziemlich vor den Kopf gestoßen. Mit mürrischem Gesicht sagte er: „Ich gehe", was soviel heißt wie: Ich gehe.

Aber Mo Ran verstand das falsch und dachte, er lade ihn ein, mit ihm zu gehen. Also nickte er, nahm den hölzernen Waschzuber seines Shizun und seine Wechselkleidung und folgte ihm ernsthaft.

Die beiden erreichten den Eingang des Bades und zogen den Vorhang auf. Draußen, abseits der heißen Quellen, war es deutlich kühler, und Chu Wanning konnte nicht anders als leicht zu zitterh. Als Mo Ran das bemerkte, fragte er: „Ist dir kalt?"

„Nein."

Aber wie konnte Mo Ran nicht wissen, dass dies nur sein Stolz war? Mit einem Lächeln sagte er: „Nun, mir ist ein wenig kalt", und hob eine Hand in einer geübten Geste. Mit einem Schwung sprang ein scharlachrotes Leuchten aus seiner Handfläche und bildete eine kälteabweisende Barriere um die beiden. Die Barriere war wunderschön, von Licht durchflutet und mit winzigen Blütenspuren an der Spitze.

Mit unverwandtem Gesicht blickte Chu Wanning zu ihm auf. „Nicht schlecht. Du hast dich verbessert."

„Ich bin noch lange nicht so gut wie Shizun."

„Du bist nicht weit davon entfernt. Meine Kältebarrieren sind wahrscheinlich nicht besser als diese." Chu Wanning betrachtete die Barriere und bemerkte die zarten Blumen: „Die Pfirsichblüten sind ein netter Zusatz."

„Das sind Hai-Tang-Blüten."

Chu Wannings Herz bebte und ließ Wellen in den Tiefen seiner Augen brechen.

Mo Ran fuhr fort: „Fünf Blütenblätter."

Einen Moment lang war Chu Wanning fassungslos, dann konnte er nicht verhindern, dass ihm ein Lachen entwich, während er instinktiv versuchte, das Zittern in seinen Augen mit gespielter Lässigkeit zu verbergen. In einem leicht spöttischen Tonfall sagte er: „Jetzt machen wir es nach, was?"

Doch zu seiner Überraschung sah Mo Ran ihn nur arglos an und nickte als Antwort. „Es ist eine schlechte Imitation, fürchte ich."

Chu Wanning war ziemlich sprachlos.

Sie gingen eine Weile schweigend nebeneinander her, bevor Chu Wanning seine Schritte beschleunigte; er wollte nicht so direkt neben ihm stehen. Hinter ihm fragte Mo Ran plötzlich: „Shizun, bist du... sauer, dass ich es nicht rechtzeitig zum Bankett geschafft habe?"

„Nein."

„Wirklich?"

„Warum sollte ich lügen?"

„Warum läufst du dann so schnell?"

Natürlich würde Chu Wanning nicht sagen: ‘Weil du zu groß bist.‘ Er schwieg einen Moment, dann schaute er zum Himmel und log: „Weil es so aussieht, als würde es regnen."

Als ob er es verhext hätte, fielen in diesem Moment Regentropfen vom bedeckten Himmel und prasselten zu einem Vorhang zusammen.

Mo Ran lächelte. Sein Lächeln war noch genauso schön wie vor fünf Jahren, aber jetzt noch strahlender, weil es aufrichtiger war als zuvor. Chu Wanning starrte ihn an. „Was soll dieses dumme Grinsen?"

„Nichts." Mo Rans Grübchen waren tief und süß. Der junge Mann, groß und stämmig, erwiderte seinen Blick mit gesenkten Wimpern und einem fügsamen, gehorsamen Auftreten ohne jede Arroganz. Er war sogar ein wenig schüchtern, als er sagte: „Ich freue mich einfach, Shizun nach so langer Zeit wiederzusehen."

Schweigend starrte Chu Wanning ihn an, auf die Grübchen, die seine Wangen zierten. Er hatte einmal gedacht, dass diese beiden süßen Grübchen nur Shi Mingjing gehören würden, aber es stellte sich heraus, dass dem nicht so war ‒ um selbst ein Stück dieser Süße zu bekommen, musste er nur sein Leben aufgeben.

„Dummkopf", tadelte Chu Wanning ihn.

Mo Ran ließ seine langen, weichen Wimpern sinken und grinste breit, genau wie ein Dummkopf. Aber als er sich in diesem Moment ein wenig hinreißen ließ, trat er versehentlich auf Chu Wannings Saum, den er die ganze Zeit über so sorgfältig vermieden hatte.

Chu Wanning schaute mit strenger Miene auf den Boden und dann zu Mo Ran, sagte aber nichts.

Mo Ran war sehr geradeheraus. „Die Kleider sind Shizun ein wenig zu groß.

Er wusste genau, was er nicht sagen sollte.

Mo Ran begleitete Chu Wanning den ganzen Weg zurück zum Roten-Lotus-Pavillon. Um ehrlich zu sein, fand Chu Wanning das eine ziemlich seltsame Erfahrung. Es war immer seine Art, allein zu kommen und zu gehen; er hatte selten die Gelegenheit, einen Schirm zu teilen, sei er aus Ölpapier oder aus Magie. Auf halbem Weg blieb er also stehen und sagte: „Ich kann es selbst tun, es ist nur ein Hindernis."

Mo Ran war ein wenig verblüfft. „War es nicht bis jetzt in Ordnung? Also warum..."

„Was für ein Meister lässt seinen Schüler den Schirm halten?"

Einen Moment lang herrschte Schweigen. „Aber Shizun hat so viel für mich getan", sagte Mo Ran mit leiser, ruhiger Stimme. „In den letzten fünf Jahren habe ich jeden Tag damit verbracht, nur ein kleines bisschen besser zu werden. Shizun ist so fähig und kann alles alleine machen, also wollte ich nur ein bisschen mehr können als Shizun. Auf diese Weise könnte ich Shizun von Nutzen sein und ihm etwas zurückgeben. Aber selbst nach all dem Training und Studium fühle ich mich diesem Ziel nicht näher gekommen. Ich habe Angst, dass ich Shizuns Freundlichkeit nie zurückzahlen kann. Deshalb..."

Er senkte den Kopf, die Hand unbewusst zu einer Faust geballt an seiner Seite. Das Regenwasser sammelte sich in Rinnsalen auf dem Boden, die Tröpfchen plätscherten und kräuselten sich wie blühende Blumen. „Deshalb bitte ich darum, dass Shizun mir von nun an die kleinen Dinge überlässt ‒ wie das Halten des Regenschirms."

Chu Wanning sagte nichts und beobachtete ihn still.

„Ich möchte den Schirm über Shizun halten, so lange ich lebe.

Während er schweigend zuhörte, spürte Chu Wanning ein Brennen in seiner Brust. Es war so herzerwärmend, so etwas zu hören, und doch war ihm zum Weinen zumute. Er war jemand, der so viel Leid erfahren und alles überstanden hatte; wie ein Reisender, der zu lange gewandert war und endlich eine Unterkunft gefunden hatte, in der er sich ausruhen konnte. Selbst seine Knochen fühlten sich an, als würden sie auseinanderfallen, als er zusammenbrach.

Ein ganzes Leben lang.

Mo Ran war dieses Jahr zweiundzwanzig Jahre alt geworden. Das Sprichwort besagt, dass die Zeit anders vergeht, wenn man über zwanzig ist. Bevor man zwanzig war, kamen einem drei oder fünf Jahre so lang vor, dass man sie als ein ganzes Leben bezeichnen konnte. Aber danach fühlte sich die Zeit wie ein rasender Strom an, in dem alles in Windeseile vorbeirauschte und es kein Zurück mehr gab. Mo Ran sagte, er würde aus der rasenden Strömung heraustreten und einen Schirm über ihn halten.

Chu Wanning hatte so selten Freundlichkeit erfahren, dass sich diese Flut von Zärtlichkeit stattdessen wie Schmerz anfühlte. Er betrachtete Mo Ran, betrachtete die Person, die mit gesenktem Kopf dastand, und sagte: „Mo Ran, schau mich an."

Mo Ran hob den Kopf.

„Sag das noch einmal."

Mo Ran starrte ihn an. Sein Gesicht war Chu Wanning immer noch etwas fremd; es war anders als das in seinen Erinnerungen und anders als das in den absurden Träumen, die er einst gehabt hatte. Dieses Gesicht war sanft, gelassen und unerschütterlich, es trug sowohl die Wärme des Feuers als auch die Festigkeit des Eisens in sich, als es Chu Wannings Blick begegnete, ohne zu zögern oder auszuweichen.

Als Chu Wanning Mo Ran vor fünf Jahren zum letzten Mal gesehen hatte, war er noch ein kleiner Junge gewesen. In einem Wimpernschlag war er zu dem stattlichen, selbstbewussten Mann geworden, der vor ihm stand. Ein Mann, der auf ein Knie sank, zu ihm aufblickte und sagte: „Shizun, ich möchte einen Schirm über dich halten, solange ich lebe."

Chu Wanning starrte ihn fassungslos an: auf die dunklen Augenbrauen und das wohlgeformte Kinn, auf die hellen Augen und die gerade Nase. Er war zu einer imposanten Kiefer herangewachsen und hatte Chu Wannings Größe erreicht, bevor er ihn überholte. Eines Tages wachte der Baum, der Chu Wanning war und so lange in Wind und Regen gestanden hatte, auf, blinzelte und stellte fest, dass der Regen aufgehört hatte, die Wolken sich verzogen hatten und im sanften Licht der Sonne ein anderer Baum neben ihm stand, der noch größer und stabiler war als er. Wenn der Wind durch seine Blätter rauschte, schimmerte das Sonnenlicht wie Goldstaub durch.

Dieser Baum sagte, er wolle ein Leben lang an seiner Seite stehen, bis sie beide umfallen würden, die Äste kahl und verdorrt. Aber mit jeder Jahreszeit, die bis dahin verging, würde er nie wieder allein sein.

Während er so vor sich hin starrte, wurde Chu Wanning klar, dass Mo Ran nicht mehr der blutverschmierte, bewusstlose Schüler war, den er vor fünf Jahren aus der Schmetterlingsstadt zurückgeschleppt hatte. Als er dort im Regen stand, unter den Hai-Tang-Blüten, die auf der Barriere tanzten, schien er Mo Ran zum ersten Mal zu sehen, ihn gründlich und sorgfältig zu studieren, diesen Mann zu betrachten, der ihm ein ganzes Leben versprochen hatte.

Chu Wannings Herz begann zu rasen. Plötzlich fiel ihm auf, wie verführerisch Mo Ran jetzt aussah, von der Linie seiner Nase bis zur Form seiner Lippen, von der Wölbung seines Kiefers bis zur Wölbung seines Halses.

Was er bisher für Mo Ran empfunden hatte, war nur Liebe, die man verbergen konnte. Aber in diesem Moment fühlte sich dieser Mann für ihn wie ein Feuer an, ein Feuer, das ihn nur zu leicht in Brand setzen konnte, als wäre er nur ein Anzündholz, das Flammen in die Höhe schießen ließ, um den Himmel zu versengen. Das Magma, das die ganze Zeit geschlummert hatte, erwachte und reckte seine Glieder in den Abgrund tief in seinem Inneren, bereit, jederzeit in einer heftigen Eruption auszubrechen. Es drohte, all die Vorbehalte, die Würde und die Zurückhaltung, auf die er immer stolz gewesen war, zu durchbrechen...

Es drohte, alles zu Asche zu verbrennen, bis nichts mehr übrig war.




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9 Kommentare:

  1. nein kein stopp 😭😭😭

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    1. Leider doch, aber du hast Glück nächste Woche gibt wieder zwei Kapitel von Husky.

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  2. Ihnen bleibt aber auch nichts erspart XDDD
    Aber die Szene mit dem Regenschirm und wie Mo Ran sagte, er möchte den Schirm über Shizun halten, solange er lebt. Q_______Q *beide mit Herzen überschütt*
    Und die Reaktion von Chu Wanning am Schluss. Da hat es wen gerade sehr erwischt *hust* Das wird jetzt noch sehr interessant werden XDD
    Vielen dank, das wir heute zwei weitere Kapitel zu lesen bekommen haben^^

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    1. Mo Ran sagt aber auch ultraromantische Sachen, nur ist sein Shizun noch nicht bereit für solche Sachen. Ich meine er muss ja auch erst mal damit klar kommen, dass Mo Ran als Kultivierungspartner doch noch infrage kommen könnte.
      Mo Rans Taktik sanft, aber hartnäckig sein, wird Shizun wohl am Ende brechen, ohne das er sich wehren kann.
      Ach, dass es heute zwei Kapitel von Husky gab, hat etwas mit meinem System bei den Adventsextras zu Tun, sonst nichts weiter. Also hattet ihr alle sehr viel Glück.

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  3. Vielen Dank für diese beiden schönen Kapitel, diese Interaktion zwischen Chu Wanning und Mo Ran ist so schön, das verspricht uns noch viel Spaß und Herzschmerz in den nächsten Kapiteln, ich kann es kaum erwarten

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    1. Die beiden werden recht bald viel, sehr viel Zeit miteinander verbringen, freu dich darauf.

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  4. Omg wie wo was warum hört es hier auf 🥺🥺 warum sind die beiden nur so herrlich süss. Ich bin ja echt versucht im englischen weiter zu lesen. Und warum hoffe ich insgeheim das die beiden übereinander herfallen 🤣🤣🤣

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    1. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei ... Aber wenn man jetzt nach jedem neuen Husky-Kapitel eine Woche warten muss und dies als Ende bezeichnet, wie viele Ende hat dann Husky wohl auf diesem Blog.
      Ohh, wenn dein englisch so gut ist, dass du an dieser Stelle weiterlesen kannst, sage ich nur zu. Hoffentlich bleibst du dann aber meiner Übersetzung dann noch treu. ;)

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    2. So treu das ich die letzten Kapitel nochmal lesen mußte. Einfach so schön.

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