Nun, das war peinlich.
Alle anderen, von Frau Wang bis Xue Meng und sogar Xue
Zhengyong, hatten sich höflich zur Begrüßung erhoben, als Nangong Liu
hereinkam. Chu Wanning hatte sich nicht darum gekümmert, sondern war am Fenster
stehen geblieben.
Aber für Mo Ran war die Rufeng-Sekte nicht mehr als eine
wertlose Müllsekte, die er in seinem früheren Leben mit Füßen getreten hatte.
Er wusste, dass der Ort hinter seinem äußeren Glanz ein ungeordnetes
Durcheinander war, das kaum Respekt verdiente. Dennoch hatte er nicht die
Absicht, Nangong Liu in Schwierigkeiten zu bringen ‒ es war ihm einfach nie in
den Sinn gekommen, aufzustehen.
Es war eine recht seltsame Szene. Nangong Liu, der
Gastgeber und Älterer, stand mit einem freundlichen Lächeln da, das Gesicht
überhaupt nicht verärgert, sondern voll warmer Vertrautheit. Mo Ran, der Gast
und Jüngerer, lehnte sich mit gekreuzten Beinen und einer heißen Tasse Tee in
der Hand träge im Taishi-Stuhl zurück.
Xue Zhengyong hatte nicht darauf geachtet, was Mo Ran tat,
aber als er sich jetzt umdrehte, konnte er sich seiner Beschämung nicht
erwehren. Dieser Junge hatte wirklich keine Manieren!
„Und Ihr musst der berühmte Mo-Zongshi sein, von dem alle
in den letzten Jahren gesprochen haben?"
Mo Ran setzte den Deckel seiner Teetasse wieder auf, hob
den Blick und antwortete: „Das bin ich."
„Wahrlich ein galanter ju..."
„Nangong-Xianjun." Mo Ran unterbrach ihn mit einem
Lächeln. „Ihr habt bereits meinen Cousin mit 'galanter junger Mann'
angesprochen, also vielleicht nicht auch noch mich?"
Er sprach höflich, in leichtem Ton und mit einem warmen
Lächeln, aber die Worte waren alles andere als das. Er machte sich auch nicht
die Mühe, aufzustehen. Im Gegenteil, nachdem er diese Worte beiläufig gesagt
hatte, hob er erneut seine Teetasse an, wobei er den Deckel aus Seladon am Rand abstreifte, und blies in den sanft
aufsteigenden Dampf. Er senkte seinen Blick und seine langen, dichten Wimpern
und nippte gemächlich an seinem Tee. Er war jung, gut aussehend, hochgewachsen
und selbstsicher. Seine Haltung und sein Auftreten vermittelten den Eindruck,
dass er der wahre Meister der Rufeng-Sekte war, derjenige, der an der Spitze der
gesamten Kultivierungswelt stand, während Nangong Liu nicht mehr als ein Hund
war, der auf seinem Platz hockte.
„Ha ha, Mo-Zongshi hat ganz recht. Diese bescheidene Person
konnte sich wegen meiner eigenen Ungeschicklichkeit einfach nicht besser
ausdrücken, also..."
„Das kann nicht richtig sein." Mo Ran stellte seine
Teetasse ab und sah mit einem schwachen Lächeln auf. „Nangong-Xianjun hat, seit
er diesen Raum betreten hat, unendlich viel Lob zu verteilen. Wenn Ihr nicht
gerade ein geschmeidiger Redner seid, wer ist es dann?"
„Aiya, Mo-Zongshi schmeichelt mir zu sehr."
„Wer sagt denn, dass ich Euch schmeichle?" Mo Ran
lächelte, die hellen Augen auf ihn gerichtet. „Ein Schmeichler zu sein, ist
nicht immer eine gute Sache."
Xue Zhengyong konnte es schließlich nicht mehr ertragen. Er
senkte seine Stimme und schimpfte: „Ran-er-!"
Es war verständlich, dass Chu Wanning Nangong Liu gegenüber
feindselig war; immerhin gab es eine Vorgeschichte zwischen ihnen, und Chu
Wanning hatte den gesellschaftlichen Status, mit ihm zu konkurrieren. Mo Ran, andererseits...
Mo Ran beachtete Xue Zhengyong nicht und sprach stattdessen
zu Nangong Liu. „Nangong-Xianjun sollte sich die schmeichelnden Worte für die
anderen Jüngeren sparen. Ich bin ein ungehobelter Mensch, ich werde es nicht
verstehen und ich will es nicht hören."
Xue Zhengyong war völlig sprachlos.
Obwohl Mo Ran wusste, dass sein Onkel über sein Verhalten
verärgert sein würde, bedauerte er es nicht im Geringsten. Die Welt war voll
von so vielen abscheulichen Dingen. Chu Wanning mit seinem wilden Temperament
setzte sich immer wieder zur Wehr ‒ man denke nur an den Exorzismus von Luo
Xianxian, als er den Hausherr Chen, den zahlenden Kunden, verprügelte, weil er
ein hilfloses Mädchen misshandelt hatte, ohne Rücksicht auf den Schaden für
seinen Ruf. Er hatte nichts Falsches getan, aber sein Name wurde in den Mündern
anderer immer wieder verleumdet. Diese Leute nannten ihn ‘kaltblütig‘, ‘eigensinnig‘
und ‘gefühllos‘.
Mo Ran war entschlossen, andere davon abzuhalten, seinen
Shizun jemals wieder als ‘unhöflich‘ zu bezeichnen. Also schwor er sich, noch unhöflicher
zu handeln, als Chu Wanning es tat, noch übertriebener. Es war ein dummer Plan,
aber es war der einzige, den er sich vorstellen konnte, um seinen Shizun zu
schützen. Während die anderen drei im Raum Nangong Lius Schmeicheleien und
Gefallen aus Höflichkeit und Anstand akzeptierten, tat Mo Ran das nicht. Auch
war dieser Entschluss keine spontane Entscheidung. Seit dem Tag, an dem er
erfahren hatte, dass es Chu Wanning gewesen war, der ihn auf dem Rücken von jenem
blutigen Schlachtfeld getragen hatte, kriechend, als er nicht mehr laufen
konnte; seit er diese menschliche Seele und die Schüssel mit Wan Tans in der
Mengpo-Halle gesehen hatte; seit er in die Tiefen der Unterwelt gereist war, um
Chu Wanning zurückzuholen, hatte Mo Ran geschworen, Chu Wanning so lange zur
Seite zu stehen, wie Chu Wanning ihn haben wollte.
Nangong Liu war gegen zwei Mauern hintereinandergelaufen.
Jeder andere Sektenanführer hätte die Flinte ins Korn geworfen und sie alle
zurück auf die Straße geworfen. Aber Nangong Liu tat nichts dergleichen. Er tat
so, als wäre nichts passiert, und plauderte fröhlich mit Xue Zhengyong, bis Xue
Zhengyong die Peinlichkeit nicht mehr ertragen konnte und ihn beiseitezog, um
sich leise dafür zu entschuldigen, dass er seinen Neffen nicht in den Griff
bekommen hatte.
Nangong Liu lachte darüber hinweg. „Aiya, von einem jungen
Mann wird erwartet, dass er mutig ist. Ich finde es wunderbar, dass Mo-Zongshi
so offen ist."
Nach dem Treffen mit Nangong Liu führten die Rufeng-Schüler
die Gruppe in den Hof, wo sie für die Dauer der Hochzeit bleiben würden. Mo Ran
nieste auf dem ganzen Weg dorthin. Xue Meng drehte sich um und sah ihn an. „Vielleicht
hat Sektenanführer Nangong dich für dein Gequatsche vorhin mit einem Fluch belegt..."
„Halt die Klappe, eher wurdest du verflucht." Mo Rans
Augen waren wässrig. „Ich...hatschi, ich kann so starken Weihrauch nicht
vertragen, der Raum da hinten‒ hatschi! Der Weihrauch war wirklich zu...
hatschi! zu..."
„Zu unangenehm."
„Ah, Shi‒hatschi‒zun."
Chu Wanning runzelte die Stirn und reichte ihm verächtlich
ein Taschentuch. „Wie unansehnlich. Wisch dir das Gesicht ab."
Ein tränenüberströmter Mo Ran nahm das mit Hai-Tang
bestickte Taschentuch mit einem Grinsen entgegen. „Shizun ist so nett zu mir;
danke, Shizun."
Chu Wanning war ein wenig nervös. „Wer ist nett zu dir?!"
„Richtig!" Xue Meng meldete sich zu Wort, nicht
gewillt, zweiter zu sein. „Wer ist nett zu dir, ich bin eindeutig
derjenige, zu Shizun am nettesten ist!"
Mo Ran verspottete ihn: „Bist du nicht ein bisschen zu alt,
um daraus einen Wettbewerb zu machen?" Er wurde ganz ernst und hielt das
Taschentuch hoch. „Siehst du das? Shizun hat gesagt, dass er mir auch so eines
machen wird. Hast du eins?"
Beschämt schnappte Chu Wanning das Taschentuch blitzschnell
zurück und rief: „Mo Weiyu!"
Xue Meng erstarrte kurz vor Schreck, dann geriet er in
Rage. „Ja, genau! Als ob irgendjemand glauben würde, dass Shizun dir ein
Taschentuch machen würde! Träum weiter! Schamlos!"
So kamen sie plaudernd und zankend bei der Unterkunft an,
die Nangong Liu für sie arrangiert hatte. Es gab vier Zimmer rund um den Hof,
eines für Xue Zhengyong und Frau Wang und je eines für die anderen. Blumen
tanzten sanft zwischen verschlungenen Wegen zu stillen Rückzugsorten, und im
Hintergrund plätscherte das beruhigende Geräusch von fließendem Wasser. Es war
eine Szene von einzigartiger Eleganz.
Mo Ran, der eigentlich gut gelaunt war, geriet ins Stocken,
als er sah, in welchem Hof sie untergebracht werden würden. Seine Augen wurden
für einen Moment glasig, trotz seiner selbst. Als er den anderen in den Hof
folgte, wurde seine Laune noch mürrischer, als er die Details ihrer Umgebung in
Augenschein nahm.
Dies war der einzige Ort in der Rufeng-Sekte, der in seinem
früheren Leben einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Wenn Chu
Wanning ihn nicht um den Preis seines eigenen Lebens von diesem Weg
zurückgerufen hätte, wäre er vielleicht in diesem Leben denselben Weg gegangen
und Kaiser Taxian-Jun geworden. Schon jetzt würde er Millionen von Zhenlong-Schachfiguren
befehligen und diese berühmte Sekte in Schutt und Asche legen. Der Gedanke
daran trieb ihm kalten Schweiß in Strömen den Rücken hinunter und tausend
Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Mo Ran schloss die Augen. Er war nicht
mehr der junge Mann, der sein Herz auf der Zunge trug. Er konnte seine
Emotionen im Zaum halten, und so bemerkte auch niemand den Schleier, der sein Herz
umgab.
Jeder zog sich in sein eigenes Zimmer zurück, um sich
auszuruhen. Mo Ran stand noch eine Weile vor seinem Zimmer, die Hände hinter
dem Rücken verschränkt, ging aber nicht hinein. Eines der Dienstmädchen im Hof
fragte vorsichtig: „Findet Xianjun das Zimmer nicht zufriedenstellend?"
„Oh, nein, nein." Als er wieder zu sich kam, lächelte
Mo Ran. „Dieser Hof hat mich nur an einen Ort erinnert, an dem ich früher
gelebt habe, das ist alles."
„Was für ein Zufall. Ich habe mir schon Sorgen gemacht,
dass Xianjun die Unterkunft nicht nach seinem Geschmack findet. Wenn Xianjun
irgendeinen Wunsch hat, lasst es mich bitte wissen, und ich werde mein Bestes
tun, um ihn zu erfüllen."
„Mir geht es gut, danke", antwortete Mo Ran mit einem
Lächeln. Er blickte zu dem hundertjährigen Osmanthusbaum im Hof hinauf, dessen
Stamm so dick war, dass er ihn kaum mit den Armen umfassen konnte. Die
tanzenden Schatten seines Laubes schwebten über seinem Blick wie Geister aus
seiner Vergangenheit. Seine Wimpern zuckten leicht, und Melancholie
durchflutete seine Brust.
Er drehte sich um und rief dem Dienstmädchen zu, das gerade
ging. „Wartet!"
„Ja, Xianjun?"
Mo Ran zögerte. „Ich wollte nach jemandem fragen." Er
hielt inne, und als er die Augen hob, war sein Blick flackernd hell. „Kennt Ihr
einen..."
„Einen...?"
„Eigentlich ist es egal, lassen Sie mich stattdessen nach
jemand anderem fragen", sagte Mo Ran. „Wisst Ihr, wo ich Ye Wangxi finden
kann?"
„Ye-Gongzi ist der persönliche Schüler des Ältesten Xu",
antwortete das Dienstmädchen. „Er wohnt mit ihm im selben Hof. Xianjun kann Ye-Gongzi
dort finden."
Mo Ran stieß heimlich den Atem aus, den er angehalten
hatte. Das letzte Mal hatte er Ye Wangxi in jenem Restaurant gesehen, wo Ye
Wangxi Nangong Si angefleht hatte, mit ihm zurückzugehen, und Nangong Si hatte
sich geweigert. Damals hatte Ye Wangxi gesagt: ‘Wenn dich meine Anwesenheit zu
Hause stört, dann werde ich gehen, und du wirst mich nie wieder sehen müssen.‘
Um ehrlich zu sein, hatte sich Mo Ran Sorgen um Ye Wangxi
gemacht. Er hatte das Gefühl, dass der Mann in seinem früheren Leben genug
gelitten hatte. Für Mo Ran war Ye Wangxi Chu Wanning nicht unähnlich ‒ beide
waren Menschen mit Moral und Überzeugung, obwohl der eine zurückhaltend und der
andere feurig war. Doch keiner von beiden hatte ein gutes Ende gefunden. Er
bedauerte die Vergangenheit und hatte gehofft, dass es Ye Wangxi in diesem
Leben besser gehen würde. Er war erleichtert, zu hören, dass Nangong Si nicht
so herzlos gewesen war, Ye Wangxi in Wahrheit zu verjagen.
______________________
Der Name des Hofes des Ältesten Xu lautete ‘Abschied von
drei Leben‘, angeblich in Anlehnung an die Redewendung ‘Ein Schluck von Meng
Pos Suppe ist der Abschied von drei Leben voller Erinnerungen‘. Sie bedeutete,
dass das Leben flüchtig war und dass es am besten war, das zu vergessen, was
vergessen werden sollte, anstatt zu schwelgen. Wenn man an der Naihe-Brücke
ankommt, ist im Tod sowieso alles vergessen.
Wie pessimistisch. Kein Wunder, dass Ye Wangxi so verklemmt
war, dass man nicht einmal einen Furz aus ihm herausprügeln konnte.
„Was für ein kluger Papagei, wie interessant. Und jetzt
rezitiere das: eine Schale Reis, ein Messlöffel voll Wasser,
in einer bescheidenen Gasse... "
Eine Wache war vorausgegangen, um Mo Rans Besuch und seine
Absichten anzukündigen. Kaum war Mo Ran um den Wandschirm herumgetreten, hörte
er von drinnen die träge, neckische Stimme eines Mannes. Er ging noch ein paar
Schritte weiter und sah den Sprecher im sonnendurchfluteten Hof stehen. Er
schien Anfang dreißig zu sein und war in eine Robe gekleidet, die so bescheiden
war, dass sie an den Ecken der Ärmel ein paar Flecken aufwies. Trotz der Kälte
trug er keine Schuhe, sondern stand barfuß mit einer Handvoll Sonnenblumenkerne
auf dem kalten Steinpflaster und neckte einen schneeweißen Papagei mit blauen
Augen und einem langen Schwanz.
Der Papagei schlug mit den Flügeln, während er auf seiner
Sitzstange hin und her wippte. Er schien mit sich selbst zufrieden zu sein,
denn er sang laut zurück: „Ah ‒ eine Schale Reis, ein Messlöffel voll Wasser,
in einer bescheidenen Gasse."
„Mm, nicht schlecht, nicht schlecht. Du bist schlauer als
der kleine Ye-Zi, weißt du. Er war nicht
annähernd so schlau, als er jung war, er konnte sich dieses Stück nicht merken,
egal wie sehr er es versuchte." Der Mann fütterte den Papagei mit ein paar
Samen. „Hier, Leckerbissen von Papa."
Mo Ran starrte ihn an, sprachlos. Sich selbst als Papa
eines Vogels zu bezeichnen... machte ihn das zu einem Spatzenhirn?
Als der Mann sich umdrehte und Mo Ran neben der Trennwand
sah, knackte er einen Sonnenblumenkern zwischen seinen Zähnen und spuckte die
Schale aus. Dann strahlte er plötzlich. Es war ein strahlendes Lächeln, doch
dahinter verbarg sich etwas Beunruhigendes. Im strahlenden Sonnenlicht strahlte
er eine luftige Nonchalance aus.
„Mo-Zongshi, Mo Ran, nicht wahr?" Er lächelte. „Freut
mich, Sie kennenzulernen." Mo Ran erwiderte das Lächeln. „Gleichfalls."
Nachdem die Höflichkeiten ausgetauscht waren, betrachtete
Mo Ran das Gesicht des Mannes genauer. Er kam ihm vage bekannt vor ‒ als hätte
Mo Ran ihn schon einmal gesehen, als er die Rufeng-Sekte im vergangenen Leben
abgeschlachtet hatte. War er...
„Yifu, du läufst schon wieder ohne Schuhe herum."
Eine vertraute Stimme ertönte. Eine Bemerkung von so
geringer Bedeutung, aber eine, die in Mo Rans Ohren wie Donnerhall klang. Mo
Ran drehte den Kopf und sah Ye Wangxi durch das Mondtor schreiten, groß und
schlank wie immer, mit einem sanften Ausdruck in den Zügen. Er ging geradewegs
auf ihn zu, in der Hand ein Paar gelbe Satinschuhe, die er dem Mann zu Füßen
legte.
Yifu? Ye Wangxis Ziehvater...
Durch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren hindurch
konnte Mo Ran die Schreie aus einem vergangenen Leben hören, das Klirren von
Schwert gegen Schwert, den Donner der Schlachttrommeln.
„Yifu‒!"
Ein von Blutflecken übersätes Gesicht durchbrach seine
Erinnerungen. Ye Wangxi, weinend und schreiend, die Stimme spaltet den Himmel...
Als Mo Ran die Rufeng-Sekte verwüstet hatte, war Nangong
Liu geflohen, um seine eigene Haut zu retten, und hatte die zweiundsiebzig
Städte kopflos und hilflos zurückgelassen. Ältester Xu, der oberste Ältester
der Rufeng-Sekte, hatte die Zügel in die Hand genommen und mithilfe von Ye
Wangxi die in Panik geratenen Massen, die Mo Ran andernfalls sofort ausgelöscht
hätte, zum Widerstand gezwungen. Der Mann war noch nicht einmal ein Nangong,
und doch hatte er die Verantwortung übernommen, die einem Sektenanführer dieses
Nachnamens hätte zufallen müssen, und seine Position als Ältester der
Rufeng-Sekte genutzt, um ihre zweiundsiebzig Städte bis zum Letzten zu
verteidigen.
Er war nicht einmal Ye Wangxis leiblicher Vater, und doch
hatte er die scharfe, mit spiritueller Energie gefüllte Klinge, die auf Ye
Wangxis Rücken zielte, abgefangen und seinen eigenen Körper geopfert, um das
Kind zu schützen, das er aufgezogen hatte. Mo Ran hatte diese Szene von der
Stadtmauer aus beobachtet, und seine Lippen hatten sich zu einem Grinsen
verzogen ‒ nur der Himmel wusste, wie eifersüchtig er in diesem Moment gewesen
war. Wenn man bedenkt, dass es da draußen jemanden gab, der bereit war, für
einen anderen zu sterben, ohne blutsverwandt zu sein! Sein engstirniges Ich
hatte Schock und Schmerz empfunden. Er war so eifersüchtig, dass er fast
verrückt geworden wäre, so eifersüchtig, dass seine Augen blutunterlaufen
waren.
Er hatte gedacht: Großartig, das ist einfach großartig,
sieh nur, was für ein Glück Ye Wangxi hat. Hätte es außer seiner Mutter
auch nur einen einzigen Menschen auf dieser weiten Welt gegeben, der bereit
gewesen wäre, für ihn zu sterben, wäre er dann auch so geworden?! Zu allen
anderen war der Himmel freundlich, nur zu ihm war er so widerwillig, so
grausam!
Er wollte jeden vernichten, auf den er eifersüchtig war.
All diese Menschen, die sich aneinander kuschelten, um sich zu wärmen: Er
wollte jeden Einzelnen von ihnen in die Hölle schicken. Wie konnte es gerecht
sein, dass er der einzige Mensch war, der nie einen einzigen Tag der
Zufriedenheit oder einen Funken Wärme erlebt hatte, dass der einzige Mensch,
der je freundlich zu ihm gewesen war, schon lange gestorben war. Es war das
einzige bisschen Wärme, das er je gehabt hatte; warum musste es ihm genommen
werden?!
Er hasste sie.
Wenn er zurückblickte, konnte Mo Ran nur daran denken, wie
dumm er damals gewesen war. Es gab jemanden auf dieser Welt, der bereit gewesen
wäre, für ihn zu sterben. Er war derjenige, der das übersehen hatte. Er war
derjenige, der es nicht bemerkt hatte und der diese Person im Stich gelassen
hatte.
Mo Ran schloss die Augen und brauchte einen Moment, um
seine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen, bevor er wieder aufblickte. Jetzt
wusste er, wer dieser Mann war: Es war der Shizun von Ye Wangxi und sein Yifu,
Xu Shuanglin. Der Mann, der am zweiten Tag des Gemetzels in der Rufeng-Sekte im
Kampf gefallen war, um Ye Wangxi zu retten.
Mo Ran wandte sich mit einem bitteren Schmerz im Herzen ab.
Er konnte den Anblick dieser lächelnden, sorglosen Person im Sonnenlicht nicht
länger ertragen. Stattdessen ging er hinüber, um Ye Wangxi zu begrüßen. „Ye-Gongzi."
Ye Wangxi hielt inne, als er Mo Ran in einiger Entfernung
stehen sah. Dann lächelte er und sagte: „Ah, Mo-Xiong ist auch hier. Lange
nicht gesehen."
„Lange nicht gesehen."
In diesem Leben war Ye Wangxi Mo Ran nur ein paar Mal
begegnet und kannte ihn nicht besonders gut. Er lächelte weiterhin höflich und
fragte: „Seid Ihr wegen meines Yifu hier?"
Mo Ran blickte schweigend zu Xu Shuanglin hinüber, bevor er
etwas verlegen den Kopf schüttelte. „Nein. Ich bin hier, um Euch zu sehen."
„Na, sieh mal einer an, kleiner Ye-Zi. Wann war das letzte
Mal jemand hier, der nach dir gesucht hat?" Xu Shuanglin grinste faul und
steckte sich einen weiteren Sonnenblumenkern in den Mund. „Wo hast du Mo-Zongshi
eigentlich getroffen?"
„In den Pfirsichblütenquellen."
„Das ist schön, das ist schön", sagte Xu Shuanglin und
schüttete lächelnd den Rest der Sonnenblumenkerne in die Futterschale des
Vogels. „Ihr jungen Leute plaudert weiter, ich gehe ein wenig spazieren."
Ye Wangxi zerrte an ihm. „Yifu, du hast schon wieder deine
Schuhe nicht an."
„Oh, das habe ich vergessen." Immer noch lächelnd, zog
Xu Shuanglin die Schuhe an. „Besser so?"
Aber aus dem Augenwinkel sah Mo Ran, wie der Mann
gemächlich um die Ecke schlenderte, sich bückte, die Schuhe wieder auszog und
sie vorne in seine Robe steckte, bevor er seinen fröhlichen Weg fortsetzte.
Dieses Vater-Sohn-Paar war sowohl vom Aussehen als auch von
der Persönlichkeit her... wirklich sehr seltsam. Xu Shuanglin sah aufgrund
seiner Kultivierungsmethode sehr jung aus, nicht einen Tag älter als dreißig.
Er wirkte eher wie der Bruder von Ye Wangxi als alles andere. Tatsächlich
wirkte er mit seinem eigensinnigen, schelmischen Temperament eher wie ein
jüngerer Bruder. Was hatte es mit der Tafel draußen auf sich, auf der feierlich
‘Abschied von drei Leben‘ eingraviert war ‒ wollte er nur herumalbern, oder
was?
Seite an Seite gingen Ye Wangxi und Mo Ran in aller Ruhe
einen schattigen Weg entlang. Der Hof war voller Bäume, die blühten und Früchte
trugen, aber es war jetzt mitten im Winter, und alles war verdorrt. Nur ein
paar trockene, gelbe Blätter hingen an den Ästen und zitterten im Fahrtwind.
„Tut mir leid, was letztes Mal im Restaurant passiert ist.
Das war mir ziemlich peinlich."
„Nicht der Rede wert", sagte Mo Ran. „Wie ist es Euch
in letzter Zeit ergangen?"
Er bereute die Worte, kaum dass sie seinen Mund verlassen
hatten. Ye Wangxi war nicht der Typ, der etwas sagte, selbst wenn es ihm
schlecht ging. Natürlich lächelte er ein wenig und sagte: „Mir geht es gut, und
Ihnen?"
„Ziemlich gut."
Die beiden standen sich nicht nahe. Mo Ran hatte ihn nur
aufgesucht, weil er sich an die Sünden seines früheren Lebens erinnerte,
Gewissensbisse hatte und mit eigenen Augen sehen wollte, wie es diesem noch
lebenden Ye Wangxi ging. Aber jetzt, wo er mit ihm allein war, wusste er
wirklich nicht, worüber er reden sollte. Mo Ran kannte viele von Ye Wangxis
Geheimnissen, aber keines davon war ein geeignetes Gesprächsthema; er wusste
nicht, was er sagen sollte.
Die beiden schlenderten eine Zeit lang schweigend umher. Ye
Wangxi fragte: „Wie geht es Xia Sini?"
Mo Ran war einen Moment lang überrascht, dann kicherte er. „Ihr
erinnert Euch noch an den Namen? Beeindruckend."
„Sein Name ist ziemlich einprägsam."
„Haha, das habe ich auch gedacht. Xia Sini ist auch hier,
Ihr könnt ihn später sehen."
Ye Wangxi schien verwirrt zu sein. „Er ist auch hier? Aber...
ich glaube nicht, dass der Sektenanführer ihn eingeladen hätte..."
„Ihr wisst noch nicht, wer Xia Sini wirklich ist, oder?",
sagte Mo Ran lachend. „Dann lasst es mich Euch erzählen. Es ist eine lange
Geschichte."
Und so erzählte er die Kette der Ereignisse, die dazu
geführt hatten, dass Chu Wanning zu Xia Sini wurde. Ye Wangxi schaute eine
Weile nachdenklich, dann seufzte er. „Mo-Gongzi kann sich glücklich schätzen,
ihn als ihren Meister zu haben."
„Und die Rufeng-Sekte kann sich glücklich schätzen, Ye-Gongzi
zu ihren Schülern zu zählen."
Ye Wangxi, ein wenig verlegen, antwortete mit einem
weiteren kleinen Lächeln: „Mo-Gongzi ist zu freundlich."
Sie kamen an einer kleinen, Rot gestrichenen Pontonbrücke an. Der Weg hier bestand nur aus
trockenen Ästen und verschrumpelten Blättern, aber dieser Ort war grün, mit
hohen Bambushalmen, die stolz und unnachgiebig in Wind und Schnee standen. Das
Wasser der Rufeng-Sekte war mit spiritueller Energie durchtränkt worden, um ein
Einfrieren zu verhindern, und am Fuß der Brücke war das süße Plätschern von
fließendem Wasser zu hören, das von zwei Hainen mit üppigem Grün umgeben war.
Als Mo Ran sich umdrehte, sah er Ye Wangxi mit
niedergeschlagenen Augen, den Blick auf den glitzernden Bach gerichtet, dessen
reflektiertes Licht über seine dunklen Pupillen tanzte. Er war immer noch
derselbe Mensch, aber die neue Müdigkeit auf seinem Gesicht war nicht zu
übersehen.
Nangong Sis Heirat war in der Tat zu, zu grausam für Ye
Wangxi. Mo Ran fand, es plötzlich schwer zu ertragen. Er hatte das Gefühl, Chu
Wanning vor sich zu haben, der so viel von sich gab, aber kaum einen Blick zurückerhielt.
„Ye-Gongzi, warum kommt Ihr nicht stattdessen zum
Sisheng-Gipfel?", fragte Mo Ran.
„Was?"
Mo Ran hielt sich den Mund zu. Die Worte hatten sich in dem
Moment, als sie über seine Lippen gekommen waren, zu ungestüm angefühlt, und er
wusste sehr wohl, wie Ye Wangxis Antwort lauten würde. Er seufzte und sagte: „Es
war nur eine unbedachte Bemerkung. Nehmt es mir nicht übel."
Ye Wangxi lächelte daraufhin. Früher hatte er ein hübsches,
verführerisches Lächeln, sieben Teile Edelmut und drei Teile Anmut. Er war
immer noch derselbe Mensch mit demselben Lächeln, aber seine Wangen waren jetzt
eingefallen, und obwohl der Edelmut geblieben war, war die Anmut verkümmert und
hinterließ zwei Lachen der Traurigkeit. Es war offensichtlich, dass er versucht
hatte, sie zu verbergen. Aber trotz seiner Bemühungen war dieser Kummer zu
tief, um ihn zu verbergen.
„Ist Mo-Xiong hier, um Leute für den Sisheng-Gipfel
abzuwerben?", scherzte Ye Wangxi.
„Haha, natürlich. Aber Ye-Gongzi wird wahrscheinlich nicht
anbeißen, also nehmt es einfach als Scherz."
„Mn, mein Yifu ist hier, also werde ich nicht gehen."
„Was habt Ihr dann vor?"
Schmerz blitzte in Ye Wangxis Gesicht auf, und
ausnahmsweise hatte er keine Antwort parat. Was hatte er vor zu tun? Er
wusste es auch nicht. Ye Wangxi fühlte sich wie eine Motte in Nangong Sis
Flamme. Er konnte nicht anders, als sich von dieser Wärme anziehen zu lassen,
selbst wenn sie zu seinem eigenen Ruin führte.
Aber Nangong Si wollte ihn nicht.
„Ich bleibe einfach hier in der Rufeng-Sekte und tue
weiterhin das, was meine Pflicht ist", sagte Ye Wangxi mit einem schwachen
Lächeln. „Diene dem Sektenanführer, diene Yifu, und später diene ich dem jungen
Meister..." Er hielt inne, und seine Hände ballten sich zu Fäusten, deren
Gelenke so blass wie jade waren.
Mo Ran war beunruhigt. Wie konnte Ye Wangxi den Rest des
Satzes so ruhig sagen wie konnte er die nächsten Worte überhaupt sagen...
„Und diene der jungen Herrin."
Ye Wangxi senkte schließlich den Blick, als könne er es
nicht länger ertragen. Aber nur für einen Augenblick. Dann hob er die Augen und
sah Mo Ran auf seine sanfte, höfliche Art an. Er schaffte es sogar, sich ein
Lächeln zu bewahren, während er in der bitteren Kälte des Winters stand,
unverwüstlich wie der Bambus ringsum.
Ein plötzlicher Windstoß ließ den frisch gefallenen Schnee
in den Bambushainen verstreuen.
In diesem Augenblick entschied Mo Ran: Nein, Nangong Si
würde Song Qiutong nicht heiraten.
Erklärungen:
Seladon,
auch Seladon-Keramik, ist ein nach seiner „seladongrünen“
(graugrünen) Glasur benanntes chinesisches Steinzeug des 9. bis 15. Jahrhunderts, das im Mittelalter vereinzelt auch nach Europa gelangte.
…eine Schale Reis, ein Messlöffel voll Wasser, in
einer bescheidenen Gasse: Aus den Analekten des Konfuzius: „Eine Schale
Reis, ein Messlöffel voll Wasser, in einer bescheidenen Gasse; andere hätten
ein so hartes Leben nicht ertragen können, aber Hui ist trotzdem glücklich.
Gelobt sei Hui!", der die Tugenden der Zufriedenheit mit einem einfachen
Leben preist.
Xiao Ye-zi, 小叶子. Ye Wangxis Ye bedeutet Blatt, und dieser
Kosename bedeutet wörtlich ‘kleines Blatt‘.
Eine Pontonbrücke (auch Schiffbrücke oder Schwimmbrücke) besteht aus einer Reihe von auf einem Gewässer schwimmenden Pontons, Schiffen, Booten oder anderen Schwimmkörpern, auf die ein Steg, eine Brückenfahrbahn oder in seltenen Fällen ein Gleis montiert ist.
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Mit dem Wissen was Mo Ran hat, kann man ohne schlechten Gewissen so ein Verhalten an den Tag legen. Sehr zum Leidwesen seines Onkels XD Aber all seine Taten aus seinem vorherigen Leben, holen ihn wieder ein. Wieder sieht er, wie falsch er damals gehandelt hat und will nun schauen, wie es den Leuten jetzt ergeht.
AntwortenLöschenDie Vergangenheit war wahrlich grausam. Jetzt mögen sie zwar am Leben sein und scheinbar keine Schuhe mögen XD Aber ganz gut scheint es nicht allen zu gehen. Und den Entschluss den Mo Ran zum Schluss fällt, lässt einen böses erahnen.
Xue Zhenyong ist, glaube ich von Mo Ran in gewisserweise Schrecklicheres gewohnt. Ich denke dabei nur an seine Zeit vor der der Widergeburt. Aber wenn am Ende des Sektenanführers wegen so etwas ein großes Theater macht, zeugt dies ganz deutlich von seinem mangelnden Charakter. Also wird diese Reaktion von Mo Ran für ihn keine Konsequenzen haben.
LöschenIch mag die Beziehung zwischen Ye Wnagxi und Xu Shualing, die wird aber noch näher beleuchtet werden, ebenfalls in diesem Abschnitt der Geschichte.
Armer Ye Wangxi, vermutlich war es ein Segen für ihn, als im letzten Leben Nagong Si früh gestorben ist und er dadurch nie in die Situation kam, dass seine Liebe nicht erwünscht ist, denn er ist doch in Nagong Si verliebt, es gab dazu so einige Andeutungen
AntwortenLöschenFür Ye Wangxi war Nagong Sis Tod kein Segen, dies hat aber sehr viele tieferliegende Gründe, die ich aus Spoilergründen nicht nennen kann. Aber bei gewissen Andeutungen hast du recht und bei manchen nicht, doch bei welchen Andeutungen du falsch oder richtig liegst verrate ich nicht.
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