Kapitel 154 ~ Shizun, ich mache mich auf die Suche nach Ye Wangxi

Nun, das war peinlich.

Alle anderen, von Frau Wang bis Xue Meng und sogar Xue Zhengyong, hatten sich höflich zur Begrüßung erhoben, als Nangong Liu hereinkam. Chu Wanning hatte sich nicht darum gekümmert, sondern war am Fenster stehen geblieben.

Aber für Mo Ran war die Rufeng-Sekte nicht mehr als eine wertlose Müllsekte, die er in seinem früheren Leben mit Füßen getreten hatte. Er wusste, dass der Ort hinter seinem äußeren Glanz ein ungeordnetes Durcheinander war, das kaum Respekt verdiente. Dennoch hatte er nicht die Absicht, Nangong Liu in Schwierigkeiten zu bringen ‒ es war ihm einfach nie in den Sinn gekommen, aufzustehen.

Es war eine recht seltsame Szene. Nangong Liu, der Gastgeber und Älterer, stand mit einem freundlichen Lächeln da, das Gesicht überhaupt nicht verärgert, sondern voll warmer Vertrautheit. Mo Ran, der Gast und Jüngerer, lehnte sich mit gekreuzten Beinen und einer heißen Tasse Tee in der Hand träge im Taishi-Stuhl zurück.

Xue Zhengyong hatte nicht darauf geachtet, was Mo Ran tat, aber als er sich jetzt umdrehte, konnte er sich seiner Beschämung nicht erwehren. Dieser Junge hatte wirklich keine Manieren!

„Und Ihr musst der berühmte Mo-Zongshi sein, von dem alle in den letzten Jahren gesprochen haben?"

Mo Ran setzte den Deckel seiner Teetasse wieder auf, hob den Blick und antwortete: „Das bin ich."

„Wahrlich ein galanter ju..."

„Nangong-Xianjun." Mo Ran unterbrach ihn mit einem Lächeln. „Ihr habt bereits meinen Cousin mit 'galanter junger Mann' angesprochen, also vielleicht nicht auch noch mich?"

Er sprach höflich, in leichtem Ton und mit einem warmen Lächeln, aber die Worte waren alles andere als das. Er machte sich auch nicht die Mühe, aufzustehen. Im Gegenteil, nachdem er diese Worte beiläufig gesagt hatte, hob er erneut seine Teetasse an, wobei er den Deckel aus Seladon am Rand abstreifte, und blies in den sanft aufsteigenden Dampf. Er senkte seinen Blick und seine langen, dichten Wimpern und nippte gemächlich an seinem Tee. Er war jung, gut aussehend, hochgewachsen und selbstsicher. Seine Haltung und sein Auftreten vermittelten den Eindruck, dass er der wahre Meister der Rufeng-Sekte war, derjenige, der an der Spitze der gesamten Kultivierungswelt stand, während Nangong Liu nicht mehr als ein Hund war, der auf seinem Platz hockte.

„Ha ha, Mo-Zongshi hat ganz recht. Diese bescheidene Person konnte sich wegen meiner eigenen Ungeschicklichkeit einfach nicht besser ausdrücken, also..."

„Das kann nicht richtig sein." Mo Ran stellte seine Teetasse ab und sah mit einem schwachen Lächeln auf. „Nangong-Xianjun hat, seit er diesen Raum betreten hat, unendlich viel Lob zu verteilen. Wenn Ihr nicht gerade ein geschmeidiger Redner seid, wer ist es dann?"

„Aiya, Mo-Zongshi schmeichelt mir zu sehr."

„Wer sagt denn, dass ich Euch schmeichle?" Mo Ran lächelte, die hellen Augen auf ihn gerichtet. „Ein Schmeichler zu sein, ist nicht immer eine gute Sache."

Xue Zhengyong konnte es schließlich nicht mehr ertragen. Er senkte seine Stimme und schimpfte: „Ran-er-!"

Es war verständlich, dass Chu Wanning Nangong Liu gegenüber feindselig war; immerhin gab es eine Vorgeschichte zwischen ihnen, und Chu Wanning hatte den gesellschaftlichen Status, mit ihm zu konkurrieren. Mo Ran, andererseits...

Mo Ran beachtete Xue Zhengyong nicht und sprach stattdessen zu Nangong Liu. „Nangong-Xianjun sollte sich die schmeichelnden Worte für die anderen Jüngeren sparen. Ich bin ein ungehobelter Mensch, ich werde es nicht verstehen und ich will es nicht hören."

Xue Zhengyong war völlig sprachlos.

Obwohl Mo Ran wusste, dass sein Onkel über sein Verhalten verärgert sein würde, bedauerte er es nicht im Geringsten. Die Welt war voll von so vielen abscheulichen Dingen. Chu Wanning mit seinem wilden Temperament setzte sich immer wieder zur Wehr ‒ man denke nur an den Exorzismus von Luo Xianxian, als er den Hausherr Chen, den zahlenden Kunden, verprügelte, weil er ein hilfloses Mädchen misshandelt hatte, ohne Rücksicht auf den Schaden für seinen Ruf. Er hatte nichts Falsches getan, aber sein Name wurde in den Mündern anderer immer wieder verleumdet. Diese Leute nannten ihn ‘kaltblütig‘, ‘eigensinnig‘ und ‘gefühllos‘.

Mo Ran war entschlossen, andere davon abzuhalten, seinen Shizun jemals wieder als ‘unhöflich‘ zu bezeichnen. Also schwor er sich, noch unhöflicher zu handeln, als Chu Wanning es tat, noch übertriebener. Es war ein dummer Plan, aber es war der einzige, den er sich vorstellen konnte, um seinen Shizun zu schützen. Während die anderen drei im Raum Nangong Lius Schmeicheleien und Gefallen aus Höflichkeit und Anstand akzeptierten, tat Mo Ran das nicht. Auch war dieser Entschluss keine spontane Entscheidung. Seit dem Tag, an dem er erfahren hatte, dass es Chu Wanning gewesen war, der ihn auf dem Rücken von jenem blutigen Schlachtfeld getragen hatte, kriechend, als er nicht mehr laufen konnte; seit er diese menschliche Seele und die Schüssel mit Wan Tans in der Mengpo-Halle gesehen hatte; seit er in die Tiefen der Unterwelt gereist war, um Chu Wanning zurückzuholen, hatte Mo Ran geschworen, Chu Wanning so lange zur Seite zu stehen, wie Chu Wanning ihn haben wollte.

Nangong Liu war gegen zwei Mauern hintereinandergelaufen. Jeder andere Sektenanführer hätte die Flinte ins Korn geworfen und sie alle zurück auf die Straße geworfen. Aber Nangong Liu tat nichts dergleichen. Er tat so, als wäre nichts passiert, und plauderte fröhlich mit Xue Zhengyong, bis Xue Zhengyong die Peinlichkeit nicht mehr ertragen konnte und ihn beiseitezog, um sich leise dafür zu entschuldigen, dass er seinen Neffen nicht in den Griff bekommen hatte.

Nangong Liu lachte darüber hinweg. „Aiya, von einem jungen Mann wird erwartet, dass er mutig ist. Ich finde es wunderbar, dass Mo-Zongshi so offen ist."

Nach dem Treffen mit Nangong Liu führten die Rufeng-Schüler die Gruppe in den Hof, wo sie für die Dauer der Hochzeit bleiben würden. Mo Ran nieste auf dem ganzen Weg dorthin. Xue Meng drehte sich um und sah ihn an. „Vielleicht hat Sektenanführer Nangong dich für dein Gequatsche vorhin mit einem Fluch belegt..."

„Halt die Klappe, eher wurdest du verflucht." Mo Rans Augen waren wässrig. „Ich...hatschi, ich kann so starken Weihrauch nicht vertragen, der Raum da hinten‒ hatschi! Der Weihrauch war wirklich zu... hatschi! zu..."

„Zu unangenehm."

„Ah, Shi‒hatschi‒zun."      

Chu Wanning runzelte die Stirn und reichte ihm verächtlich ein Taschentuch. „Wie unansehnlich. Wisch dir das Gesicht ab."

Ein tränenüberströmter Mo Ran nahm das mit Hai-Tang bestickte Taschentuch mit einem Grinsen entgegen. „Shizun ist so nett zu mir; danke, Shizun."

Chu Wanning war ein wenig nervös. „Wer ist nett zu dir?!"

„Richtig!" Xue Meng meldete sich zu Wort, nicht gewillt, zweiter zu sein. „Wer ist nett zu dir, ich bin eindeutig derjenige, zu Shizun am nettesten ist!"

Mo Ran verspottete ihn: „Bist du nicht ein bisschen zu alt, um daraus einen Wettbewerb zu machen?" Er wurde ganz ernst und hielt das Taschentuch hoch. „Siehst du das? Shizun hat gesagt, dass er mir auch so eines machen wird. Hast du eins?"

Beschämt schnappte Chu Wanning das Taschentuch blitzschnell zurück und rief: „Mo Weiyu!"

Xue Meng erstarrte kurz vor Schreck, dann geriet er in Rage. „Ja, genau! Als ob irgendjemand glauben würde, dass Shizun dir ein Taschentuch machen würde! Träum weiter! Schamlos!"

So kamen sie plaudernd und zankend bei der Unterkunft an, die Nangong Liu für sie arrangiert hatte. Es gab vier Zimmer rund um den Hof, eines für Xue Zhengyong und Frau Wang und je eines für die anderen. Blumen tanzten sanft zwischen verschlungenen Wegen zu stillen Rückzugsorten, und im Hintergrund plätscherte das beruhigende Geräusch von fließendem Wasser. Es war eine Szene von einzigartiger Eleganz.

Mo Ran, der eigentlich gut gelaunt war, geriet ins Stocken, als er sah, in welchem Hof sie untergebracht werden würden. Seine Augen wurden für einen Moment glasig, trotz seiner selbst. Als er den anderen in den Hof folgte, wurde seine Laune noch mürrischer, als er die Details ihrer Umgebung in Augenschein nahm.

Dies war der einzige Ort in der Rufeng-Sekte, der in seinem früheren Leben einen tiefen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte. Wenn Chu Wanning ihn nicht um den Preis seines eigenen Lebens von diesem Weg zurückgerufen hätte, wäre er vielleicht in diesem Leben denselben Weg gegangen und Kaiser Taxian-Jun geworden. Schon jetzt würde er Millionen von Zhenlong-Schachfiguren befehligen und diese berühmte Sekte in Schutt und Asche legen. Der Gedanke daran trieb ihm kalten Schweiß in Strömen den Rücken hinunter und tausend Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Mo Ran schloss die Augen. Er war nicht mehr der junge Mann, der sein Herz auf der Zunge trug. Er konnte seine Emotionen im Zaum halten, und so bemerkte auch niemand den Schleier, der sein Herz umgab.

Jeder zog sich in sein eigenes Zimmer zurück, um sich auszuruhen. Mo Ran stand noch eine Weile vor seinem Zimmer, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, ging aber nicht hinein. Eines der Dienstmädchen im Hof fragte vorsichtig: „Findet Xianjun das Zimmer nicht zufriedenstellend?"

„Oh, nein, nein." Als er wieder zu sich kam, lächelte Mo Ran. „Dieser Hof hat mich nur an einen Ort erinnert, an dem ich früher gelebt habe, das ist alles."

„Was für ein Zufall. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass Xianjun die Unterkunft nicht nach seinem Geschmack findet. Wenn Xianjun irgendeinen Wunsch hat, lasst es mich bitte wissen, und ich werde mein Bestes tun, um ihn zu erfüllen."

„Mir geht es gut, danke", antwortete Mo Ran mit einem Lächeln. Er blickte zu dem hundertjährigen Osmanthusbaum im Hof hinauf, dessen Stamm so dick war, dass er ihn kaum mit den Armen umfassen konnte. Die tanzenden Schatten seines Laubes schwebten über seinem Blick wie Geister aus seiner Vergangenheit. Seine Wimpern zuckten leicht, und Melancholie durchflutete seine Brust.

Er drehte sich um und rief dem Dienstmädchen zu, das gerade ging. „Wartet!"

„Ja, Xianjun?"

Mo Ran zögerte. „Ich wollte nach jemandem fragen." Er hielt inne, und als er die Augen hob, war sein Blick flackernd hell. „Kennt Ihr einen..."

„Einen...?"

„Eigentlich ist es egal, lassen Sie mich stattdessen nach jemand anderem fragen", sagte Mo Ran. „Wisst Ihr, wo ich Ye Wangxi finden kann?"

„Ye-Gongzi ist der persönliche Schüler des Ältesten Xu", antwortete das Dienstmädchen. „Er wohnt mit ihm im selben Hof. Xianjun kann Ye-Gongzi dort finden."

Mo Ran stieß heimlich den Atem aus, den er angehalten hatte. Das letzte Mal hatte er Ye Wangxi in jenem Restaurant gesehen, wo Ye Wangxi Nangong Si angefleht hatte, mit ihm zurückzugehen, und Nangong Si hatte sich geweigert. Damals hatte Ye Wangxi gesagt: ‘Wenn dich meine Anwesenheit zu Hause stört, dann werde ich gehen, und du wirst mich nie wieder sehen müssen.‘

Um ehrlich zu sein, hatte sich Mo Ran Sorgen um Ye Wangxi gemacht. Er hatte das Gefühl, dass der Mann in seinem früheren Leben genug gelitten hatte. Für Mo Ran war Ye Wangxi Chu Wanning nicht unähnlich ‒ beide waren Menschen mit Moral und Überzeugung, obwohl der eine zurückhaltend und der andere feurig war. Doch keiner von beiden hatte ein gutes Ende gefunden. Er bedauerte die Vergangenheit und hatte gehofft, dass es Ye Wangxi in diesem Leben besser gehen würde. Er war erleichtert, zu hören, dass Nangong Si nicht so herzlos gewesen war, Ye Wangxi in Wahrheit zu verjagen.

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Der Name des Hofes des Ältesten Xu lautete ‘Abschied von drei Leben‘, angeblich in Anlehnung an die Redewendung ‘Ein Schluck von Meng Pos Suppe ist der Abschied von drei Leben voller Erinnerungen‘. Sie bedeutete, dass das Leben flüchtig war und dass es am besten war, das zu vergessen, was vergessen werden sollte, anstatt zu schwelgen. Wenn man an der Naihe-Brücke ankommt, ist im Tod sowieso alles vergessen.

Wie pessimistisch. Kein Wunder, dass Ye Wangxi so verklemmt war, dass man nicht einmal einen Furz aus ihm herausprügeln konnte.

„Was für ein kluger Papagei, wie interessant. Und jetzt rezitiere das: eine Schale Reis, ein Messlöffel voll Wasser, in einer bescheidenen Gasse... "

Eine Wache war vorausgegangen, um Mo Rans Besuch und seine Absichten anzukündigen. Kaum war Mo Ran um den Wandschirm herumgetreten, hörte er von drinnen die träge, neckische Stimme eines Mannes. Er ging noch ein paar Schritte weiter und sah den Sprecher im sonnendurchfluteten Hof stehen. Er schien Anfang dreißig zu sein und war in eine Robe gekleidet, die so bescheiden war, dass sie an den Ecken der Ärmel ein paar Flecken aufwies. Trotz der Kälte trug er keine Schuhe, sondern stand barfuß mit einer Handvoll Sonnenblumenkerne auf dem kalten Steinpflaster und neckte einen schneeweißen Papagei mit blauen Augen und einem langen Schwanz.

Der Papagei schlug mit den Flügeln, während er auf seiner Sitzstange hin und her wippte. Er schien mit sich selbst zufrieden zu sein, denn er sang laut zurück: „Ah ‒ eine Schale Reis, ein Messlöffel voll Wasser, in einer bescheidenen Gasse."

„Mm, nicht schlecht, nicht schlecht. Du bist schlauer als der kleine Ye-Zi, weißt du. Er war nicht annähernd so schlau, als er jung war, er konnte sich dieses Stück nicht merken, egal wie sehr er es versuchte." Der Mann fütterte den Papagei mit ein paar Samen. „Hier, Leckerbissen von Papa."

Mo Ran starrte ihn an, sprachlos. Sich selbst als Papa eines Vogels zu bezeichnen... machte ihn das zu einem Spatzenhirn?

Als der Mann sich umdrehte und Mo Ran neben der Trennwand sah, knackte er einen Sonnenblumenkern zwischen seinen Zähnen und spuckte die Schale aus. Dann strahlte er plötzlich. Es war ein strahlendes Lächeln, doch dahinter verbarg sich etwas Beunruhigendes. Im strahlenden Sonnenlicht strahlte er eine luftige Nonchalance aus.

„Mo-Zongshi, Mo Ran, nicht wahr?" Er lächelte. „Freut mich, Sie kennenzulernen." Mo Ran erwiderte das Lächeln. „Gleichfalls."

Nachdem die Höflichkeiten ausgetauscht waren, betrachtete Mo Ran das Gesicht des Mannes genauer. Er kam ihm vage bekannt vor ‒ als hätte Mo Ran ihn schon einmal gesehen, als er die Rufeng-Sekte im vergangenen Leben abgeschlachtet hatte. War er...

„Yifu, du läufst schon wieder ohne Schuhe herum."

Eine vertraute Stimme ertönte. Eine Bemerkung von so geringer Bedeutung, aber eine, die in Mo Rans Ohren wie Donnerhall klang. Mo Ran drehte den Kopf und sah Ye Wangxi durch das Mondtor schreiten, groß und schlank wie immer, mit einem sanften Ausdruck in den Zügen. Er ging geradewegs auf ihn zu, in der Hand ein Paar gelbe Satinschuhe, die er dem Mann zu Füßen legte.

Yifu? Ye Wangxis Ziehvater...

Durch das Rauschen des Blutes in seinen Ohren hindurch konnte Mo Ran die Schreie aus einem vergangenen Leben hören, das Klirren von Schwert gegen Schwert, den Donner der Schlachttrommeln.

„Yifu!"

Ein von Blutflecken übersätes Gesicht durchbrach seine Erinnerungen. Ye Wangxi, weinend und schreiend, die Stimme spaltet den Himmel...

Als Mo Ran die Rufeng-Sekte verwüstet hatte, war Nangong Liu geflohen, um seine eigene Haut zu retten, und hatte die zweiundsiebzig Städte kopflos und hilflos zurückgelassen. Ältester Xu, der oberste Ältester der Rufeng-Sekte, hatte die Zügel in die Hand genommen und mithilfe von Ye Wangxi die in Panik geratenen Massen, die Mo Ran andernfalls sofort ausgelöscht hätte, zum Widerstand gezwungen. Der Mann war noch nicht einmal ein Nangong, und doch hatte er die Verantwortung übernommen, die einem Sektenanführer dieses Nachnamens hätte zufallen müssen, und seine Position als Ältester der Rufeng-Sekte genutzt, um ihre zweiundsiebzig Städte bis zum Letzten zu verteidigen.

Er war nicht einmal Ye Wangxis leiblicher Vater, und doch hatte er die scharfe, mit spiritueller Energie gefüllte Klinge, die auf Ye Wangxis Rücken zielte, abgefangen und seinen eigenen Körper geopfert, um das Kind zu schützen, das er aufgezogen hatte. Mo Ran hatte diese Szene von der Stadtmauer aus beobachtet, und seine Lippen hatten sich zu einem Grinsen verzogen ‒ nur der Himmel wusste, wie eifersüchtig er in diesem Moment gewesen war. Wenn man bedenkt, dass es da draußen jemanden gab, der bereit war, für einen anderen zu sterben, ohne blutsverwandt zu sein! Sein engstirniges Ich hatte Schock und Schmerz empfunden. Er war so eifersüchtig, dass er fast verrückt geworden wäre, so eifersüchtig, dass seine Augen blutunterlaufen waren.

Er hatte gedacht: Großartig, das ist einfach großartig, sieh nur, was für ein Glück Ye Wangxi hat. Hätte es außer seiner Mutter auch nur einen einzigen Menschen auf dieser weiten Welt gegeben, der bereit gewesen wäre, für ihn zu sterben, wäre er dann auch so geworden?! Zu allen anderen war der Himmel freundlich, nur zu ihm war er so widerwillig, so grausam!

Er wollte jeden vernichten, auf den er eifersüchtig war. All diese Menschen, die sich aneinander kuschelten, um sich zu wärmen: Er wollte jeden Einzelnen von ihnen in die Hölle schicken. Wie konnte es gerecht sein, dass er der einzige Mensch war, der nie einen einzigen Tag der Zufriedenheit oder einen Funken Wärme erlebt hatte, dass der einzige Mensch, der je freundlich zu ihm gewesen war, schon lange gestorben war. Es war das einzige bisschen Wärme, das er je gehabt hatte; warum musste es ihm genommen werden?!

Er hasste sie.

Wenn er zurückblickte, konnte Mo Ran nur daran denken, wie dumm er damals gewesen war. Es gab jemanden auf dieser Welt, der bereit gewesen wäre, für ihn zu sterben. Er war derjenige, der das übersehen hatte. Er war derjenige, der es nicht bemerkt hatte und der diese Person im Stich gelassen hatte.

Mo Ran schloss die Augen und brauchte einen Moment, um seine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen, bevor er wieder aufblickte. Jetzt wusste er, wer dieser Mann war: Es war der Shizun von Ye Wangxi und sein Yifu, Xu Shuanglin. Der Mann, der am zweiten Tag des Gemetzels in der Rufeng-Sekte im Kampf gefallen war, um Ye Wangxi zu retten.

Mo Ran wandte sich mit einem bitteren Schmerz im Herzen ab. Er konnte den Anblick dieser lächelnden, sorglosen Person im Sonnenlicht nicht länger ertragen. Stattdessen ging er hinüber, um Ye Wangxi zu begrüßen. „Ye-Gongzi."

Ye Wangxi hielt inne, als er Mo Ran in einiger Entfernung stehen sah. Dann lächelte er und sagte: „Ah, Mo-Xiong ist auch hier. Lange nicht gesehen."

„Lange nicht gesehen."

In diesem Leben war Ye Wangxi Mo Ran nur ein paar Mal begegnet und kannte ihn nicht besonders gut. Er lächelte weiterhin höflich und fragte: „Seid Ihr wegen meines Yifu hier?"

Mo Ran blickte schweigend zu Xu Shuanglin hinüber, bevor er etwas verlegen den Kopf schüttelte. „Nein. Ich bin hier, um Euch zu sehen."

„Na, sieh mal einer an, kleiner Ye-Zi. Wann war das letzte Mal jemand hier, der nach dir gesucht hat?" Xu Shuanglin grinste faul und steckte sich einen weiteren Sonnenblumenkern in den Mund. „Wo hast du Mo-Zongshi eigentlich getroffen?"

„In den Pfirsichblütenquellen."

„Das ist schön, das ist schön", sagte Xu Shuanglin und schüttete lächelnd den Rest der Sonnenblumenkerne in die Futterschale des Vogels. „Ihr jungen Leute plaudert weiter, ich gehe ein wenig spazieren."

Ye Wangxi zerrte an ihm. „Yifu, du hast schon wieder deine Schuhe nicht an."

„Oh, das habe ich vergessen." Immer noch lächelnd, zog Xu Shuanglin die Schuhe an. „Besser so?"

Aber aus dem Augenwinkel sah Mo Ran, wie der Mann gemächlich um die Ecke schlenderte, sich bückte, die Schuhe wieder auszog und sie vorne in seine Robe steckte, bevor er seinen fröhlichen Weg fortsetzte.

Dieses Vater-Sohn-Paar war sowohl vom Aussehen als auch von der Persönlichkeit her... wirklich sehr seltsam. Xu Shuanglin sah aufgrund seiner Kultivierungsmethode sehr jung aus, nicht einen Tag älter als dreißig. Er wirkte eher wie der Bruder von Ye Wangxi als alles andere. Tatsächlich wirkte er mit seinem eigensinnigen, schelmischen Temperament eher wie ein jüngerer Bruder. Was hatte es mit der Tafel draußen auf sich, auf der feierlich ‘Abschied von drei Leben‘ eingraviert war ‒ wollte er nur herumalbern, oder was?

Seite an Seite gingen Ye Wangxi und Mo Ran in aller Ruhe einen schattigen Weg entlang. Der Hof war voller Bäume, die blühten und Früchte trugen, aber es war jetzt mitten im Winter, und alles war verdorrt. Nur ein paar trockene, gelbe Blätter hingen an den Ästen und zitterten im Fahrtwind.

„Tut mir leid, was letztes Mal im Restaurant passiert ist. Das war mir ziemlich peinlich."

„Nicht der Rede wert", sagte Mo Ran. „Wie ist es Euch in letzter Zeit ergangen?"

Er bereute die Worte, kaum dass sie seinen Mund verlassen hatten. Ye Wangxi war nicht der Typ, der etwas sagte, selbst wenn es ihm schlecht ging. Natürlich lächelte er ein wenig und sagte: „Mir geht es gut, und Ihnen?"

„Ziemlich gut."

Die beiden standen sich nicht nahe. Mo Ran hatte ihn nur aufgesucht, weil er sich an die Sünden seines früheren Lebens erinnerte, Gewissensbisse hatte und mit eigenen Augen sehen wollte, wie es diesem noch lebenden Ye Wangxi ging. Aber jetzt, wo er mit ihm allein war, wusste er wirklich nicht, worüber er reden sollte. Mo Ran kannte viele von Ye Wangxis Geheimnissen, aber keines davon war ein geeignetes Gesprächsthema; er wusste nicht, was er sagen sollte.

Die beiden schlenderten eine Zeit lang schweigend umher. Ye Wangxi fragte: „Wie geht es Xia Sini?"

Mo Ran war einen Moment lang überrascht, dann kicherte er. „Ihr erinnert Euch noch an den Namen? Beeindruckend."

„Sein Name ist ziemlich einprägsam."

„Haha, das habe ich auch gedacht. Xia Sini ist auch hier, Ihr könnt ihn später sehen."

Ye Wangxi schien verwirrt zu sein. „Er ist auch hier? Aber... ich glaube nicht, dass der Sektenanführer ihn eingeladen hätte..."

„Ihr wisst noch nicht, wer Xia Sini wirklich ist, oder?", sagte Mo Ran lachend. „Dann lasst es mich Euch erzählen. Es ist eine lange Geschichte."

Und so erzählte er die Kette der Ereignisse, die dazu geführt hatten, dass Chu Wanning zu Xia Sini wurde. Ye Wangxi schaute eine Weile nachdenklich, dann seufzte er. „Mo-Gongzi kann sich glücklich schätzen, ihn als ihren Meister zu haben."

„Und die Rufeng-Sekte kann sich glücklich schätzen, Ye-Gongzi zu ihren Schülern zu zählen."

Ye Wangxi, ein wenig verlegen, antwortete mit einem weiteren kleinen Lächeln: „Mo-Gongzi ist zu freundlich."

Sie kamen an einer kleinen, Rot gestrichenen Pontonbrücke an. Der Weg hier bestand nur aus trockenen Ästen und verschrumpelten Blättern, aber dieser Ort war grün, mit hohen Bambushalmen, die stolz und unnachgiebig in Wind und Schnee standen. Das Wasser der Rufeng-Sekte war mit spiritueller Energie durchtränkt worden, um ein Einfrieren zu verhindern, und am Fuß der Brücke war das süße Plätschern von fließendem Wasser zu hören, das von zwei Hainen mit üppigem Grün umgeben war.

Als Mo Ran sich umdrehte, sah er Ye Wangxi mit niedergeschlagenen Augen, den Blick auf den glitzernden Bach gerichtet, dessen reflektiertes Licht über seine dunklen Pupillen tanzte. Er war immer noch derselbe Mensch, aber die neue Müdigkeit auf seinem Gesicht war nicht zu übersehen.

Nangong Sis Heirat war in der Tat zu, zu grausam für Ye Wangxi. Mo Ran fand, es plötzlich schwer zu ertragen. Er hatte das Gefühl, Chu Wanning vor sich zu haben, der so viel von sich gab, aber kaum einen Blick zurückerhielt.

„Ye-Gongzi, warum kommt Ihr nicht stattdessen zum Sisheng-Gipfel?", fragte Mo Ran.

„Was?"

Mo Ran hielt sich den Mund zu. Die Worte hatten sich in dem Moment, als sie über seine Lippen gekommen waren, zu ungestüm angefühlt, und er wusste sehr wohl, wie Ye Wangxis Antwort lauten würde. Er seufzte und sagte: „Es war nur eine unbedachte Bemerkung. Nehmt es mir nicht übel."

Ye Wangxi lächelte daraufhin. Früher hatte er ein hübsches, verführerisches Lächeln, sieben Teile Edelmut und drei Teile Anmut. Er war immer noch derselbe Mensch mit demselben Lächeln, aber seine Wangen waren jetzt eingefallen, und obwohl der Edelmut geblieben war, war die Anmut verkümmert und hinterließ zwei Lachen der Traurigkeit. Es war offensichtlich, dass er versucht hatte, sie zu verbergen. Aber trotz seiner Bemühungen war dieser Kummer zu tief, um ihn zu verbergen.

„Ist Mo-Xiong hier, um Leute für den Sisheng-Gipfel abzuwerben?", scherzte Ye Wangxi.

„Haha, natürlich. Aber Ye-Gongzi wird wahrscheinlich nicht anbeißen, also nehmt es einfach als Scherz."

„Mn, mein Yifu ist hier, also werde ich nicht gehen."

„Was habt Ihr dann vor?"

Schmerz blitzte in Ye Wangxis Gesicht auf, und ausnahmsweise hatte er keine Antwort parat. Was hatte er vor zu tun? Er wusste es auch nicht. Ye Wangxi fühlte sich wie eine Motte in Nangong Sis Flamme. Er konnte nicht anders, als sich von dieser Wärme anziehen zu lassen, selbst wenn sie zu seinem eigenen Ruin führte.

Aber Nangong Si wollte ihn nicht.

„Ich bleibe einfach hier in der Rufeng-Sekte und tue weiterhin das, was meine Pflicht ist", sagte Ye Wangxi mit einem schwachen Lächeln. „Diene dem Sektenanführer, diene Yifu, und später diene ich dem jungen Meister..." Er hielt inne, und seine Hände ballten sich zu Fäusten, deren Gelenke so blass wie jade waren.

Mo Ran war beunruhigt. Wie konnte Ye Wangxi den Rest des Satzes so ruhig sagen wie konnte er die nächsten Worte überhaupt sagen...

„Und diene der jungen Herrin."

Ye Wangxi senkte schließlich den Blick, als könne er es nicht länger ertragen. Aber nur für einen Augenblick. Dann hob er die Augen und sah Mo Ran auf seine sanfte, höfliche Art an. Er schaffte es sogar, sich ein Lächeln zu bewahren, während er in der bitteren Kälte des Winters stand, unverwüstlich wie der Bambus ringsum.

Ein plötzlicher Windstoß ließ den frisch gefallenen Schnee in den Bambushainen verstreuen.

In diesem Augenblick entschied Mo Ran: Nein, Nangong Si würde Song Qiutong nicht heiraten.

 

 

 

Erklärungen:

Seladon, auch Seladon-Keramik, ist ein nach seiner „seladongrünen“ (graugrünen) Glasur benanntes chinesisches Steinzeug des 9. bis 15. Jahrhunderts, das im Mittelalter vereinzelt auch nach Europa gelangte.

…eine Schale Reis, ein Messlöffel voll Wasser, in einer bescheidenen Gasse: Aus den Analekten des Konfuzius: „Eine Schale Reis, ein Messlöffel voll Wasser, in einer bescheidenen Gasse; andere hätten ein so hartes Leben nicht ertragen können, aber Hui ist trotzdem glücklich. Gelobt sei Hui!", der die Tugenden der Zufriedenheit mit einem einfachen Leben preist.

Xiao Ye-zi, 小叶子. Ye Wangxis Ye bedeutet Blatt, und dieser Kosename bedeutet wörtlich ‘kleines Blatt‘.

Eine Pontonbrücke (auch Schiffbrücke oder Schwimmbrücke) besteht aus einer Reihe von auf einem Gewässer schwimmenden Pontons, Schiffen, Booten oder anderen Schwimmkörpern, auf die ein Steg, eine Brückenfahrbahn oder in seltenen Fällen ein Gleis montiert ist.




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4 Kommentare:

  1. Mit dem Wissen was Mo Ran hat, kann man ohne schlechten Gewissen so ein Verhalten an den Tag legen. Sehr zum Leidwesen seines Onkels XD Aber all seine Taten aus seinem vorherigen Leben, holen ihn wieder ein. Wieder sieht er, wie falsch er damals gehandelt hat und will nun schauen, wie es den Leuten jetzt ergeht.
    Die Vergangenheit war wahrlich grausam. Jetzt mögen sie zwar am Leben sein und scheinbar keine Schuhe mögen XD Aber ganz gut scheint es nicht allen zu gehen. Und den Entschluss den Mo Ran zum Schluss fällt, lässt einen böses erahnen.

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    1. Xue Zhenyong ist, glaube ich von Mo Ran in gewisserweise Schrecklicheres gewohnt. Ich denke dabei nur an seine Zeit vor der der Widergeburt. Aber wenn am Ende des Sektenanführers wegen so etwas ein großes Theater macht, zeugt dies ganz deutlich von seinem mangelnden Charakter. Also wird diese Reaktion von Mo Ran für ihn keine Konsequenzen haben.
      Ich mag die Beziehung zwischen Ye Wnagxi und Xu Shualing, die wird aber noch näher beleuchtet werden, ebenfalls in diesem Abschnitt der Geschichte.

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  2. Armer Ye Wangxi, vermutlich war es ein Segen für ihn, als im letzten Leben Nagong Si früh gestorben ist und er dadurch nie in die Situation kam, dass seine Liebe nicht erwünscht ist, denn er ist doch in Nagong Si verliebt, es gab dazu so einige Andeutungen

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    1. Für Ye Wangxi war Nagong Sis Tod kein Segen, dies hat aber sehr viele tieferliegende Gründe, die ich aus Spoilergründen nicht nennen kann. Aber bei gewissen Andeutungen hast du recht und bei manchen nicht, doch bei welchen Andeutungen du falsch oder richtig liegst verrate ich nicht.

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