Kapitel 157 ~ Shizun, in meiner Hochzeitsnacht damals, habe ich tatsächlich ...

Mo Ran brachte ein zartes Armband hervor, das mit Perlen aus Ostmeer-Perlmutt und Xihe-Kristall vom Zhurong-Gipfel funkelte. Dass es sich um einen Luxusgegenstand handelte, war auf den ersten Blick zu erkennen.

„In Eurem Brief habt Ihr mich um den Mondkristall des Karpfendämons gebeten. Leider hat mein Cousin ihn bereits zur Verfeinerung eines Schwertes verwendet. Ich habe keine anderen Geschenke vorbereitet, aber ich habe sein Wasser-und-Feuer-Kristallarmband für Euch gekauft ‒ es sollte dir perfekt passen."

„Das ... das ist viel zu wertvoll; Qiutong kann es unmöglich annehmen ..."

„Es gibt doch sicher keinen Grund, ein Glückwunschgeschenk abzulehnen?" Mo Ran gluckste. „Außerdem hat dieser Armreif eine hemmende Wirkung auf die spirituelle Energie des Feuerelements, aber er ist nur für Damen geeignet. Wenn Ihr es in Zukunft an der Seite von Nangong-Gongzi tragt, sollte es auch seine spirituelle Kraft dämpfen. Es ist ein nützlicher kleiner Gegenstand."

Song Qiutong drehte ihren Kopf und sah Nangong Si an. Nachdem sie sein zustimmendes Nicken erhalten hatte, nahm sie den Armreif in beide Hände und verbeugte sich ehrerbietig. „Vielen Dank, Mo-Zongshi", sagte sie herzlich.

Die vier tranken ihren Tee und unterhielten sich eine Weile. Chu Wanning, der sich inzwischen sehr für Nangong Sis großen Tag interessierte, erinnerte ihn daran, die Hochzeitsvorbereitungen sorgfältig zu treffen und dafür zu sorgen, dass jedes Detail stimmte ‒ er wollte nicht, dass im letzten Moment noch etwas schiefging.

Nangong Si verschluckte sich an seinem Tee und warf die leere Tasse müßig in der Hand hin und her. „Zongshi, mach dir keine Sorgen. Ich schaue jede Nacht nach dem Rechten." Er grinste. „Ich bin jetzt erwachsen ‒ ich weiß, wo meine Verantwortung liegt. Erst gestern Abend habe ich festgestellt, dass in Qiutongs Robe eine Perle fehlte, und habe sofort jemanden beauftragt, das zu reparieren."

Als er von der Hochzeit sprach, schlich sich ein Hauch von Schüchternheit auf sein sorgloses Gesicht. Er blickte zu Song Qiutong hinüber und lächelte. „Qiutong wird wunderschön aussehen, wenn die Zeit gekommen ist.“

Diese Worte klangen in den Ohren von Song Qiutongs Ehemann aus einem früheren Leben. Mo Ran schenkte sich geistesabwesend eine neue Tasse Tee ein. Natürlich wusste er, dass Song Qiutong außergewöhnlich schön war, eine unvergleichliche Schönheit ‒ aber was solls?

 

Damals hatte Taxian-Jun in einer Zeremonie auf dem Xuying-Gipfel die erste Kaiserin der Kultivierungswelt geheiratet. Die Kerzen mit dem Phönixmuster brannten hell in der Nacht der großen Hochzeit, aber Mo Ran verbrachte sie nicht im Brautgemach. Er hatte an diesem Abend zu viel getrunken. Inmitten des dunstigen Scheins der roten Kerzen und der verschwommenen Hochzeitsschleier neigte er das errötete, schüchterne Gesicht seiner neuen Braut und starrte darauf hinab.

Es war üblich, dass die Menschen an wichtigen Meilensteinen Reue empfanden. Der Lauf der Zeit überspülte sie, und sie erkannten, dass sich die Welt vor ihren Augen verändert hatte. Auch dieser Mann, der sich selbst als Taxian-Jun bezeichnete, war keine Ausnahme. Er hatte plötzlich das Gefühl, dass nichts wirklich war. Sein Blick schien den bezaubernden scharlachroten Nebel um ihn herum zu durchdringen und auf einen windgepeitschten Schneehimmel von vor vielen Jahren zu fixieren. Als er nur Lumpen hatte, die ihn vor den eisigen Winden schützten ... Als er am Rande des Todes stand, weil er am Verhungern und Verdursten war, und sich jemand seiner erbarmte und ihm eine Schüssel Reisbrei hinhielt, damit er ihn verschlingen konnte ...

Als er zum ersten Mal auf dem Sisheng-Gipfel ankam, besorgt und verängstigt ... Als er sich auf die Zehenspitzen stellte, um die Hai-Tang-Blüte unter dem rundbäuchigen Mond zu pflücken ... Als er vor Chu Wanning kniete und die Weidenranke auf seinen Körper niederschlug ...

Hatte er sich jemals vorgestellt, dass er eines Tages die Kultivierungswelt niedertrampeln und über alles unter der Sonne herrschen würde?

„Ehemann, worüber denkst du nach?" Die zinnoberroten Lippen seiner Braut spitzten sich, und ihr Blick verweilte auf ihm. Sogar ihr Ausatmen war süßlich, so süß wie die Position, in die er heute aufgestiegen war. Er schien alles zu haben. Eine Schönheit, Status, Macht ... Was blieb ihm noch, um unzufrieden zu sein?

Er konnte nicht eine einzige Sache nennen. Und doch fühlte er sich hohl, als stünde er auf dem kühlen Gipfel vor einem Meer von niedergeschlagenen Gesichtern, die alle trüb und undeutlich waren. Er drängte sich durch diese albernen Gestalten, die ihn mit Lob und Bewunderung überschütteten, die sich vor ihm niederwarfen und ihm zu Füßen lagen und deren Gesichter nicht voneinander zu unterscheiden waren. Eine Stimme rief ihm zauberhaft zu, zart wie die Blütenblätter einer Pfingstrose. „Ehemann ... Mein Ehemann ..."

Er fühlte sich angewidert. Er wollte vor diesen wogenden Wellen von Kriechern fliehen, aber der zuckersüße Klang dieser Stimme umgab ihn wie Sirup.

Ohne Vorwarnung schubste er Song Qiutong weg. Seine schöne neue Braut war dieser groben Behandlung nicht gewachsen; sie sackte auf das mit Drachen und Phönixen geschmückte Bett im scharlachroten Brautgemach, Gold- und Silberschmuck klirrte in ihrem Haar.

Gefangen in dieser Fata Morgana aus glitzernden Juwelen erschien Mo Ran alles verzerrt, unwirklich. Der schimmernde goldene Schein war wie das Höllenfeuer, die leuchtend rote Kerze wie Tränen aus Blut. Er fühlte sich abgestoßen, aber er wusste nicht, wer ihn abstieß ‒ war es Song Qiutong? Oder war es diese Version seiner selbst, die sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hatte?

Er stürzte aus der Tür.

Am Tag von Taxian-Juns großer Hochzeit wurde die Kaiserin Song Qiutong im Brautgemach zurückgelassen, als Mo Ran, von Kopf bis Fuß in Gold und Rot gekleidet, die Tür zum Roten-Lotus-Pavillon aufstieß. Der Bräutigam von Song Qiutong trat ein, und nach einiger Zeit erloschen die Kerzen im Pavillon; er blieb die ganze Nacht über.

Erst in der Abenddämmerung des zweiten Tages, als Xue Meng auf den Sisheng-Gipfel stürmte, um Unruhe zu stiften, öffnete Mo Ran träge die Tür, richtete seine unordentlichen Kleider und schlenderte in die Haupthalle hinüber, wobei sein Gesicht von einer sündigen Zufriedenheit erfüllt war.

Niemand außerhalb der Mauern des Roten-Lotus-Pavillons würde je erfahren, was in dieser Nacht geschehen war.

 

Nachdem sie sich von Nangong Si und Song Qiutong verabschiedet hatten, kehrten Chu Wanning und Mo Ran Seite an Seite in den Gäste-Innenhof zurück.

Mit vorsichtig neutraler Stimme ergriff Chu Wanning das Wort. „Als Nangong vorhin sagte, Song Qiutong sei schön, warum hast du sie da so angestarrt?"

„Ich habe daran gedacht, wie sie in einer Hochzeitsrobe aussehen würde", sagte Mo Ran.

Chu Wanning wurde plötzlich von einer Welle der Eifersucht überrollt. Er schüttelte seine Ärmel aus und sagte eisig: „Lächerlich. Wer hat dir gesagt, dass du dich mit der Braut eines anderen beschäftigen sollst?"

Mo Ran lachte. „Wer sagt denn, dass ich mich mit ihr beschäftige? Ich dachte nur, egal wie sie in der Hochzeitsrobe aussieht, sie würde nicht halb so schön aussehen wie Shizun."

Chu Wanning brachte keine Antwort zustande. Er war darauf vorbereitet, seinem Ärger Luft zu machen, aber stattdessen hatte ihm ein kleiner Wolfswelpe die Handfläche abgeleckt und ihn damit überrumpelt. Sein Gesicht wurde erst weiß, dann rot, und er konnte mehrere Sekunden lang kein Wort herausbringen. Schließlich fuchtelte er mit den Ärmeln und schnauzte: „Erwähne nie wieder diese lächerliche Geisterzeremonie."

Mo Ran seufzte vor sich hin. Es ist ja nicht so, dass ich es erwähnt hätte ‒ du bist derjenige, der gefragt hat. Ich will dich nicht anlügen. Wenn ich dir sage, wie gut du aussiehst, wendest du deine ganze Wut gegen mich. Aber selbst wenn du wütend bist, fühlt es sich süß an. Wenn ich daran denke, wie ich dich verloren habe ... Chu Wanning, du könntest mich ein Leben lang mit aller Macht zurechtweisen, und es wäre immer noch so, als würde ich in einem Glas Zucker baden ...

Was soll ich tun? Ich kann nicht anders, als mich nach dir zu sehnen.

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Die Zeit verging wie im Fluge, und schon bald kam der Vorabend von Nangong Sis Hochzeit. In der Rufeng-Sekte wimmelte es von Gästen, die von überall her angereist waren: Anführer und junge Meister der großen Sekten, wandernde Kultivierer der Jianghu und sogar einige reiche Kaufleute ohne jegliche spirituelle Fähigkeiten. Alle, die bis jetzt gewartet hatten, drängten sich vor den Toren der Gastgeberstadt. Kutschen und Pferde wogten durch das Gedränge hindurch, ihre Hauben wogten wie Wolken. Ein endloser Strom von Männern und Frauen, die von Kopf bis Fuß in Schmuck gekleidet waren, strömte in die Stadt, bis die Hauptallee der Rufeng-Sekte dem fließenden silbernen Fluss der Milchstraße glich, in dem das Licht auf ihrer Seide und ihren Juwelen glitzerte.

Xue Mengs Vater hatte ihn in die Stadt geschleppt, um eine gleichaltrige Kultivierern zu treffen.

„Wang-Xianjun, lange nicht gesehen! Es ist mir eine Freude. Aiya, ist das die kleine Mantuo? Sie ist jetzt ganz erwachsen, wie hübsch. Komm, Xue Meng, komm her und grüße Wang-Bobo."

Xue Meng schlich sich widerwillig heran. „Hallo, Wang-Dabo", platzte er heraus.

Xue Zhengyong verpasste ihm einen Schlag auf dem Kopf. Er lächelte weiter und murmelte mit zusammengebissenen Zähnen: „Es heißt Wang-Bobo, nicht Wang-Dabo. "

„Ha ha ha, ist schon gut, ist doch alles dasselbe. Der Liebling des Himmels ist hübsch wie erwartet, das Ebenbild von dir, alter Xue. Ein Glückspilz!"

Nach weiteren Worten wurde Xue Meng gezwungen, mit der "kleinen Mantuo" einen Spaziergang durch den Garten zu machen. Die kleine Mantuo war in diesem Jahr sechzehn Jahre alt, aber so viel zu "Sweet sixteen“; ihr Verhalten war ausgesprochen eisig. Nachdem sie einige Zeit Seite an Seite mit Xue Meng gegangen war, erklärte sie: „Sicherlich versteht Xue-Gongzi, was unsere Ältesten beabsichtigen, wenn sie uns so zusammenschieben."

„Mn."

„Erlaube mir, offen zu sein: Ich gehe mit dir spazieren, aber ich mag deine Persönlichkeit nicht, Xue-Gongzi. Also komme nicht auf dumme Gedanken."

„Oh ... Moment mal, was?" Verblüfft blieb Xue Meng mit aschfahlem Gesicht stehen und starrte die kleine Mantuo an.

Die kleine kokette Frau hob ihr Kinn und schielte Xue Meng hochmütig und abweisend an. „Mein Herz gehört mir", sagte sie kalt. „Selbst wenn du dich in mich verliebt hast ..."

„Bist du verrückt?" Xue Meng explodierte. „Ich?" Er tippte sich ungläubig mit dem Finger auf die Brust. „Verliebt in dich?"

„Warum sonst würdest du mich in diese kleine Gasse führen? Liegt es nicht an deinen widerwärtigen Absichten?"

Xue Mengs Jähzorn entbrannte. „Du hättest mir sagen sollen, dass dein Gehirn voller Löcher ist!" Wutentbrannt und mit blitzenden Augen stammelte er: „Ich mag dich? Ich mag dich? Ich‒"

„Warum musst du so oft sagen, dass du mich magst? Perversling!" Die kleine Mantuo war eine prinzipientreue junge Dame. Sie stampfte mit dem Fuß auf, hob den Kopf und verpasste Xue Meng eine schallende Ohrfeige.

Xue Meng war so wütend, dass die Welt aus den Fugen geriet; nachdem er von dieser zarten Hand grundlos geohrfeigt wurde, war er bereit, Blut zu spucken. Wären da nicht die wiederholten Ermahnungen von Frau Wang gewesen, den Frauen ihren Willen zu lassen, hätte er die junge Frau wahrscheinlich zu Boden gestoßen und sie grün und blau geschlagen.

Genau in diesem Moment erschien in einiger Entfernung ein Mann mit blassen Augen und einem majestätischen Profil. Als die kleine Mantuo ihn erblickte, blieb ihr der Mund vor Unglauben offen stehen und ihre Augen quollen über vor Tränen. „Mei-Gongzi!", rief sie schüchtern, bevor sie sich auf den Mann stürzte.

Bei dem Neuankömmling handelte es sich um Mei Hanxue, der offensichtlich nicht damit gerechnet hatte, in einer so obskuren kleinen Gasse jemanden zu treffen. Er war verblüfft, und als er die kleine Mantuo mit voller Wucht auf sich zukommen sah, hob er die Hand, um sich zu verteidigen. Das überrumpelte Mädchen rannte kopfüber in eine eilig herbeigezauberte, mit Blitzen gespickte Barriere. Mit einem Schreckensschrei stürzte es zu Boden.

Mei Hanxue machte keine Anstalten, ihr aufzuhelfen. Er sah zu Boden und runzelte die Stirn. „Fräulein, ich fürchte, Sie verwechseln mich mit jemand anderen."

„Unmöglich! Wie kann das sein ... Du hast mir ein goldenes Gewürzsäckchen als Zeichen deiner Liebe versprochen! Du hast gesagt, du würdest immer an mich denken, seit du mich zum ersten Mal gesehen hast! Du hast gesagt, du würdest mich heiraten, sobald ich achtzehn bin! Hast du ... Hast du das vergessen?"

Mei Hanxue starrte sie an, wagte aber nicht zu antworten. „Mei-Gongzi ..."

„Du hast wirklich die falsche Person." Ohne ein weiteres Wort schüttelte Mei Hanxue den Kopf und schritt von dem weinenden Mädchen weg.

Als Xue Meng diese Szene beobachtete, fühlte er sich gleichzeitig wütend und bestätigt ‒ wütend über diesen dreckigen Schürzenjäger Mei Hanxue, der so tat, als würde er ein Mädchen nicht erkennen, sobald er seine Hose hochzog. Kein Wunder, dass dieser herzlose Schurke es nur bei solchen Gelegenheiten wagte, durch verlassene Hinterhöfe zu gehen.

Gleichzeitig fühlte er sich aber auch bestätigt. Es stellte sich also heraus, dass die kleine Mantuo ihr Herz an diesen Schurken Mei Hanxue gehängt hatte, der genau so war, wie sein Name besagte ‒ blümerant und eiskalt. Es heißt, dieser Schurke hat zwei Gesichter: eines, das er trägt, bevor er sich mit einer Frau einlässt, und eines danach. Die kleine Mantuo würde acht Leben lang verdammt sein, wenn sie sich in ihn verliebt hätte.

Als Mei Hanxue auf Xue Meng zuging, verengte er seine hellen Augen und warf Xue Meng einen Blick zu.

Was glaubst du, was du da siehst?, dachte Xue Meng. Warum starrt mich ein Idiot wie du an? Du bist berühmt dafür, ein schmutziger Spieler zu sein, während ich berühmt dafür bin, ein großer Krieger zu sein ‒ ich habe viel mehr Einfluss als Solche wie du.

Xue Meng hob hochmütig sein Kinn und starrte diesen Trottel Mei Hanxue von der Seite an. Er hatte vor, in dem Moment, in dem Mei Hanxue vorbeikam, sehr würdevoll und verächtlich zu schnaufen.

Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass Mei Hanxue vor ihm zum Stehen kommen und ihn kühl ansehen würde. „Warum ist dein Gesicht so geschwollen?", fragte er. „Das ist ein ziemlich eigenartiger Anblick, das kann man wohl sagen."

Xue Meng hatte keine Zeit, das arrogante „Hmpf!" zu unterdrücken, das wie ein durchgebrannter Wagen herauskam. Mei Hanxue beäugte ihn in der darauf folgenden peinlichen Stille. Xue Mengs Wangen wurden sofort heiß. Er wandte sich ab und schnauzte: „Das geht dich nichts an! Ich bin beim Gehen gestürzt!"

„Sei in Zukunft vorsichtiger wohin du trittst", sagte Mei Hanxue ruhig. „Es ist keine Kleinigkeit, sich mit so einem Gesicht von einem Sturz zu befreien."

Mit diesen Worten fegte Mei Hanxue davon und ließ Xue Meng für einige Sekunden wie angewurzelt stehen, bevor er wütend umherhüpfte. „Mei Hanxue! Du verdammter Mistkerl! Bleib sofort stehen! Ich werde es dir heimzahlen oder bei dem Versuch sterben!"

Xue Meng platzte vor Wut, die Ränder seiner Augen leuchtend rot, und stürzte so schnell hinaus, dass er jemandem frontal in die Brust lief. „Was zum Teufel!", schrie Xue Meng wütend. „Pass auf; bist du blind?"

Er sah auf und erblickte einen großen, charismatisch aussehenden Mann in Grün. Die Robe des Fremden war mit einem goldenen Pollia-Motiv bestickt, und sein Haar war mit der grünen Jade-Schmuckkrone von der Guyueye-Sekte hochgebunden. Sein gesenkter Blick wurde von langen, zarten Wimpern umrahmt. Als er aufblickte, schienen seine Augen den nebligen Regen von Jiangnan in sich zu tragen, eingebettet in ein Gesicht, das so fesselnd war, dass es einem die Seele rauben konnte.

Der Mann schob Xue Meng von sich und richtete sein Haar und seine Robe. Die Irritation stand ihm ins Gesicht geschrieben, während er mit schlanken Fingern die Falten in seinem Kragen glättete. In diesem Moment bemerkte Xue Meng den silbernen Ring mit dem eingravierten Xuanwupanzer an seinem Zeigefinger. Er starrte einen Moment lang ins Leere, dann rief er: „Jiang Xi?"

Der Sektenanführer von der Guyueye-Sekte, der reichste Mann unter der Sonne ‒ Jiang Xi!

Obwohl Jiang Xi etwa so alt war wie Xue Zhengyong, sah er aufgrund seiner Kultivierungsmethode aus, als wäre er noch in seinen Zwanzigern. Er war überaus wohlhabend und überaus schön ‒ zweifellos ein Liebling des Himmels, der von den Göttern bevorzugt wurde.

Beim spirituellen Bergwettbewerb war Jiang Xi der einzige Schwänzer unter den Anführern der zehn großen Sekten gewesen. Xue Meng hatte sich damals gefragt, wie dieser abwesende Mann wohl aussehen mochte. Jetzt, wo er seine vornehme und opulente Erscheinung sah, starrte Xue Meng ihn mit offenem Mund an.

Jiang Xis Miene war ruhig, doch sein Temperament war alles andere als das. „Ihr wagst es, einen Sektenanführer bei seinem Vornamen zu nennen?"

Xue Meng fühlte sich hundertmal mehr gedemütigt als bei Mei Hanxue. „Was, dürfen die Leute Euch nicht bei Eurem Namen nennen, wenn Ihr alt seid?", platzte er wütend heraus. „Müssen Euch alle mit ‚Zhangmen‘ anreden? Selbst Nangong Liu ist nicht so eingebildet wie Ihr!"

„Unverschämter Bengel!", donnerte Jiang Xi. „Wessen Schüler seid Ihr?"

„Warum sollte ich vor Euch Rechenschaft ablegen? Was glaubt Ihr, wer Ihr seid? Die Guyueye-Sekte mag ein Haufen Affen sein, die auf Eure Befehle hören, aber glaubt Ihr, dass sich alle so leicht Eurem Willen beugen? Auf keinen Fall würde ich es Euch sagen! Wenn Ihr mich fragt, seid Ihr nur ein ..."

„Meng-er!" Eine elegante Stimme ertönte.

Xue Meng klappte der Mund zu, während er sich von Jiang Xi löste und einen Blick hinter sich warf. Irgendwann war Frau Wang gekommen; vielleicht hatte sie Xue Mengs Unverschämtheit mitbekommen. Sie sah blass und nervös aus, als sie sich beeilte, ihren Sohn abzufangen. „Meng-er, sei still und komm hierher."

Xue Meng warf Jiang Xi noch einen wütenden Blick zu, bevor er seine Ärmel ausschüttelte und zu Frau Wang hinüberging. Er senkte ehrerbietig den Kopf. „Mama."

Jiang Xi war einen Moment lang still. Langsam drehte er sich um und verengte seine Augen, die trotz ihrer Schönheit ein bösartiges Licht ausstrahlten. Er warf einen distanzierten Blick auf die Mutter und den Sohn, die vor den weißen Wänden und schwarzen Fliesen standen, und verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. „Dann muss dies der Liebling des Himmels, Xue Zhengyongs kostbarer Sohn Xue Meng sein?"

Frau Wang blieb stumm.

Jiang Xis Wimpern zuckten, und er schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, strotzten sie nur so vor Verachtung. „Wahrlich, er ist ganz der Sohn von Xue Zhengyong, mit diesem Maß an Selbstdisziplin."

„Wer hat gesagt, dass du meinen Vater beleidigen darfst?!"

„Meng-er!" Frau Wang zerrte Xue Meng hinter sich her, bevor sie sich mit bleichem Gesicht förmlich vor Jiang Xi verbeugte. „Mein Sohn Xue Meng ist zu eigensinnig. Ich bitte Jiang-Zhangmen um Vergebung."

„Ha, Jiang-Zhangmen ..." Wie eine Viper genoss Jiang Xi diese Worte in seinem Mund, bevor er sie langsam herunterschluckte. „Das ist nicht schlimm. Er ist zur Hälfte von Shijies Blut, also könnte ich ihn in Anbetracht deines Dienstalters als Adoptivneffe betrachten ..."

„Wer will schon dein Adoptivneffe sein! Sieh dir dein eigenes hässliches Gesicht an und fahr zur Hölle!"

„Meng-er ..."

Mit einem kühlen Lachen starrte Jiang Xi Xue Meng an, dann wanderte sein Blick langsam zu Frau Wang. Frau Wang senkte den Blick und sagte: „Zhangmen, bitte machen Sie keine Witze. Ich bin schon lange keine Schülerin der Guyueye-Sekte mehr. Wie könnte man mich als Ihren Vorgesetzten bezeichnen?"

Nach einem langen Moment nickte Jiang Xi. „Nun gut." Er fuhr mit kalter Stimme fort: „Sehr gut, sehr gut sogar. Ich habe heute eine alte Freundin und ihren Sohn gesehen, und es war eine Erfahrung, die mir die Augen geöffnet hat. Was für ein schäbiger Ort der Sisheng-Gipfel sein muss ‒ eine schöne weiße Magnolie wurde mit Schlamm bespritzt."

Als er hörte, wie Jiang Xi seine Mutter direkt ins Gesicht beleidigte, schoss Xue Meng das Blut in den Kopf. Er stürzte rücksichtslos vorwärts. „Jiang Xi! Halt's Maul, verdammt! Ich werde dir das Maul zerreißen!"

Frau Wang, die ihn nicht zurückhalten konnte, konnte nur zusehen, wie die Situation immer mehr außer Kontrolle geriet.

Ein brillanter Feuerwerkskörper explodierte geräuschvoll in der Luft, und die Zeitmessungstrommeln dröhnten. Die Stimme des Zeremonienmeisters der Rufeng-Sekte ertönte mithilfe einer schallverstärkenden Technik über die zweiundsiebzig Städte hinweg: „An alle unsere geschätzten Gäste, wir bitten um die Ehre eurer Teilnahme am Willkommensfest, das heute Abend in der Poesiehalle beginnt ..."

Jiang Xi warf Xue Meng einen letzten eisigen Blick zu. Dann zupfte er an den Ärmeln, machte auf dem Absatz kehrt und verließ wutentbrannt die Halle.

 

 

 

Erklärungen:

Mit dem Ostmeer ist das ostchinesische Meer gemeint. Ich habe hier den chinesischen Beinamen weggelassen, da es sonst zu komisch klingt, wenn man in China vom ostchinesischen Meer spricht.

Xihe, 羲和, war eine Sonnen- und Kalendergöttin der chinesischen Mythologie. Sie war die Mutter von zehn Sonnen, die die Form von dreibeinigen Krähen hatten und auf einem Maulbeerbaum namens Fusang im ostchinesischen Meer lebten. An jedem Tag der traditionellen zehntägigen Periode () musste eine der Sonnenkrähen den Wagen von Xihe einmal um die Welt ziehen.

"Bobo" und "Dabo" sind beides allgemeine Ausdrücke für einen Mann, der älter ist als der eigene Vater, aber "Dabo" ist auch ein spezifischer Ausdruck für den älteren Bruder (Schwager) des Ehemanns, während "Bobo" sich speziell auf den älteren Bruder (Onkel) des Vaters beziehen kann. Der Gebrauch hier ist allgemein.

… blümerant und eiskalt: Der Nachname von Mei Hanxue bedeutet "Pflaumenblüte" und sein Vorname enthält das Wort "Schnee".




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1 Kommentar:

  1. Hier waren ja mal so einige Spannungen. Am besten war aber immer noch Chu Wanning, der eifersüchtig war und gleich Mo Ran zurechtweisen wollte, aber dieser nahm ihm sogleich den Wind aus den Segeln. XDD
    Aber diese kleine Göre... WTF stimmt mit der nicht? o.O Ich hab die Abweisung die sie dann kassiert hat, sowas von gefeiert. Da hat sie sich in den falschen verguckt. Aber bei diesem Verhalten was sie an den Tag gelegt hat, war ihr das hoffentlich eine Lektion. Xue Meng hat an diesem Tag wohl absolut kein Glück. An seiner Stelle hätte ich aber auch nicht den Mund gehalten. Irgendwo hat es auch seine Grenzen, vor allem als Jiang Xi noch seine Mutter beleidigt hat. Was für ein arroganter Arsch O.o

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