Chu Wanning und Mo Ran verbrachten die Nacht im selben Raum. Mo Ran schlief im Handumdrehen auf dem Boden ein. Im Verborgenen waren Chu Wannings Gedanken unruhig und sprunghaft, und er wälzte sich lange hin und her, bevor er schließlich in einen unruhigen Schlummer eindöste.
Seine Augen waren geschlossen und er konnte das Heulen des Windes an
seinen Ohren hören.
Chu Wanning öffnete die Augen und stellte fest, dass er im Schnee
kniete. Ein Traum? Warum fühlte sich dieser Moment dann so real an, als hätte
er ihn irgendwann tatsächlich erlebt?
Es war mitten im Winter. Der Himmel war dunkel und grau und voller
Wolken, die das Land bedeckten und sich bis zum fernen Horizont erstreckten.
Der Schnee hatte sich bis zu seinen Knöcheln aufgetürmt und den Boden selbst
gefrieren lassen, und selbst der dicke Umhang, der über seine Schultern
drapiert war, konnte den Biss des Winters nicht abwehren.
Als er nach unten blickte, sah er einen himmelblauen, mit Fell
gefütterten Umhang, der mit komplizierten Mustern aus Silberfäden genäht war.
Es kam ihm irgendwie bekannt vor, aber von einem Moment auf den anderen
verschwand dieses Gefühl.
Chu Wanning versuchte aufzustehen, unsicher, warum er diese Art von grauenvollen
Traum hatte. Aber es war, als wäre sein Körper nicht sein eigener. Er kniete
weiterhin bewegungslos auf dem Boden.
Selbst als Schnee seine Schultern bedeckte und Eis an seinen Wimpern
klebte, zeigte sein Körper immer noch nicht die Absicht, sich zu bewegen.
Hinter ihm erklang die zitternde Stimme einer älteren Person. „Chu-Zongshi,
es wird wieder dunkel. Seine kaiserliche Majestät will Sie heute sicher nicht
sehen ‒ lasst uns zurückgehen."
Der Chu Wanning im Traum drehte sich nicht um, und selbst als sich
Schritte näherten, knirschte der Schnee, und ein Regenschirm erschien über ihm.
Chu Wanning hörte sich sagen: „Danke, Liu-Gong. Ihr werdet älter, also
geht bitte zurück zum Pavillon. Ich werde hier schon zurechtkommen."
„Zongshi ..."
Die ältere Stimme schien weitermachen zu wollen, aber Chu Wanning sagte:
„Geht zurück.“
Die schwache Stimme seufzte, und schwere Schritte gingen ein paar
Schritte entfernt. Dann drehten sie sich wieder um und der Regenschirm erschien
über seinem Kopf. „Dieser Alte wird Zongshi Gesellschaft leisten."
Chu Wanning fühlte, wie sich seine Augen im Traum schlossen, und es
wurde nichts weitergesagt.
Es kam ihm alles so seltsam vor, dieser lächerliche Traum von ihm. Die
Worte, die sie sagten, waren absurd, unverständlich. Was war dieser ganze ‘Seine
kaiserliche Majestät‘- und ‘Liu-Gong‘-Unsinn. Diese verborgenen Palastphrasen
hatten keinen Platz in der Kultivierungswelt, die Chu Wanning kannte.
Er versuchte, seine Szenerie des Traums durch die gesenkten Wimpern
dieses Körpers war zunehmen. Der Ort sah aus wie der Sisheng-Gipfel, aber
einige Dinge waren anders.
Die Struktur war mehr oder weniger gleich, aber sie waren viel aufwendiger
dekoriert. Die Korridore rund um den Hof waren mit blassvioletten Schleiern
bedeckt, auf die gestickte Sterne gesprenkelt waren, und von den Dächern
baumelten Glocken in Form von Drachen mit Perlen in der Hand. Achteckige
Weihrauchglöckchen tanzten leise durch die Luft, wann immer ein Windstoß vorbeiwehte.
Er kniete vor der Haupthalle, vor der eine Reihe Wachen postiert waren,
die Uniformen trugen, die er noch nie zuvor gesehen hatte. Er fragte sich,
welcher Sekte sie angehörten.
Der Himmel verdunkelte sich allmählich, und eine Reihe von Palastmädchen
mit traditionell hochgestecktem Haar traten aus einer Seitentür hervor, um mit
ihren schönen, schlanken Händen die Stehlampen auf beiden Seiten des Palasttors
anzuzünden. Jede Lampe war so groß wie ein Mensch und bestand aus neun Reihen, jeder
Reihe hatte neunundvierzig haitangförmige Lampen, die an schlanken
Kupferzweigen hingen. Die Kerzen in der Mitte der Hai-Tangs leuchteten hell,
ihr Licht streute auf dem Boden wie der Sternenhimmel von oben und erleuchtete
die Vorderseite des Palastes mit einem strahlenden Glanz.
Als sie mit ihrer Aufgabe fertig war, warf die oberste Zofe Chu Wanning
einen bösen Blick zu. „Es ist heute Abend eiskalt hier draußen“, sagte sie mit
boshafter Stimme und einem kalten Grinsen. „Für wen führst du diese ehrwürdige
Nummer auf? Seine kaiserliche Majestät und die Kaiserin erfreuen sich derzeit
an ihren Festlichkeiten. Du kannst dort so lange knien, wie du möchtest. Niemand
wird sich darum kümmern."
Wie unverschämt!
In Chu Wannings Leben hatte sich nie jemand getraut, so mit ihm zu
sprechen. Er öffnete wütend den Mund, aber obwohl die Stimme, die herauskam,
seine eigene war, waren es die nicht die gesprochenen Worte. „Ich möchte ihn in
seiner Freizeit nicht stören, aber ich habe wirklich wichtige Angelegenheiten
zu besprechen. Bitte informieren Sie ihn.“
„Was denkst du, wer du bist? Warum sollte ich die Botin für dich
spielen?“ Die oberste Zofe lächelte höhnisch. „Seine Majestät und die Kaiserin
amüsieren sich sehr. Wer würde es wagen, sie zu stören? Wenn du Seine Majestät
wirklich sehen willst, kannst du gleich dortbleiben. Vielleicht wirft er dir
morgen früh einen Blick zu, hmpf."
Der alte Diener hinter Chu Wanning konnte es nicht mehr ertragen, und er
sprach mit seiner schwankenden Stimme: „Ja, Seine Majestät bevorzugt Eure
Herrin, aber sollten Sie nicht trotzdem überlegen, mit wem Sie sprechen? Seien
Sie zumindest vorsichtig mit ihren Worten."
„Zu wem ich spreche? Wer hier auf dem Sisheng-Gipfel weiß, nicht, dass
Seine Majestät ihn mehr hasst als irgendjemand anderen? Wozu sollte man ihm
gegenüber respektvoll sein?! Mutig von dem senilen alten Narren, mich zu
belehren!“ Die Augen der obersten Zofe waren vor Wut geweitet, als sie:
„Wachen!“, rief.
„Was wollt Ihr tun?!" Der schwache alte Mann, dessen Rücken vom
Alter gebeugt war, trat vor, um Chu Wanning hinter sich abzuschirmen.
„Löscht die Feuerbecken“, sagte die Palastzofe schüchtern, während sie
ihn anblaffte.
„Sofort!"
Die Wachen gingen sofort zu den Becken im Hof und löschten die darin
brennenden Feuer.
Chu Wanning dachte bei sich, dass die Zofe zwar eine scharfe Zunge
hatte, aber nicht dumm war. Bei dieser schmerzhaft kalten Temperatur hatte sie
keinen Grund, mit ihnen zu streiten oder irgendetwas direkt anzusprechen. Sie
musste nur das Feuer löschen, und der Hof wäre wie eine eisige Höhle, zu kalt,
selbst für den härtesten Menschen, um es zu ertragen.
Die Nacht wurde tiefer, und aus dem warm erleuchteten Palast drang Musik
ohne Unterlass.
Chu Wanning kniete immer noch. Seine Beine waren schon vor langer Zeit
taub geworden, kurz vor dem Tod. „Bitte gehen Sie zurück ‒ Ihr Körper kann das
nicht ertragen. Sie wissen, wie seiner Majestät ist. Wenn Sie krank werden,
wird er wahrscheinlich nicht einmal einen Arzt schicken. Sie müssen auf sich
aufpassen."
„Dieser zerstörte Körper ist kaum etwas wert“, sagte Chu Wanning leise.
„Wenn ich ihn davon abhalten kann, den Kunlun-Taxue-Palast anzugreifen, bin ich
bereit zu sterben.“
„Zongshi! W-warum geht Ihr so weit..."
Der Chu Wanning im Traum war bereits stark geschwächt. Er hustete ein
paar Mal, aber seine Augen waren klar und strahlend. „Alles, was er heute ist,
alles ist meine Schuld. Ich..."
Er konnte nicht zu Ende sprechen, bevor er von einem erschreckend
heftigen Hustenanfall übermannt wurde. Chu Wanning bedeckte einen Mund mit
seinem Ärmel und schmeckte Eisen in seiner Kehle. Als er seine Hand wegzog, war
sie voller Blut, purpurrot gegen die schneeweiße Welt.
„Chu-Zongshi!"
„Ich..."
Chu Wanning schwieg, wollte etwas sagen, aber Schwarz überflutete seine
Sicht und er brach im Schnee zusammen, unfähig, länger durchzuhalten.
An seinem Ohr ertönte ein verwirrter Lärm, ein plötzliches Chaos. Es
schien auch sehr weit weg zu sein, als wäre er durch Nebelschichten, Ozeane
davon getrennt, und er konnte die Aufregung um sich herum kaum hören.
Verwirrt hörte er den alten Diener panisch schreien, aber er konnte nur
ein paar Wortfetzen verstehen.
„Eure kaiserliche Majestät! Eure kaiserliche Majestät, bitte…
Chu-Zongshi, er kann nicht mehr lange durchhalten. Bitte gewähren Sie ihm eine
Audienz! Dieser Alte wird gerne sterben‒“
Die Störung wuchs und breitete sich aus. Von überall her kamen Schritte,
Lichter gingen an.
Die Melodie der Instrumente und die süßen Stimmen der Sängerinnen
verstummten abrupt. Die Palasttore schienen aufgerissen worden zu sein, und von
drinnen wehte ein Hauch warmer, duftender Luft. Chu Wanning fühlte, wie er
hochgehoben und in die Wärme der Palasthalle gebracht wurde. Eine große Hand
berührte seine Stirn und zuckte dann zurück, als hätte sie ihn gestochen.
Eine tiefe vertraute Stimme brüllte gefährlich: „Warum wurde dieser
Ehrwürdige nicht informiert?“
Niemand antwortete.
Der Mann war wütend und es gab ein lautes, krachendes Geräusch, als
etwas Schweres zerschmettert wurde. Er brüllte weiter, seine Stimme dröhnte wie
Donner in der Halle. „Versucht ihr, euch mir zu widersetzen? Er ist der Meister
des Roten-Lotus-Pavillons, der Shizun dieses Ehrwürdigen! Und keiner von euch
kam, um diesen Ehrwürdigen zu benachrichtigen, dass er draußen kniete? Warum
wurde dieser Ehrwürdige nicht informiert?!"
Jemand fiel mit einem dumpfen Schlag auf die Knie und zitterte am ganzen
Körper. Es war die oberste Palastzofe, die vorhin herumgeschlendert war. „Diese
Niedrige verdient den Tod. Diese Niedrige sah, dass Eure Majestät und die
Kaiserin guter Laune waren, und wagte nicht, Euch zu stören…“
Der Mann ging ein paar Mal zügig auf und ab, aber anstatt nachzulassen,
wurde seine Wut nur schlimmer. Seine schwarze, mit Gold besetzte Robe wogte wie
eine dunkle Wolke über den Boden, bevor er sich schließlich beruhigte, und als
er wieder sprach, war seine Stimme verzerrt. „Seine Konstitution ist schlecht.
Er kann die Kälte nicht ertragen. Dass du ihn im Schnee warten ließest, ohne
mich zu informieren, und sogar…sogar das Feuer im Hof löschtest…“
Seine Stimme zitterte vor Wut und er holte tief Luft, bevor er fortfuhr.
Die Worte, die er als Nächstes sprach, waren nicht laut, aber sein Ton trug
eine mörderische Aura, die die Anwesenden bis auf die Knochen erschauerte.
„Du wolltest ihn töten."
Die Zofe wurde blass vor Angst, ihr Kopf schlug wiederholt gegen den
Boden, bis ihre ganze Stirn blau und lila war, und ihre Stimme wurde höher
durch ihre zitternden Lippen. „Nein! Nein! Dieser Niedrige würde es nicht
wagen! Eure Majestät! Bitte habt Erbarmen, Eure Majestät!“
„Bringt sie zur Hinrichtung zur Plattform der Jugend und der Sünde."
„Eure Majestät! Eure Majestät‒"
Die schrille Stimme kratzte wie blutrote Nägel an der Innenseite seiner
Ohren, als die Traumlandschaft zu erzittern begann und unter ihrem entsetzten
Kreischen auseinanderfiel. Die Szene zerstreute sich und löste sich auf wie ein
Schneeflockentreiben.
„Hast du eine Ahnung, wie viel Mühe es diesem Ehrwürdigen gekostet hat,
ihn von den Toren des Todes zurückzuholen? Außer diesem Ehrwürdigen darf
niemand auch nur ein Haar auf seinem Kopf verletzen…“
Diese heisere Stimme war vollkommen ruhig, aber genau diese Ruhe
umrahmte den beängstigenden Wahnsinn darunter.
Chu Wanning spürte, wie diese Person näherkam und vor ihm stehen blieb.
Eine Hand umfasste sein Kinn.
Benommen öffnete er seine Augen und versuchte, ihn anzusehen. Unter dem
grellen, blendenden Licht sah er ein verschwommenes Gesicht mit kräftigen,
pechschwarzen Brauen, einer geraden Nase und Augen, dunkel wie der schwärzeste
Satin, mit einem schwachen lilanen Schimmer im Licht der Kerze.
„Mo Ran...?"
„Shizun!"
Rief ihm plötzlich eine Stimme in harter Schärfe zu.
Chu Wannings Augen flogen auf. Er lag noch immer im Gasthauszimmer,
draußen war es noch dunkel, und auf dem Tisch flackerte eine einzelne Kerze.
Mo Ran saß auf der Bettkante, eine Hand gegen Chu Wannings Stirn
gedrückt, die andere auf das Bett gestützt, und sah ihn besorgt an.
„Was habe ich …“ Chu Wanning fühlte sich völlig verstimmt. Dieser Traum
war viel zu real gewesen und für eine Weile konnte er sich nicht ganz aus
seiner Benommenheit befreien.
„Du hattest einen Albtraum. Du hast so sehr gezittert“, sagte Mo Ran,
als er seine Decke um ihn zog. „Du sahst aus, als würdest du frieren. Ich war
besorgt, dass du Fieber bekommen könntest, aber das hast du zum Glück nicht.“
Chu Wanning stieß ein leises: „Oh“, aus und drehte sich um, um aus dem
leicht geöffneten Fenster zu schauen. Draußen war der Himmel noch dunkel, die
Nacht noch tief. „In meinem Traum hat es geschneit“, murmelte er und sagte dann
nichts mehr. Er setzte sich auf, vergrub sein Gesicht in einer Hand und
brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen, bevor er langsam ausatmete. „Muss
wohl übermüdet gewesen sein."
„Ich werde dir einen Ingwertee machen." Mo Ran betrachtete besorgt
die Blässe seines Gesichts. „Shizun, du siehst schrecklich aus."
Chu Wanning antwortete nicht.
Angesichts dieser fehlenden Antwort seufzte Mo Ran und drückte, ohne
wirklich nachzudenken, instinktiv seine eigene Stirn gegen Chu Wannings kalte,
schweißnasse Stirn. „Wenn du nichts sagst, werte ich das als ‘Ja‘.“
Aufgeschreckt von der plötzlichen Nähe lehnte sich Chu Wanning
reflexartig ein wenig zurück. „Mn."
Mo Ran, ebenfalls nicht ganz wach, streichelte Chu Wanning beiläufig
übers Haar, wie er es in seinem früheren Leben getan hatte. Dann zog er seine
äußere Robe an und ging in die Küche. Kurze Zeit später kam er mit einem
Holztablett zurück.
Mo Ran war nicht herzlos. Chu Wanning war zu den Pfirsichblütenquellen
geeilt, um ihn zu retten, und hatte auch große Anstrengungen unternommen, um
ihn zu beschützen. Egal, wie viel Groll er dieser Person zuvor gegenüber hegte,
für den Augenblick war er dankbar.
Auf dem Tablett stand eine Kanne mit dampfendem Ingwertee und ein
kleiner Krug mit braunem Zucker. Mo Ran wusste, dass Chu Wanning zwar keine
Dinge mit übermäßig starkem Geschmack mochte, aber er liebte Süßspeisen sehr.
Neben dem Ingwertee hatte er auch einen Mantou aus der Küche, den er in
dünne Stücke geschnitten, in frischer Milch eingeweicht und dann knusprig
angebraten, bevor er ihn mit einer Prise Zuckerpuder verfeinerte hatte, um
einen Teller mit einfachen Snacks zu erhalten.
Die Farbe kehrte allmählich in Chu Wannings Gesicht zurück, als er eine
Tasse Ingwertee in beiden Händen hielt und langsam daraus nippte. Er nahm ein
Stück des süßen, knusprigen Mantou zwischen seine porzellanweißen Fingerspitzen
und betrachtete es eine Weile. „Was ist das?"
„Ich habe gerade etwas zusammengewürfelt. Es hat noch keinen Namen."
Mo Ran kratzte sich am Kopf. „Versuch es, Shizun. Es ist süß.“
Chu Wanning mochte keine frittierten Speisen, weil er sie für fettig
hielt, aber als er die Worte ‘süß‘ hörte, hielt er eine an seine Lippen und
nahm zögernd einen kleinen Bissen. „Mm ..."
„Ist es gut?", fragte Mo Ran versuchsweise.
Chu Wanning warf ihm einen Blick zu und sagte nichts,
aber er nahm ein weiteres Stück, um es mit dem Ingwertee zu essen.
Die Kanne mit dem Tee und der Teller mit Snacks verschwanden schnell und
in dieser Wärme lösten sich auch die Überreste des Albtraums wie Rauch auf. Chu
Wanning gähnte und legte sich wieder hin. „Ich gehe wieder schlafen."
„Warte kurz." Mo Ran hob seine Hand, um Chu Wannings Mundwinkel
abzuwischen. „Du hast da ein paar Krümel."
Chu Wanning antwortete nicht. Das offene Lächeln auf Mo Rans Gesicht
ließ seine Ohren gegen seinen Willen ein wenig warm werden. Er wandte sein
Gesicht mit einem leisen zustimmenden Laut ab und schenkte ihm keine Beachtung
mehr.
Mo Ran sammelte das Geschirr ein und ging nach unten, um es
zurückzugeben. Als er zurückkam, sah er Chu Wanning auf der Seite liegen, mit
dem Gesicht zur Wand, vielleicht schon schlafend. Er ging hin und ließ leise
den Vorhang herunter, woraufhin Chu Wanning sprach. „Nachts ist es kalt. Schlaf
nicht mehr auf dem Boden."
„Sondern..."
Chu Wanning mit seinen gesenkten langen Wimpern wollte wirklich, dass Mo
Ran blieb. Die Worte ‘schlafe hier oben‘ kamen jedoch nicht heraus, selbst als
seine Ohrenspitzen immer wärmer und wärmer wurden.
Er kümmerte sich um Mo Ran und wollte daher nicht, dass er auf dem Boden
schlief, aber er mochte ihn auch und wollte nicht, dass er ging.
Chu Wannings Gesicht war schrecklich dünn, und er wusste nur zu gut,
dass er, wenn er es schaffte, die Worte herauszubringen, sicherlich
zurückgewiesen würde. Dann würden sowohl seine Fassade als auch seine Würde
verwirkt sein. Schon der Gedanke daran machte ihn erbärmlich. Als Xia Sini war
alles so viel einfacher gewesen. Die Kleinen durften etwas eigensinnig sein.
Bis jetzt war Mo Ran heute gut zu ihm gewesen. Er hatte sich sogar daran
erinnert, dass Chu Wanning viel braunen Zucker in seinem Ingwertee mochte. War
es akzeptabel, dass er dachte, dass Mo Ran sich vielleicht tatsächlich ein
bisschen um ihn sorgte?
Der Gedanke ließ Chu Wannings Brust warm werden, und in einem
hitzköpfigen Moment platzte er heraus: „Komm, schlaf hier oben.“
„Ich werde nachsehen, ob sie schon fertig sind, und wenn ja, werde ich
in mein eigenes Zimmer zurückkehren."
Chu Wanning und Mo Ran sprachen praktisch gleichzeitig. Mo Ran
verarbeitete die Worte seines Shizun nicht vollständig, bis er selbst zu Ende
gesprochen hatte. Dabei weiteten sich seine Augen leicht.
„Klingt gut“, stimmte Chu Wanning sofort zu, als ob er sich beeilen
wollte, um zu vertuschen, was er gesagt hatte. „Geh nur."
„Shizun..."
„Ich bin müde. Du kannst gehen."
„In Ordnung... Ruhe gut, Shizun."
Mo Ran ging, die Tür knarrte auf und wieder zu.
In der Dunkelheit öffnete Chu Wanning die Augen. Sein Herz raste in
seiner Brust und seine Handflächen waren mit Schweiß bedeckt, gedemütigt von
seinem Verlust der Selbstbeherrschung. Er war wirklich zu lange allein gewesen,
wenn er ein bisschen Freundlichkeit und Fürsorge irgendwie mit aufrichtiger
Zärtlichkeit verwechseln konnte. Wie ein Idiot.
Gereizt drehte er sich um und vergrub sein Gesicht in seinem Kissen, wo
er in einem bodenlosen Abgrund des Selbsthasses versank. Er war sich wohl
bewusst, dass Mo Ran Shi Mingjing mochte und dass nichts zwischen ihm und Mo
Ran war, außer der höflichen Distanz zwischen Meister und Schüler. Und doch...
Die Person von ihm tauchte ungebeten in seinen Gedanken auf.
Genau dasselbe Gesicht, nur älter. Die Art und Weise, wie er Chu Wanning
mit einem mürrischen Ausdruck und seinen Augen, die zu tief waren, um sie zu
lesen, angesehen hatte.
Mit einem Krachen öffnete sich die Tür wieder.
Chu Wanning erstarrte, sein ganzer Rücken wurde steif wie ein gespannter
Bogen.
Jemand kam zu seinem Bett. Es gab einen Moment der Stille, dann spürte
er, wie diese Person am Rand saß und den leichten Duft frisch gewaschener
Kleidung mit sich brachte. „Shizun, schläfst du?"
Keine Antwort.
Also fuhr Mo Ran fort, mit einer Stimme, als würde er über das Wetter
sprechen. „Du bist immer noch dabei." Er gluckste leise und legte sich
neben Chu Wanning, den Kopf in einen Arm gestützt, sein Blick schweifte über
Shizuns Rücken, der sich sehr offensichtlich und sichtbar um mehrere Grad
weiter anspannte. „Ist das Angebot von Shizun von vorhin noch gültig?"
Chu Wanning antwortete nicht.
„Shizun mag es sicher, Leute zu ignorieren. Wenn Shizun nichts sagt,
werte ich es wieder als ein ’Ja'.“
„Hmpf."
Mo Rans Augen leuchteten vor Vergnügen, lila-schwarz und flackerten vor
Belustigung, als das kalte hmpf von der anderen Seite des Bettes kam. Wenn es
seine Angewohnheit war, sich in Shi Mei zu verlieben, dann war das Necken
seines Shizun ein Spiel, dessen er nie müde wurde.
Er konnte nie herausfinden, was es mit Chu Wanning auf sich hatte.
Alles, was er wusste, war, dass diese Person sein Herz zum Jucken brachte, ihn
dazu brachte, seine Reißzähne zu zeigen und ihn zu beißen, bis er entweder
anfing zu weinen oder zu lachen ‒ obwohl beides größtenteils Wunschdenken war.
Aber immer, wenn dieses Gesicht, das stets kühl und teilnahmslos war,
wegen Mo Ran auch nur die geringste Regung zeigte, geriet er in helle
Aufregung.
„Shizun."
„Mn."
„Nichts hatte nur Lust, es zu sagen."
Chu Wanning machte sich nicht die Mühe zu antworten.
„Shizun."
„Wenn du etwas zu sagen hast, raus damit. Wenn nicht, halt die Klappe.“
„Hahaha." Mo Ran lachte, dachte dann plötzlich an nichts und fragte
halb im Scherz und halb ernst: „Ich dachte, dass Xia-Shidi und Shizun sich
wirklich unglaublich ähnlich sind. Shizun, ist er dein Sohn?“
Ein langes, langes Schweigen.
Chu Wanning hatte für eine Nacht viel zu viel emotionalen Aufruhr
ertragen müssen, und er war in einer missmutigen Stimmung. Als er sich
plötzlich über so etwas lustig machte, konnte er nicht anders, als sich
irritiert zu fühlen.
„Pfft, ich habe mich nur mit Shizun angelegt, macht dir‒“
„Ja“, antwortete Chu Wanning kühl. „Er ist mein Sohn."
Mo Ran grinste immer noch. „Oh, das habe ich mir gedacht. Er ist also
dein Sohn ‒ warte! Sohn?!" Mo Rans Augen flogen weit auf, als hätte ihn
ein Blitz getroffen, sein Mund stand ungläubig offen. „S-S-S-S-Sohn?!"
„Mn." Chu Wanning drehte sich herum und fixierte Mo Ran mit einem
starren Blick, sein Gesicht war durch und durch ernst, ohne die geringste Spur
von Scherz.
Chu Wanning hatte heute Abend zu viele Fehler gemacht und befürchtet,
dass seine Fassade nicht halten könnte. Wenn Mo Ran diesen Witz machen wollte,
konnte er genauso gut die Gelegenheit nutzen, um Verwirrung zu stiften. Chu
Wanning würde alles tun, um sicherzustellen, dass Mo Ran nicht bemerkte, dass
er ihn mochte.
Als Chu Wanning dies dachte, hob er ruhig die Stücke der Würde auf, die
er fallen gelassen hatte, und sagte mit aller Ernsthaftigkeit: „Xia Sini ist
mein uneheliches Kind. Selbst er weiß das nicht. Im Moment dies ist ein
Geheimnis, das den Himmeln, der Erde, dir und mir bekannt ist. Wenn eine dritte
Person es jemals herausfinden würde, würde ich dich endgültig erledigen."
Mo Ran war absolut, komplett, total stumm.
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Ich fühle so sehr mit Chu Wanning mit.
AntwortenLöschenDieser zerreißende Herzschmerz, jemanden zu mögen und es ihm aus Angst abgelehnt zu werden, lieber alles verschweigt.
Und Mo Ran der gegen jede Wand die er Erblickt rennt!
Danke für die tolle Übersetzung! Ness
Hallo Ness,
Löschenschön wieder von dir zu hören.
Chu Wannings Gefühle für Mo Ran und seinen Herzschmerz werden noch ganz andere Ebenen annehmen. Ich darf da aber leider nicht zu viel verraten wegen spoilern, aber es werden noch viele Tränen fließen- also bei mir sind die Tränen öfters und reichlich geflossen.
Aber das Mo Ran in der Hinsicht auf Chu Wanning so viel missversteht, hat auch seine ganz eigenen Gründe. Diese Gründe werden nach und nach aufgedeckt und man kann mehr und mehr nachvollziehen wie aus einem Mo Ran ein Taxian-Jun wurde.
Vielen Dank für deinen Kommentar und das Lesen dieser Übersetzung. So was erwärmt mir da Herz.