Kapitel 96 ~ Der Hass dieses Ehrwürdigen wurde in diesem Leben geboren

Es war kaum verwunderlich, dass Ye Wangxi Mei Hanxue verachtete. Dieser Mann war kein anderer als dieser ‘Da-Shixiong‘ aus den Pfirsichblütenquellen, um den sich unzählige weibliche Kultiviererinnen gerissen hatten und die eifersüchtig um seine Aufmerksamkeit buhlten.

Nangong Si hatte zunächst angenommen, dass es sich bei diesem Neuankömmling um eine mächtige Persönlichkeit handelte, aber es stellte sich heraus, dass er ein hübscher Junge war, der sich auf sein Aussehen verließ. Sein anfängliches Interesse verflog im Nu, und er wandte sich wieder dem Kampf zu, der gerade stattfand.

Mei Hanxue warf Xue Meng einen Blick zu, in dem ein Anflug von Verärgerung lag, aber er wagte es nicht zu antworten. Seine Brauen senkten sich und seine Finger tanzten über die Saiten der Pipa. Als seine Töne erklangen, verteilten sich die hundert Kultivierer des Taxue-Palastes in alle Richtungen. „Guqin-Abteilung, spielt das Lied von Alkaid. Pipa-Abteilung, führt den Annullierungstanz auf."

Auf seinen Befehl hin änderte das Ensemble seine Melodie. Eine Kaskade von Akkorden, kräftig und schnell gespielt, verschmolz zu einem schallenden Refrain, der die Wolken zerstreute. Sofort stellten die Horden dämonischer böser Geister ihre Kämpfe ein und blieben mit ausgestreckten Hälsen und hohlen Blicken auf ihren grässlichen Gesichtern stehen.

Als Li Wuxin dies sah, wurde er daran erinnert, dass die Mitglieder des Kunlun-Taxue-Palastes nicht nur Meister der Musik waren, sondern auch Meister im Flicken von Barrieren. Er hob den Kopf und rief erfreut: „Verehrter Neffe Mei, wisst Ihr zufällig, wie man den Himmlischen Riss repariert?"

Mei Hanxue ignorierte die geschmacklose Anrede des verehrten Neffen und antwortete: „Der Himmlische Riss der Unendlichen Höllen liegt jenseits meiner Fähigkeiten."

„Ah, dann..." Li Wuxins Gesicht erblasste, dann strich er sich über den Ärmel und seufzte heftig.

„Hanxue, was ist mit der Barriere um die Schmetterlingsstadt ‒ könntet Ihr sie aufhalten?", meldete sich Xue Zhengyong zu Wort.

Der Sisheng-Gipfel und der Taxue-Palast waren schon immer freundschaftlich miteinander verbunden gewesen, und Mei Hanxue verbeugte sich höflich, als sie einen vertrauten Älteren sah. „Ich kann es versuchen."

„Großartig!" Xue Zhengyong schlug die Hände zusammen. „Ihr geht und bewacht die Barriere in den Himmelsrichtungen, sorgt dafür, dass die Dämonen nicht entkommen, und ruft Yuheng zu‒"

„Der Yuheng Ältester?"

„Ah, mein verdammtes Gedächtnis, ich hatte vergessen, dass Ihr Yuheng noch nie getroffen habt. Macht Euch keine Sorgen, Ihr werdet ihn erkennen, wenn Ihr ihn sieht. Haltet einfach nach der Person Ausschau, die gerade die Barriere aufrechterhält."

„Verstanden." Mei Hanxue, kühl und gelassen, segelte mit einem Schwung seines Schwertes in Richtung Stadtrand, wie eine Sternschnuppe im Wind.

Nangong Si spannte drei Pfeile auf seinen Bogen und schoss sie in drei Richtungen auf einmal ab. Inmitten des Klimperns der Bogensehne sah er, wie Mei Hanxue mit Schnelligkeit und Anmut vorbeischoss, während die übrigen Schüler des Taxue-Palastes den Feind mit wohlklingenden Akkorden zurückdrängten. Er war selbst überrascht. „Diese Person scheint doch recht fähig zu sein", sagte er zu Ye Wangxi. „Warum hast du ihn einen hübschen Jungen genannt, der sich auf Frauen verlässt, um seine Schlachten zu schlagen?"

Ye Wangxi, der selbst etwas verwirrt war, hatte keine unmittelbare Antwort. Aber die bösen Geister bewegten sich jetzt nur noch langsam und boten eine ideale Gelegenheit, sie zu vernichten, also verschwendete er keine Zeit damit, darüber nachzudenken. „Vielleicht hat er damals nicht alles gegen mich unternommen", bot er an, wandte sich dann wieder dem Feind zu und sagte nichts mehr.

Da nun vier der zehn großen Sekten vor Ort waren, wurde der Kampf gegen den Himmlischen Riss etwas weniger aussichtslos. Aber der Kampf war immer noch erschütternd.

Obwohl die bösen Geister, die sich auf dem Boden befanden, durch die Akkorde des Taxue-Palastes bewegungsunfähig gemacht wurden, quollen mit jeder Minute mehr von ihnen schreiend und heulend aus dem blutigen Auge, das mit dem Geisterreich verbunden war. Die Truppen des Taxue-Palastes hatten sich in der Luft positioniert, aber sie konnten sich nicht verteidigen, während sie spielten. So stürzten sich die dämonischen bösen Geister auf die Pipa- und Guqin-Spieler, die zwischen den Wolken hingen.

Die Schüler des Taxue-Palastes hatten keine andere Wahl, als einige von ihnen abzulenken und ein Verteidigungslied zu spielen. Das Lied der Unterdrückung und des Exorzismus schwächte sich sofort ab, und die Massen von bösen Geistern auf dem Boden setzten ihren wütenden Ansturm fort. Schlimmer noch: Als sich die Pforte zum Geisterreich öffnete, verbrauchten einige hochrangige Dämonen genug Yang-Energie aus dem Reich der Sterblichen, um sich ihrer Fesseln zu entledigen und den Spalt zu durchqueren, wobei sie ihre Ketten und Fesseln hinter sich herzogen.

Diese Kreaturen waren nicht wie die kleinen bösen Geister, die ihnen vorausgegangen waren. Sie waren sowohl von ihren Leichen als auch von ihren verbitterten Seelen besessen und waren weitaus mächtiger und bösartiger als das, was ein durchschnittlicher Kultivierer allein bewältigen konnte. Im Handumdrehen wurden einige unglückliche Nachzügler mit einem einzigen Schlag zu Boden geschleudert, wobei ihre Brust von knöchernen Klauen durchbohrt wurde.

Blut spritzte mit einem nassen Platschen auf den Boden, als die hochrangigen Dämonen die Herzen der Kultivierer, die reich an spiritueller Energie waren herausrissen. Die Dämonen bissen gierig zu, rotes Blut strömte heraus und lief über das verrottende Fleisch in ihren Gesichtern. Bald waren ihre Münder blutig und hingen voller Blut, und die Dämonen wurden immer stärker, stürzten sich in die Menge und suchten wie Raubtiere nach ihrer nächsten Mahlzeit.

Die Hölle brach los.

 „Stellt Anordnungen auf und bildet Gruppen!", brüllte Xue Zhengyong. „Bleibt zusammen! Lauft nicht weg!"

Aber einige der Kultivierer waren bereits von der Angst überwältigt, rannten hysterisch umher und flohen schreiend und weinend in alle Richtungen. Der Gestank von Blut lag in der Luft, die dämonischen bösen Geister strömten wie eine Flut heran, und die Leichen der Toten türmten sich auf.

Nangong Si war vollkommen in den Kampf vertieft und ließ einen Pfeil nach dem anderen abfeuern, als ein erhängter Geist, dem die blutrote Zunge aus dem Maul baumelte, auf ihn zustürzte und sich an ihm festhielt. Er hob seine Klaue und zielte direkt auf seine Brust. Als Ye Wangxi sich umdrehte und es sah, wich die Farbe augenblicklich aus seinem sonst so ruhigen Gesicht. Er war zu weit weg. „A-Si!"

„Gongzi!" In letzter Sekunde sprang Song Qiutong mit ihrem Schwert vor und stach dem erhängten Geist in den Arm. Aber sie hatte noch nie einen Menschen getötet, geschweige denn so einen grässlichen bösen Geist. Die Angst überkam sie, und das Langschwert fiel ihr aus der Hand und klapperte auf den Boden.

Der erhängte Geist stürzte sich wütend auf sie. Nangong Si tauschte den Bogen gegen das Schwert aus und trat vor sie, um den Angriff abzublocken. „Geh weg von hier, schnell!"

Song Qiutongs Augen glitzerten vor Tränen. „Qiutongs Leben wurde von der Rufeng-Sekte gerettet. Sie kann unmöglich gehen..."

Nangong Si hatte wenig Erfahrung mit Frauen. Aber als er ihr zartes Auftreten und die Entschlossenheit in ihren Augen sah, hatte er das Gefühl, als würde sein Herz zusammengedrückt werden. Er fluchte leise vor sich hin. „Ye Wangxi! Ye Wangxi - komm verdammt noch mal her! Kümmere dich für mich um sie!"

Ye Wangxi war blutbespritzt, sein hübsches Gesicht war mit Schmutz und Dreck besudelt. Er legte eine Hand um Song Qiutongs Arm und sagte barsch: „Geh und such Qin-Shixiong und bleib bei ihm."

„Ich werde nicht gehen! Ich kann immer noch helfen!", flehte sie. „Junge Meister, ich möchte bei euch bleiben."

„Ye Wangxi, pass auf sie auf!"

Ye Wangxis Gesicht verfinsterte sich. Wie ein aufrechter Gentleman, der er war, zeigte selten solchen Zorn. „Nangong Si." Die Silben dieses Namens kamen zitternd und gebrochen heraus. „Du musst den Verstand verloren haben." Dann kehrte er den beiden anderen den Rücken zu, nahm sein Schwert und stürzte sich zurück in die wogende Masse der Untoten.

Hochrangige Dämonen tauchten immer wieder auf, und sie schnitten durch die Menge wie Dolche, die den Bauch eines Fisches aufschlitzen und ihm die Schuppen abziehen ‒ glitzernd und klebrig vor Blut, auf und ab.

Jeder war auf sich allein gestellt, als die bösen Geister die Lebenden umzingelten ‒ diese Kreaturen wollten nichts anderes, als jeden Einzelnen von ihnen zu verschlingen und in die Unendlichen Höllen zu zerren. Mo Ran, Xue Meng und Shi Mei kämpften Rücken an Rücken gegen die Dämonen auf allen Seiten, aber der Raum, den sie um sich herum gebildet hatten, schrumpfte schnell, als der Feind immer näher kam. Ein nasses Geräusch ertönte, als Xue Meng einem wilden Dämon die Arme abtrennte, und sein fauliges Blut spritzte mehrere Meter hoch in die Luft.

Die bösen Geister, die sie angriffen, erkannten sofort, dass Xue Meng eine Bedrohung darstellte, und kreisten stattdessen um Shi Mei. Shi Meis Hände formten einen Schutzschild, aber seine spirituelle Energie war schnell verbraucht, und die Helligkeit des Wasserlichtanornung vor ihm flackerte.

Bei diesem Tempo wusste Mo Ran, dass sie nicht mehr lange durchhalten würden. Er fasste einen Entschluss. „Shi Mei, baue ein Schildfeld auf. Xue Meng, du gehst rein."

„Was?" Xue Meng war sofort erzürnt. „Du sagst mir, ich soll eine Memme sein?!"

„Hör einfach auf mich und geh rein! Das ist nicht der richtige Zeitpunkt, um sich Gedanken darüber zu machen, wie du aussiehst! Sieh dich um ‒ glaubst du, wir können so viele Geister töten?!"

„A-Ran", sagte Shi Mei, „was wirst du tun?"

„Hör auf, Fragen zu stellen, tu einfach, was ich sage", Mo Ran milderte seinen Tonfall. „Es wird schon gut gehen."

Die Lichtung um sie herum zog sich weiter zusammen. „Schnell", drängte Mo Ran, „wir haben keine Zeit mehr."

Shi Mei hatte keine andere Wahl. Er passte sein Handsiegel an, um eine Schicht blauer Schutzschilde um Xue Meng und sich selbst zu errichten. Als er sah, dass die Anordnung vollständig war, zog Mo Ran den in seinem Ärmel verborgenen Pfeil heraus und schnitt ihn quer über seine Handfläche, dann besprengte er das Feld mit seinem eigenen Blut, um es mit seiner spirituellen Energie zu markieren. Mit finsterem Blick rief er mit leiser Stimme: „An die Arbeit!"

Jiangui flackerte bei seinen Worten hell auf. Die Waffe wuchs um mehrere Dutzend Meter in die Länge, jedes Blatt hing wie ein scharfer Dolch an der Weidenranke, während sie mit scharlachroter spiritueller Energie glühte. Mo Ran schloss die Augen und erinnerte sich an den Anblick von Chu Wanning, der seine Tötungstechnik entfesselt hatte. Als er sie wieder öffnete, spiegelten sich in seinen Augen die zahllosen grässlichen bösen Geister, die auf sie zukamen.

Er peitschte Jiangui hoch über seinen Kopf. Funken sprühten von der Ranke und regneten herab, während Mo Ran seinen Arm hochhielt und sein Ärmel vom Wind umgeschlagen wurde. In diesem Moment schien sich seine Silhouette mit der von Chu Wanning in seinem Kopf zu überschneiden, die beiden bewegten sich in perfekter Synchronität.

„Wind."

Ein gewaltiger Windstoß verwüstete das Land und rüttelte die Wolken auf, so dass sich der Himmel selbst nach unten zog.

Hinter Mo Ran sahen Xue Meng und Shi Mei zu, wie eine riesige Lichtanordnung scharlachrot erblühte wie ein roter Lotus aus der Hölle stieg und heftige Stürme den Boden wie formlose Klingen zerschnitten. Jiangui wirbelte herum und verschwamm in Mo Rans Hand. Staub und Trümmer wirbelten in die Luft, und die überwältigende Kraft zog die bösen Geister in den Strudel und zermalmte sie zu Hackfleisch. Chu Wannings weitreichende Tötungstechnik, Wind. Mo Ran konnte sie bereits so gut einsetzen...

Als sich der Sturm gelegt hatte, war die Gegend wie leer gefegt.

Als Mo Ran sich umdrehte, sah er die schockierten Gesichter von Xue Meng und Shi Mei. Aber ihm war nicht zum Feiern zumute. Er spürte nur, dass er noch lange nicht da war, wo er sein sollte. Wenn seine Kultivierungsstufe jetzt auch nur annähernd so hoch wäre wie früher, wäre ein Riss der Barriere im Geisterreich eine Kleinigkeit.

„Seht! Da drüben!" Plötzlich ertönte eine Stimme in der Ferne.

Alle hoben den Kopf und sahen mehrere Kontingente hoch am Himmel, die auf Schwertern von jedem Horizont heranritten, jede Gruppe in unterschiedlicher Kleidung und eingehüllt in unterschiedliche spirituelle Energien.

Es schien, als hätte die Öffnung des Himmlischen Risses der Unendlichen Höllen die Sekten des oberen Kultivierungsreich endlich zum Handeln angespornt. Ihre leuchtenden Schwerter schlugen einer nach dem anderen ein, ein massiver Zustrom von Verstärkung ‒ hier die anmutigen und charmanten Persönlichkeiten von der Regenbogeninsel, dort die feierlichen und würdevollen Mönche des Wubei-Tempels und so weiter. Schließlich hatten sich auch die zehn großen Sekten dem Kampf angeschlossen.

Immer stärkere Dämonen drangen in diese Welt ein wie ein endloser Heuschreckenschwarm. Aber mit dieser plötzlichen Unterstützung waren die Kultivierer auf dem Boden nicht mehr so unterlegen. Zur gleichen Zeit schlossen Mei Hanxue und Chu Wanning endlich den spirituellen Transfer ab, und die Farbe der Barriere, die in den Himmelsrichtungen der Stadt verankert ist, wechselte von Gold zu Blau.

Chu Wanning überließ Mei Hanxue die Bewachung der Grenzen und ritt mit dem Wind in das Zentrum des Kampfes, wo er sich anmutig niederließ, wo der Kampf am heftigsten war. Er blickte auf den Himmlischen Riss. Inzwischen war er weit geöffnet, und ein unermessliches und furchterregendes Übel war darin vage zu erkennen.

Die wahnsinnige Energie dieses Wesens war praktisch mit Händen zu greifen, als hätte es das Blut und die Gehirne von Millionen Menschen getrunken. Die Barriere musste jetzt versiegelt werden, sonst würde das große Böse, das derzeit in den Unendlichen Höllen unterdrückt wird, ausbrechen und in den Bereich der Sterblichen vordringen.

Chu Wanning konnte nicht umhin, sich zu fragen, ob das der Sinn der Sache war. War es das, was die Person hinter den Kulissen wollte? Wollte er eine Art großes Übel aus der Hölle auf diese Welt loslassen? Aber zu welchem Zweck?

„Shizun!", rief Shi Mei ängstlich hinter ihm her.

Chu Wanning drehte sich nach seiner Stimme um.

Erinnerungen an das vergangene Leben überlagerten erneut die gegenwärtige Szene.

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„Shizun!" Shi Mei hatte damals auf die gleiche Weise nach ihm gerufen.

Auch damals hatte sich Chu Wanning nach seiner Stimme umgedreht.

Shi Mei lag keuchend im Schnee, bedeckt mit Blut und Schmutz, aber sein Blick war fest und entschlossen. „Shizun, wirst du den Himmlischen Riss reparieren?"

„Mn."

„Aber das... Das ist nicht nur irgendein Riss, das ist ein Riss in die Unendlichen Höllen. Shizun, wie willst du das allein schaffen?"

Chu Wanning antwortete nicht sofort.

„Lass mich dir helfen. Ich habe in den Pfirsichblütenquellen einige Verteidigungsfähigkeiten gelernt ‒ ich werde Shizun nicht in die Quere kommen..."

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Selbst jetzt hörte er noch fast den Wortwechsel, der vor so vielen Jahren über Leben und Tod entschieden hatte. Mo Rans Blut gefror und sein Kopf wurde taub. Ohne Vorwarnung packte er Shi Mei und zog ihn hinter seinen eigenen Körper. Dann schob er ihn zu Xue Meng und schrie: „Xue Ziming, behalte ihn im Auge! Kümmere dich um ihn!"

Die Augen von Xue Meng weiteten sich. „Gehst du weg, Köter?"

„Ich..."

Der Wind frischte auf und trug den Gestank von Blut mit sich. Am Himmel wehten keine Schneeflocken; wenigstens war einiges anders als im letzten Leben.

Mo Rans Blick blieb auf der verlorenen und hilflosen Gestalt von Shi Mei hängen. Er spürte, wie sich sein Herz zusammenzog, dann aber mit Erleichterung erfüllt wurde. Diese Barriere konnte nicht von Chu Wanning allein repariert werden. Aber außer seinen drei Schülern war niemand mit seiner spirituellen Kultivierung vertraut genug, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Einer von ihnen musste gehen.

Der Wind rauschte heftig über das Schlachtfeld und fegte über Tausende von Kilometern verzweifelten Gemetzels hinweg. Mo Ran spannte sich an und zog dann Shi Mei in seine Arme. Es war das erste Mal, dass er ihn so offen und direkt umarmt hatte. Er hielt ihn einen Moment lang fest und stieß ihn dann abrupt von sich.

Shi Mei. Ich fürchte, dieses Mal werde ich derjenige sein, der stirbt.

„Ich werde Shizun helfen, die Barriere zu versiegeln", erklärte Mo Ran in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. Er verengte seine Augen und warf Shi Mei einen weiteren tiefen, bedeutungsvollen Blick zu.

Plötzlich war es ihm egal, was die anderen denken würden, es war ihm egal, dass Xue Meng direkt vor ihm stand, es war ihm egal, dass er zurückgewiesen werden könnte. Er hatte zwei Leben lang gewartet, zwei Leben lang geliebt, und nun ging er fort, um vielleicht nie mehr zurückzukehren. Im wilden Wind stehend, wollte er seinem Geliebten ein paar letzte Worte sagen.

„Shi Mei, eigentlich, ich..." Doch als er den Mund öffnete, um zu sprechen, wurden seine Worte von dem Gebrüll der bösen Geister übertönt. Dieser flüchtige Impuls, kochend heiß wie Lava, wurde in diesem einen Moment kalt. Am Ende verpuffte er.

„A-Ran, wolltest du etwas sagen?"

Eine Erinnerung an sein früheres Leben blitzte in Mo Rans Augen auf: Er sah das sanfte Lächeln von Shi Mei hinter dem halb hochgezogenen Vorhang. Wie grausam es gewesen war. Es hatte ihn sein ganzes Leben lang begleitet, sogar bis zum Tod. Es war überall, wo er hinsah.

Mo Ran grinste, die Ränder seiner Augen waren ein wenig rot. „Macht nichts, gute Dinge kann man nur einmal sagen."

Shi Mei sagte: „Du..."

„Ich gehe los, um Shizun zu helfen. Wenn ich zurückkomme... Wenn ich es dir immer noch sagen will..." Seine Grübchen waren tief, sein Blick war voller Liebe. „Werde ich es dir dann sagen." Mit diesen Worten drehte er sich um und raste auf Chu Wanning zu.

Diesmal würde Shi Mei nicht sterben. Zumindest nicht vor seinen Augen. Mo Ran hatte plötzlich das Gefühl, dass der Himmel grenzenloser und der Boden weitläufiger war. Er stellte sich vor, dass die Gestalt vor ihm, deren weiße Roben sich wogten, der Schlusspunkt seines wiedergeborenen Lebens sein würde.

Sein Shizun, der die ganze Welt in seinem Herzen trug.

Als Shi Mei im Sterben lag, um die Reparatur der Barriere zu vollenden, um die wütenden bösen Geister zu vertreiben, hatte Chu Wanning ihm rücksichtslos den Rücken gekehrt. Diesmal würde Mo Ran derjenige sein, der die Barriere mit Chu Wanning reparieren würde. Chu Wanning verachtete ihn so sehr, hasste ihn so sehr, dass er auf keinen Fall seinen guten Ruf als Beidou Unsterblicher aufgeben würde, um einen Gedanken an das Leben oder den Tod seiner unbedeutenden Person zu verschwenden.

„Shizun." Mo Ran blieb vor ihm stehen, Jiangui glühte in seiner Hand. „Diese Barriere ist schwer zu reparieren. Lass mich dir helfen."

Die Situation war katastrophal. Chu Wanning warf ihm einen wortlosen Blick zu: ein stillschweigendes Einverständnis. Er sprang auf und stellte sich auf den höchsten Punkt des Herrenhauses der Chens, Mo Ran folgte ihm auf den Fersen. „Setze den Emphatischen-Bindungszauber", sagte Chu Wanning.

Mo Ran bewegte sich im Einklang mit ihm und folgte seinen Anweisungen. Einer drehte sich nach links, der andere nach rechts. Die Fingerspitzen glühten mit dem Siegel der Emphatischen-Bindungszauber, als sie ihre Hände gemeinsam in die Luft hoben.

„Beschwören!"

Bei der Beschwörung strömte spirituelle Energie aus ihren Körpern. Die beiden arbeiteten als Einheit, jeder hielt einen wichtigen Erdungspunkt des Feldes fest und nutzten ihre überschäumende Kraft, um eine scharlachgoldene Barriere zu bilden.

Als sich die Barriere nach außen ausdehnte, kreischte jeder Dämon, den sie berührte, als hätte er sich verbrannt auf und floh zurück in das Auge des Geisterreichs. Die Barriere wurde von Sekunde zu Sekunde klarer und heller, und unter ihren Füßen erhob sich ein Paar gewundener Drachenplattformen aus spiritueller Energie, die die beiden hoch in den Himmel über der Stadt hoben.

Vor dem gleißend goldenen und scharlachroten Licht der Barriere begann sich das Geisterauge langsam zu schließen. Doch gleichzeitig wurden die widerspenstigen Geister innerhalb des Risses immer wütender und weigerten sich, nachzugeben. Mit jedem Zentimeter, den sich die Barriere näherte, verstärkte sich die böse Energie, die aus dem Riss strömte, und als der Rand der Barriere nur noch wenige Meilen vom Riss entfernt war, war die Verderbnis, die aus den Tiefen des Risses drang, fast körperlich spürbar.

Mo Rans wiedergeborener Körper fühlte sich an, als hätte sich ein schweres Gewicht auf seine Schultern gelegt, als würde ein riesiger, tausend Tonnen schwerer Felsen gegen seine Brust drücken. Er hatte Mühe zu atmen. Gegenüber von ihm war Chu Wannings spirituelle Energie stark und gleichmäßig und strömte unaufhörlich in die Barriere.

Ein Zentimeter, ein weiterer. Die Stürme, die um sie herum peitschten, waren dicht mit Verderbnis gefüllt, verstärkten sich und näherten sich ihrer Position. Mo Ran hatte das Gefühl, als ob sich unzählige Dolche in sein Fleisch und seine Knochen bohrten.

„Shizun..." Als sein Bewusstsein zu schwinden begann, huschten erneut Erinnerungen aus der Vergangenheit vor seine Augen:

Er sah, wie Shi Mei und Chu Wanning zusammenarbeiteten, um die Barriere zu reparieren. Es waren nur noch wenige Sekunden, bis die Welten von Yin und Yang wieder voneinander getrennt sein würden. Die bösen Geister, die bald wieder ohne Yang-Energie sein würden, sahen, dass Shi Meis Seite viel schwächer war. Sie scharten sich zusammen und stürmten gemeinsam auf Shi Mei zu. Im Handumdrehen wurde Shi Mei, der alles getan hatte, um das Gleichgewicht der Barriere aufrechtzuerhalten, durchbohrt.

Nun wiederholte sich diese Szene, fast Zug um Zug. Nur diesmal war Mo Ran derjenige, dessen Herz von tausend Geistern durchbohrt wurde. Eine Kaskade dämonischer böser Geister durchbrach die schwere Wolkendecke und durchschlug blitzschnell Mo Rans Brust. Rot schwamm vor Mo Rans Augen. Es dauerte einen Moment, bis er registrierte, dass es sein eigenes Blut war, das aus seiner Brust quoll.

In dem erstickenden Strom ertrinkend, versuchte er, sich zu Chu Wanning umzudrehen, doch er sah nur die makellose weiße Robe und das kalte, teilnahmslose Gesicht des Mannes, der sich abwandte und ihm nicht einmal einen halben Blick zuwarf.

Groll durchflutete seine Brust. Er verfestigte sich zu tiefem Hass.

Mo Ran stürzte von der Plattform des zusammengerollten Drachens, Blut sickerte aus seinen Mundwinkeln, seine Brust war tiefrot gefärbt. Der Sturz dauerte nur einen Augenblick, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit, wie ein Ertrinkender, der langsam auf den Grund des Meeres sinkt und nie wieder das leise Flüstern der lebendigen Welt hören wird.

Chu Wanning hatte keinen einzigen Finger für ihn gerührt. Er hatte nicht versucht, den Angriff zu verhindern. Er konnte sich nicht einmal die Mühe machen, hinzusehen.

Als Mo Ran fiel, verflüchtigte sich seine scharlachrote spirituelle Energie. Und genau wie im vorigen Leben entschied sich Chu Wanning, den Rest seiner Energie in den Teil der Barriere zu stecken, den Mo Ran nicht reparieren konnte, und zwang die Barriere allein durch seine Energie mit einem donnernden Knall zu schließen.

Die auf dieser Seite des Tores verbliebenen bösen Geister, die von der Yin-Energie des Geisterreichs abgeschnitten waren, fielen sofort in einen wahnsinnigen Ansturm auf die Kultivierer. In wenigen Augenblicken mähten sie unzählige lebende Seelen nieder und vernichteten die Formationen mehrerer Sekten.

Chu Wanning stieg herab. Als Mo Ran fiel, hatte sich unter der gewundenen Drachensäule eine Lichtschicht gebildet, die seinen Sturz abfederte. Aber seine Brust war durchbohrt worden, und das Blut sammelte sich auf dem Boden unter ihm, genau wie das von Shi Mei damals. Chu Wanning schlug die bösen Geister zurück, die auf Mo Ran zustürmten, und ließ mit einem Wink mit der Hand eine schützende Barriere um ihn fallen.

„Shizun...", murmelte Mo Ran hinter ihm leise. „Gehst du etwa..." Er hustete Blut, aber ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Gehst du schon wieder?"

Außerhalb der fließenden goldenen Barriere stand diese Person weiterhin mit dem Rücken zu ihm. Mo Ran öffnete den Mund, aber seine Kehle war mit dem Geschmack von Eisen gefüllt. „Chu Wanning, bist du aus Holz gemacht? Weißt du überhaupt, wie es ist, traurig zu sein, egoistisch zu sein? Weißt du ... Chu Wanning ... Chu Wanning ..."

Mo Rans Sicht verschwamm. Er war mit Wunden aus dem Kampf übersät. Blut floss aus einem Schnitt auf seiner Stirn in seine Augen, und als er den Kopf zurückwarf und wild in den Himmel lachte, als wäre er verrückt geworden, liefen ihm blutige Tränen übers Gesicht. Seine Stimme brach in einem Schluchzen. „Chu Wanning, dreh dich um! Sieh mich an ... willst du wirklich gehen ..."

Willst du mich nicht ein letztes Mal ansehen? Ich liege im Sterben. Damals, als es Shi Mei war, hast du ihm wenigstens einen Blick gegönnt.

Du... Kannst du mich wirklich so wenig … leiden? Siehst so sehr auf mich herab? Warum sonst würdest du dich weigern, mich anzusehen, nur ein letztes Mal? Warum willst du dich nicht umdrehen?

„Shizun..." Seine Augen quollen über vor Blut und Tränen. Das letzte, was er durch die goldene Barriere sah, war der Rücken dieser einsamen Gestalt in weißer Robe, die sich entfernte.

Um Dämonen zu unterdrücken.

Am Ende stellte sich heraus, dass es im Herzen dieses Mannes niemanden gab, der ihm weniger wichtig war als Mo Weiyu.

 

 

 

Erklärungen:

Alklaid, 瑶光, Yao Guang, ist der ganz linke Stern im Großen Wagen.

Obwohl er ihn ‘Neffe‘ nennt, impliziert Li Wuxin damit keine Blutsverwandtschaft. Mei Hanxue verwendet hier er den familiären Begriff in demselben Sinne wie ein schmieriger Verkäufer, der einen potenziellen Kunden als ‘Dage‘ (älterer Bruder) bezeichnet.




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5 Kommentare:

  1. NEIIINNN........ Ahhhhh das gibt es doch wohl nicht.....

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    1. Doch, doch, mir hat dieses Kapitel das Herz gebrochen. Kleiner Spoiler, die nächsten 22 Kapitel werden dir hier und da das Herz brechen, ich garantiere dir das. XD

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  2. O________________O
    Cliffhanger vom feinsten o.O Ich schreibe sowas selber sehr gerne und sitze dabei mit einem diabolischen Grinsen vor dem PC. Aber es ist dennoch immer wieder was anderes, wenn man sowas liest und man erstmal warten muss wie es weiter geht.
    Man konnte sich die Schlacht hier sehr gut vorstellen. Das Geschrei, die Panik, der Geruch von Blut und der Wahnsinn der dort herrschte. Die Chancen standen erst gut, dann wieder schlecht, dann wieder gut. Aber der Preis des Sieges ist dennoch sehr hoch. Mo Ran konnte Shi Mei retten und nahm selber den Platz ein und endete genauso wie Shi Mei in seinem früheren Leben. Chu Wanning bleibt nichts anderes übrig als weiter zu machen. Tief in sich drin, müsste Mo Ran das wissen. Wenn Chu Wanning aufhören würde, wäre alles vergebens und mehr Tote würde es geben und eine noch größere Katastrophe. In diesem Moment kann Mo Ran das aber nicht sehen und auch in seinem früheren Leben nicht. Aus seiner Sicht gesehen, würde man wohl ebenfalls so denken. Und dennoch liebe ich diesen letzten Teil von dem Kapitel. Ich hab so eine Schwäche für solche Szenen *-*
    P.s: Stars of Chaos und Thousand Autumns will ich auch noch lesen. Aber es wir noch etwas dauern, bis ich da angefangen habe und auf den neusten Stand bin. Bis dahin halte durch, ehe ich dir dort auch auf die Nerven gehe XD

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    1. Das Warten ist das Schlimmste ich muss hier und da 4 Monate auf einen nächsten Band und somit circa 30 neue Kapitel warten, aber ihr müsst jede Woche aufs neue auf ein bis zwei Kapitel warten. Was ist schlimmer, i weiß es nicht.
      Mo Rans Verzweiflung in einer solchen Situation ist einfach mit den Händen zu greifen und für beide Seiten verständlich.
      Mo Ran hat in seinem Leben sehr viele Verluste erlitten und durch verschiedene Gründe hat er sehr wenig positive Aufmerksamkeit von seinen Mitmenschen bekommen. Er kann so etwas von Personen die ihm nahe stehen und von denen er viel hält einfach nicht so gut wegstecken, wie jemand der nicht eine so krasse Vergangenheit eine so traumatische Kindheit erlebt hat wie er.

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  3. Beides schlimm XD Ich warte gerade sehnsüchtig auf das nächste Band von Heaven Official's Blessing.
    Sein Leben war von Anfang an schwer. Und dann ist vieles auch schief gegangen. Missverständnisse kamen dazu, oder auch gesagt, eine Scheiße nach der nächsten.

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