Der Sisheng-Gipfel hat eine Klippe mit einem lustigen Namen, der Aaaaah lautet. Innerhalb der Sekte gab es zahlreiche Geschichten darüber, wie dieser Name zustande kam. Die gängigste war, dass die Leute oft von der Klippe fielen, weil sie so steil war, und dabei ‘Aaaaah!‘ schrien.
Aber Mo Ran wusste, dass das nicht der Grund war.
Die Klippe ragte hoch in die Wolken, steil und fast
unmöglich zu erklimmen. Es war furchtbar kalt, und der Gipfel war das ganze
Jahr über mit Schnee bedeckt. Hier lagen die Toten des Sisheng-Gipfels, während
sie auf ihre Beerdigung warteten.
Mo Ran war in seinem früheren Leben nur ein einziges Mal
hierher gekommen.
Damals wie heute war es nach der blutigen Schlacht gewesen,
die auf die Öffnung des Risses zu den Unendlichen Höllen folgte und die
unzählige Leben beendet hatte, darunter auch das von Shi Mei. Er hatte sich
geweigert, die Realität zu akzeptieren, und hatte tagelang neben Shi Meis Sarg
gekniet und sein Gesicht darin betrachtet, das fast so aussah, als würde er nur
schlafen.
„Ihr wurde der Name 'Aaaaah' gegeben, aus der Zeit, als
dein Vater gestorben ist", hatte Xue Zhengyong ihm im vergangenen Leben
verraten, als er seinen Neffen durch die kühle Luft der Frosthimmel-Halle
begleitete. „Ich hatte nur einen Bruder. Wir haben den Sisheng-Gipfel gemeinsam
gegründet. Aber dein Vater...er war stur, genau wie du. Er kam kaum in den
Genuss des guten Lebens, oder vielleicht hatte er es satt. Aber ein Missgeschick
gegen die Dämonen, und er war weg."
Es war eiskalt in der Frosthimmel-Halle. Xue Zhengyong nahm
einen Schluck aus dem Schafsleder mit Wein, das er mitgebracht hatte, und bot
es Mo Ran an. „Hier, trink etwas. Aber sag deiner Tante nichts davon."
Mo Ran nahm ihn nicht an, bewegte sich nicht.
Xue Zhengyong seufzte. „Ich war so unglücklich in jenen
Tagen. Es fühlte sich an, als hätte man mir das Herz ausgegraben. Alles, was
ich tat, war, hier mit deinem Vater zu sitzen und zu weinen. Ich hörte mich
ziemlich schrecklich an, als ich weinte. Ich heulte einfach nur ein Aaaaah ‒
und daher kommt der Name." Er warf einen Blick auf Mo Ran und klopfte ihm
auf die Schulter. „Dein Onkel ist nicht belesen oder so, aber so viel weiß ich:
Das Leben ist vergänglich wie der Morgentau, in einem Wimpernschlag vorbei.
Mingjing ist dir nur ein Stück voraus. Du kannst im nächsten Leben wieder sein Bruder sein."
Mo Ran schloss langsam die Augen.
„Beileidsbekundungen und so weiter sind nur Worte",
fuhr Xue Zhengyong fort. „Wenn du traurig bist, dann weine ruhig. Wenn du nicht
gehen willst, bleibe und leiste ihm Gesellschaft. Aber du musst essen und dein
Wasser trinken. Geh in die Mengpo-Halle und iss etwas. Danach kannst du hierher
zurückkommen und so lange knien, wie du willst. Ich werde dich nicht aufhalten."
Die Frosthimmel-Halle war eisig und still. Weiße Seide schwebte
leicht in der großen Halle, wie sanfte Finger, die über die Stirn streichen.
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Mo Ran öffnete langsam seine Augen.
In seiner Erinnerung war es immer noch derselbe Eissarg. Er
war aus dem geheimnisvollen Schnee von Kunlun gefertigt. Glänzend und
durchscheinend, mit Fäden aus gefrorenem Nebel, die um ihn herum strömten. Nur
dass es diesmal der Körper von Chu Wanning war, der darin lag.
Mo Ran hätte nie gedacht, dass derjenige, der in diesem
Leben beim Himmlischen Riss sterben würde, Chu Wanning sein würde. Er war
völlig überrumpelt und wusste nicht, wie er reagieren sollte. Angesichts des
eiskalten Körpers dieses Menschen empfand er nicht viel ‒ weder Freude über den
Tod seines Gegners noch Trauer über das Ableben seines Shizun.
Mo Ran starrte Chu Wanning lange Zeit mit gesenkten Wimpern
an, fast ungläubig. Sein Gesicht wirkte noch kälter als sonst, in Wahrheit war
es jetzt mit einer Frostschicht überzogen. Eisflecken klebten an seinen
geschlossenen Wimpern. Seine Lippen waren blassblau, und seine Haut war fast
durchsichtig, das schwache Blau der Adern sichtbar wie winzige Risse im
Porzellan.
Wie konnte er derjenige sein, der sterben musste?
Mo Ran hob seine Hand, um Chu Wannings Wange zu berühren;
sie war kalt. Seine Hand fuhr hinunter zu seinem Hals, seinem Nacken; dort war
kein Puls. Und dann zu seiner Hand. Er fasste sie an; die Gelenke begannen sich
bereits zu versteifen, und die Haut fühlte sich rau an. Mo Ran fand das seltsam
- Chu Wannings Fingerspitzen waren leicht schwielig, aber seine Handflächen
waren immer weich und zart gewesen. Trotzdem sah er genauer hin. Seine Hände
waren mit zahlreichen Schnittwunden übersät: offene Wunden, die, obwohl sie
gereinigt wurden, nie verheilen würden.
Er erinnerte sich an die Worte von Xue Meng.
Seine spirituelle Energie war vollkommen
erschöpft. Zu diesem Moment unterschied er sich nicht von einem gewöhnlichen
Menschen. Er konnte nicht eine einzige Technik anwenden, nicht einmal einen
einfachen Kommunikationszauber. Er konnte dich nur auf dem Rücken tragen und
die Treppe des Sisheng-Gipfels hinaufsteigen, Schritt für Schritt.
Und als er das nicht mehr konnte, als er nicht
einmal mehr stehen konnte, war er auf dem Boden gekrochen, auf den Knien, und
hat dich mitgeschleift, bis seine Finger zerfetzt und seine Hände
blutverschmiert waren.
Alles, um ihn nach Hause zu bringen.
„Warst du es, der mich zurückgetragen hat?", murmelte
Mo Ran hohl.
Seine Frage wurde nur mit Schweigen beantwortet.
„Chu Wanning, warst du es...?"
Schweigen. Keine Antwort.
„Ich glaube es erst, wenn du nickst", sagte Mo Ran zu
dem Mann im Sarg. Sein Gesichtsausdruck war ruhig, als würde er erwarten, dass
die Person vor ihm aufwachen würde. „Chu Wanning, nick mir zu. Nur ein Nicken,
und ich werde dir glauben, und ich werde dich nicht mehr hassen. Nur ein
Nicken, okay?"
Aber Chu Wanning lag nur da, kalt und ausdruckslos, als ob
es ihm egal wäre, ob Mo Ran ihn hasste oder nicht. Er selbst war mit reinem
Gewissen gegangen und hatte die Lebenden ihrer Schuld überlassen.
Ob tot oder lebendig, dieser Mensch löste bei ihn mehr Zorn
und Verdruss aus als Mitleid. Mo Ran grinste. „Andererseits", sagte er, „wann
hast du mir jemals zugehört, wann hast du mich jemals beachtet?"
Während er Chu Wanning anstarrte, kam ihm die ganze Sache
plötzlich so absurd vor. All die Jahre hatte er Chu Wanning dafür gehasst, dass
er auf ihn herabschaute. Der Hass hatte sich noch vertieft, als er Shi Mei
nicht retten konnte. Über ein Jahrzehnt lang hatte dieser Hass in seinem Herzen
geschwelt und sich immer weiter gedreht. Eines Tages, wie aus dem Nichts,
erfuhr er...
Als Chu Wanning sich damals abwandte und ging,
tat er das, um dich zu schützen!
Plötzlich wurde ihm gesagt, dass...
Der Emphatische-Bindungszauber verstrickt euch beide
miteinander! Was auch immer du erlitten hast, er hat den gleichen Schaden
erlitten!
Seine spirituelle Energie war verbraucht. Er
konnte sich nicht einmal mehr selbst schützen, er...
Na toll. Fantastisch. Perfekt. Chu Wanning hatte mit allem,
was er tat, recht. Und was ist mit Mo Ran?
Man hatte ihn wie einen Narren im Dunkeln gelassen und ihn
wie einen Clown herumgeführt. So lange hatte er vor Schmerz Grimassen
geschnitten, sein Herz ausgegraben, geknurrt und gefaucht, gefangen in seinem Hass.
Und wofür?!
Ein kurzes Missverständnis war wie ein Schmutzfleck auf
einer heilenden Wunde. Solange er rechtzeitig entdeckt, abgewaschen und die
Salbe wieder aufgetragen wurde, war alles in Ordnung. Aber wenn das
Missverständnis zehn, zwanzig Jahre lang bestehen bleibt, wenn die Person, die
in diesem Netz gefangen ist, endlosen Hass, Sorgen, Verdrängung und sogar ihr
Leben in das Missverständnis hineinschüttet, dann werden diese Emotionen
schorfig und wachsen zu einer neuen Haut heran, werden Teil des eigenen
Körpers.
Und dann wird einem plötzlich gesagt: So ist es nicht,
du hast das alles falsch verstanden. Was dann? Der Schmutz hatte sich im
Laufe der Zeit unter der Haut festgesetzt und war bereits im Blut aufgegangen.
Um diesen vergangenen Hass zu entfernen, müsste das verheilte Fleisch wieder
aufgerissen werden.
Ein Missverständnis von einem Jahr ist ein Missverständnis.
Ein Missverständnis von zehn Jahren ist eine Ungerechtigkeit. Ein
Missverständnis von einem ganzen Leben, vom Leben bis zum Tod, ist Schicksal.
Ihr Schicksal war besiegelt.
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Die schweren Tore der Frosthimmel-Halle schwangen langsam
auf.
Wie im vorigen Leben schritt Xue Zhengyong, ein Schafsleder
mit Wein in der Hand, schwerfällig zu Mo Ran und setzte sich neben ihn auf den
Boden.
„Ich habe gehört, dass du hier bist. Dein Onkel wird dir
Gesellschaft leisten." Xue Zhengyongs grimmige Augen waren rot. Er hatte
vor nicht allzu langer Zeit offensichtlich geweint. „Und er auch."
Mo Ran sagte nichts. Xue Zhengyong drehte die Kappe des
Schafsleders auf und trank tief, bevor er zur Ruhe kam. Er wischte sich grob
über das Gesicht und zwang sich mühsam zu einem Grinsen. „Yuheng hat es nie
gemocht, wenn ich getrunken habe, aber jetzt...", er seufzte. „Nein, schon
gut, schon gut. Ich bin noch nicht einmal so alt, aber ich habe mich schon von
so vielen Freunden verabschiedet. Ran-er, weißt du, wie sich das anfühlt?"
Mo Ran senkte schweigend seine Wimpern. Xue Zhengyong hatte
ihm in seinem früheren Leben die gleiche Frage gestellt. Damals hatte er nur
Augen für den leblosen Körper von Shi Mei gehabt ‒ was kümmerte es ihn, ob
andere lebten oder starben? Er verstand es nicht, und er wollte es auch nicht
verstehen.
Aber wie könnte er es jetzt nicht verstehen?
Bevor er wiedergeboren worden war, hatte er allein in den
leeren Hallen des Wushan-Palastes gestanden. Eines Tages hatte er von längst
vergangenen Tagen als Yuhengs Schüler geträumt und war von einem plötzlichen
Drang, sein altes Zimmer im Schülerquartier aufzusuchen, aus seinem leichten
Schlummer aufgeschreckt worden. Als er die Tür öffnete und eintrat, war der
schmale Raum, der so lange unbenutzt gewesen war, mit einer Staubschicht
bedeckt.
Er fand einen kleinen Duftbrenner, der vor vielen Jahren
von jemandem umgestoßen worden war und nun auf dem Boden lag. Aus Gewohnheit
hob er ihn auf und stellte ihn an seinen angestammten Platz zurück. Doch die
Jahre waren wie ein reißender Strom an ihm vorbeigeflossen. Als er den Brenner
in der Hand hielt, erstarrte er plötzlich. „Wo habe ich diesen Brenner früher
aufbewahrt?"
Er konnte sich nicht erinnern. Sein adlerartiger Blick
schweifte über die Diener hinter ihm, aber ihre Gesichter waren verschwommen. Er
konnte sie nicht voneinander unterscheiden. Aber natürlich würden diese Leute
nicht wissen, wo in seinem alten Zimmer der jugendliche Kaiser diesen
Duftbrenner aufbewahrte.
„Wo habe ich diesen Brenner aufbewahrt?" Er konnte
sich nicht erinnern, und alle, die es wussten, waren tot oder verschwunden.
Wie konnte Mo Ran nicht verstehen, wie sich Xue Zhengyong
in diesem Moment fühlte?
„Ab und zu erinnere ich mich aus heiterem Himmel an einen
Witz aus meiner Jugend und plaudere ihn aus. Aber dann merke ich, dass kein
Mensch mehr da ist, der ihn versteht." Xue Zhengyong nahm einen weiteren
Schluck Wein, senkte den Kopf und stieß ein freudloses Lachen aus. „Wie dein
Vater, oder unsere Freunde von früher ... oder dein Shizun. Ran-er, weißt du,
warum diese Klippe Aaaaah heißt?" Die Tränen in seinen Augen brachen sich
in Lichtfragmenten.
Mo Ran wusste, was er sagen wollte, aber er war zu
verzweifelt, um jetzt von Xue Zhengyong etwas über seinen toten Vater zu hören.
„Ich weiß. Das liegt daran, dass Onkel hier immer geweint hat."
„Ah ..." Xue Zhengyong hielt inne und blinzelte
langsam, die Falten in seinen Augenwinkeln waren tief. „Hat dir das deine Tante
erzählt?"
„Mn."
Xue Zhengyong wischte sich die Tränen weg und holte tief
Luft. „Na gut, okay. Dann weißt du ja schon, was der Onkel sagen wollte. Nur
zu, lass es raus, wenn du traurig bist. Es ist nicht schlimm. Es ist keine
Schande, um jemanden zu weinen."
Aber Mo Ran weinte nicht. Vielleicht war sein Herz nach
zwei Leben in dieser Situation bereits zu Eisen verhärtet. Verglichen mit
seiner Verzweiflung über den damaligen Tod von Shi Mei, war sein jetziges Ich
sehr ruhig. So ruhig, dass er von seiner eigenen Gefühllosigkeit verunsichert
war und sich wunderte, dass er wirklich so herzlos war.
Xue Zhengyong trank zu Ende und blieb noch eine Weile, dann
stand er etwas unsicher auf. Vielleicht hatten seine Beine durch das lange
Knien das Gefühl verloren, vielleicht hatte er auch zu viel getrunken. Mit
seiner breiten Hand klopfte er Mo Ran auf die Schulter. „Der himmlische Riss
hat sich geschlossen, aber wir wissen immer noch nicht, wer dahinter steckt.
Vielleicht war das das Ende, aber es könnte eine weitere große Schlacht
bevorstehen. Ran-er, sieh zu, dass du runtergehst und etwas isst. Mach deinen
Körper nicht kaputt."
Mit diesen Worten drehte er sich um und ging.
Es war Nacht, und außerhalb der Frosthimmel-Halle hing eine
abnehmende Mondsichel am Himmel. Während er mit einem halbvollem Schafsleder mit
Wein in der Hand durch den Schnee schritt, der das ganze Jahr über die Klippen
bedeckte, ertönte Xue Zhengyongs Stimme, tief und rau wie ein zerbrochener
Gong, in einer kurzen Melodie aus Sichuan:
„Ich habe meinen alten Freund
verehrt, der ein halber Geist war, aber jetzt können wir gemeinsam einen Becher
Wein trinken. Unter dem Osmanthus-Baum trinken wir zusammen den versteckten
Krug Wein, unsere Gesichter verfallen und unsere Schläfen sind bereits fleckig.
Das erste Licht der Morgendämmerung zerbricht den Traum, alle gehen fort und
lassen mich mit meinem Alter und Tränen allein. Ich würde das, was von meinem
Leben übrig ist, dem Gott der Träume geben, wenn ich dich mit deinem Wein in
meine Arme zurückrufen könnte, Becher für Becher."
Die Dinge waren anders als im vergangenen Leben, denn derjenige,
der gestorben war, war nicht Shi Mei, sondern Chu Wanning, und so wurde Xue
Zhengyong von einem noch tieferen Kummer geplagt.
Mit dem Rücken zu den offenen Toren der Frosthimmel-Halle
lauschte Mo Ran dem nachklingenden Klang der heiseren Stimme, die klangvoll und
traurig war. Nach und nach, wie ein Adler, der über den Horizont fliegt,
entfernte sich die Stimme, bis sie von Wind und Schnee verschluckt wurde. Die
Welt war von einer glänzenden weißen Schicht bedeckt, und der Mond hoch oben am
grenzenlosen Himmel überflutete alles, bis er schwach und unbedeutend wurde und
nur noch eine Zeile übrig blieb, die immer wieder erklang.
„Mich mit meinen alten Tränen allein lassend... mich mit
meinen alten Tränen allein lassend..."
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Mo Ran war sich nicht sicher, wie viel Zeit vergangen war,
als er schließlich die Frosthimmel-Halle verließ, um seinen langsamen Abstieg
den Berg hinunter zu beginnen.
Sein Onkel hatte recht. Der himmlische Riss mochte
geschlossen sein, aber diese Angelegenheit war noch lange nicht vorbei. Chu
Wanning war nicht mehr da, und wenn es zu einer weiteren Schlacht kam, musste
Mo Ran für sich selbst sorgen.
Es war schon spät, als er die Mengpo-Halle erreichte, und
außer der alten Frau, die das späte Abendessen zubereitet hatte, war niemand
mehr da.
Mo Ran bat um eine kleine Schüssel Nudeln und suchte sich
einen Platz in der Ecke, um langsam zu essen. Die Nudeln waren heiß und
betäubend, warm in seinem Magen. Die Mengpo-Halle war nur schwach beleuchtet,
und als er zwischen den Bissen durch die dichte Dampfwolke nach oben blickte,
war es dunstig.
Er erinnerte sich daran, wie hartnäckig er nach Shi Meis
Tod in seinem früheren Leben gewesen war. Wie er sich drei Tage lang geweigert
hatte, zu gehen oder zu essen. Und wie er später, als er endlich überredet
worden war, die Frosthimmel-Hall zu verlassen, um etwas zu essen, zufällig Chu
Wanning in der Küche begegnet war, der Mo Ran den Rücken zukehrte, während er
ungeschickt Teigmäntel rollte und Füllungen mischte. Auf dem Tisch standen Mehl
und Wasser, und ein paar Reihen von Wan Tans waren in ordentlichen nebeneinander
aufgestellt worden.
Klirren. Das Krachen, mit dem alles
vom Tisch gefegt wurde, ertönte aus der Vergangenheit und ließ die Stäbchen in
Mo Rans Hand erstarren. Plötzlich fiel es ihm schwer, zu schlucken. Damals
hatte er gedacht, dass Chu Wanning ihn verspottete, dass er ihn absichtlich
verletzen wollte. Aber wenn er jetzt darüber nachdachte, war es möglich, dass
Chu Wanning ihm wirklich nur eine Schüssel Wan Tans anstelle des verstorbenen
Shi Mei machen wollte.
‘Wer zum Teufel denkst du, wer du bist?! Hast du irgendein
Recht, die Dinge zu benutzen, die er benutzt hat? Um das Essen zu machen, das
er gemacht hat? Shi Mei ist tot ‒ bist du jetzt glücklich? Oder musst du
alle deine Schüler in den Tod oder Wahnsinn treiben, bevor du zufrieden bist?
Chu Wanning! Es gibt niemanden mehr auf dieser Welt, der jemals wieder diese Wan
Tans machen könnte. Egal, wie sehr du ihn nachahmst, du wirst nie auch nur in
seine Nähe kommen!‘
Jedes Wort war ein Stich ins Herz.
Er aß weiter seine Nudeln und wollte nicht weiter darüber
nachdenken. Aber so einfach war es nicht; seine Erinnerungen gaben ihm keine
Ruhe.
Er erinnerte sich an Chu Wannings Gesicht in diesem Moment
mit schrecklicher Klarheit, klarer als je zuvor. Sein Gesicht hatte nichts
verraten, weder Freude noch Trauer. Er erinnerte sich an jedes Detail mit einer
noch nie dagewesenen Schärfe. Er erinnerte sich an das schwache Zittern der
Fingerspitzen, an den Mehlfleck auf der Wange. Er erinnerte sich an die dicken,
schneeweißen Wan Tans, die auf dem Boden verstreut lagen. Er erinnerte sich
daran, wie Chu Wanning seine Wimpern gesenkt und sich gebückt hatte, um die nun
ungenießbaren Wan Tans vorsichtig aufzuheben, und sie dann mit seinen eigenen
Händen weggeworfen hatte.
Er warf sie mit seinen eigenen Händen weg.
Mehr als die Hälfte der Nudeln mit Erbsen war noch übrig,
aber Mo Ran konnte keinen weiteren Bissen mehr vertragen. Er schob die Schüssel
weg und floh, bevor dieser Ort ihn in den Wahnsinn treiben konnte. Er raste wie
ein Verrückter über den Sisheng-Gipfel, als wolle er diesem jahrzehntelangen
Missverständnis entkommen, als wolle er diese lächerlichen Jahre
zurückgewinnen, als wolle er die Person einholen, die an jenem Tag ganz allein
die Mengpo-Halle verlassen hatte.
Ihn einzuholen, damit er sagen konnte: Es tut mir leid,
ich hatte Unrecht, dich zu hassen.
Im tiefen Schwarz der Nacht rannte Mo Ran ziellos umher. Er
rannte und rannte, aber überall, wo er hinkam, sah er Reste von Chu Wannings
Schatten: die Plattform der Sünde und der Tugend, wo Chu Wanning ihm das Lesen
beigebracht und ihn im Schwertkampf ausgebildet hatte; die Naihe-Brücke, wo er
mit ihm einen Regenschirm geteilt hatte, als sie zusammen spazieren gingen. Die
Klarer-Himmel-Halle, wo er die Strafe durch Peitschenhiebe ertragen hatte und
ohne jemanden an seiner Seite zurückgelassen worden war. Er fühlte sich mehr
und mehr verzweifelt, mehr und mehr hilflos.
Plötzlich rannte er auf eine offene Lichtung, und es
schien, als hätte sich der Dunst aufgelöst, und er konnte wieder den hellen
Mond über sich sehen. Er kam zum Stehen und atmete zitternd.
Der Himmelsdurchdringende Turm.
Der Ort, an dem er in seinem letzten Leben gestorben war.
Der Ort, an dem er Chu Wanning zum ersten Mal getroffen hatte.
Mit einem Chaos in den Augen wie auf einem Schlachtfeld,
mit einem Herz, das wild schlug wie Kriegstrommeln, machtlos, die Flut der
Vergangenheit abzuwehren, und hilflos, ihrem unerbittlichen Ansturm zu
entgehen, war er schließlich hierher gezwungen worden. Hier, wo das Mondlicht
am blassesten und die Brise ein sanftes Streicheln war. Wo sie sich zum ersten
Mal getroffen hatten.
Mo Ran hörte schließlich auf zu rennen. Er wusste, dass er
dem nicht entkommen konnte: In diesem Leben musste er Chu Wanning etwas
schulden. Langsam schritt Mo Ran die Stufen hinauf zu dem prächtigen Hai-Tang-Baum.
Er streckte die Hand aus und legte seine Handfläche auf die Rinde des Stammes,
die trocken und hart wie ein schwieliges Herz war.
Es waren fast drei Tage seit Chu Wannings Tod vergangen.
Mo Ran blickte auf. Der blühende Baum sah so sanft aus wie
immer. Erst jetzt stieg eine unergründliche Traurigkeit in seiner Brust auf.
Mit der Stirn an den Stamm des Baumes gepresst, weinte er schließlich und seine
Tränen fielen wie Regen. „Shizun, Shizun", murmelte er zwischen erstickten
Schluchzern. Immer wieder wiederholte er die Worte, die er am Tag seiner ersten
Begegnung mit Chu Wanning gesprochen hatte: „Willst du mir nicht beachten...
Bitte beachte mich..."
Doch obwohl die Szenerie die gleiche blieb, waren die
Menschen nicht mehr da. Mo Ran stand allein vor dem Himmelsdurchdringenden Turm.
Niemand würde ihm mehr Beachtung schenken. Niemand würde ihm hier jemals wieder
begegnen.
Der wiedergeborene Mo Ran hatte den Körper eines
Jugendlichen, aber in ihm steckte die Seele des zweiunddreißigjährigen Taxian-Jun.
Er hatte viel zu viel vom Leben und vom Tod gesehen, alle Freuden und Leiden
der Welt gekostet. Deshalb hatte er in diesem wiedergeborenen Leben nie viel
echte Emotionen gezeigt. Er war immer zurückhaltend geblieben, als ob er sich
hinter einer Maske versteckt hätte. Doch in diesem Moment war der Verlust und
die Angst, die ihm ins Gesicht geschrieben standen, so roh und verletzlich, so
echt und naiv. Nur jetzt war er wie ein gewöhnlicher Jugendlicher, der seine
Shizun verloren hatte, wie ein Kind, das ausgesetzt worden war, wie ein
streunender Hund, der kein Zuhause mehr hatte, zu dem er zurückkehren konnte.
Beachte mich.
Bitte beachte mich...
Am Ende war die einzige Antwort das Rascheln der Blätter
und die tanzenden Schatten der Blumen. Der Mensch mit den markanten Zügen, der
in jenem Jahr unter dem Hai-Tang-Baum gestanden hatte, würde nie wieder den
Kopf heben, um ihn zu betrachten ‒ konnte nie wieder den Kopf heben.
Nicht einmal für einen letzten Blick.
Erklärungen:
‘Bruder‘ bezieht sich hier
eher auf enge Freunde als auf eine Blutsverwandtschaft.
Ich habe meinen alten Freund verehrt, der ein halber Geist war, aber jetzt können wir gemeinsam einen Becher Wein trinken. Unter dem Osmanthus-Baum trinken wir zusammen den versteckten Krug Wein, unsere Gesichter verfallen und unsere Schläfen sind bereits fleckig. Das erste Licht der Morgendämmerung zerbricht den Traum, alle gehen fort und lassen mich mit meinem Alter und Tränen allein. Ich würde das, was von meinem Leben übrig ist, dem Gott der Träume geben, wenn ich dich mit deinem Wein in meine Arme zurückrufen könnte, Becher für Becher: Die erste Zeile des Liedes, das Xue Zhengyong singt, ist einer Zeile aus ‘Dem Einsiedler Wei geschenkt‘ des Dichters Du Fu aus der Tang-Dynastie nachempfunden.
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Es ist ein düsteres, bedrückendes Kapitel. In Mo Ran geht vieles vor. Die Gegenwart ist düster und die Vergangenheit ebenfalls. Zu verstehen was damals gewesen ist, macht es nicht leichter für ihn. Chu Wanning liegt jetzt im Sarg und nicht Shi Mei.
AntwortenLöschenUnd wie Chu Wanning ihn gerettet hat. Er hat alles gegeben, bis er nicht mehr konnte. Dieses Wissen macht es für Mo Ran nicht einfacher und er will es persönlich von ihm hören. Aber das geht nicht.
Das Wissen, dass er seinem Shizun all die Jahre unrecht getan hat, ist in der Tat erdrückend für Mo Ran. Aber Mo Rans verzweifelter Wunsch nach Aufmerksamkeit wird in Kapitel 101 durch einen bestimmten Fakt einen Höhepunkt und eine besondere Tiefer erreichen. Wenn du diesem Fakt liest wirst du verstehen, warum ich ihn einfügen MUSSTE.
LöschenAber ich glaube für Mo Ran war Chu Wannings Tod in seinem vorherigen Leben auch der schlimmste Tod, den er mitgekriegt hat. Den damals, als Shi Mei starb, starb Mo Ran und als Chu Wanning starb gab es für Mo Ran keinen Grund mehr weiterzuleben. Für ihn hörte die Welt auf zu existieren und jetzt hatte Mo Ran nicht einmal die Chance Chu Wanning zu zeigen, dass er sich geändert hat. Er hat wieder einmal nicht die Chance bekommen ein direktes Lob von ihm zu bekommen.
Ach ja, bei diesem Empathischen Bindungszauber hat EiriBelle mir geholfen einen geeigneten Begriff zu finden, den egal welche Übersetzung ich genommen habe, mir hat keine Gefallen. Kein Begriff hat den Zauber so richtig beschrieben oder einem in die Irre geführt.
Zum Schluss musste ich dich tatsächlich heulen qwq da will man Mo Ran in den Arm nehmen und sagen alles wird gut, ob es das aber wirklich wird? Warum hat man ihm aber das damals nicht schon gesagt. Wieso hat Chu wanning damals nichts gesagt? Das er die gleichen Verletzungen hat wie Shi Mei das er deswegen nichts tun konnte?
AntwortenLöschenDas Heulen fängt hier erst an, versprochen.
LöschenIch glaube, warum Chu Wanning nie etwas gesagt hat, hat verschiedene Gründe:
- Er fällt ihm schwer, seine Schwächen zuzugeben, weshalb er Mo Ran nicht sagen konnte, warum er Shi Mei nicht helfen konnte.
- Ich glaube Chu Wanning hatte auch zu viele Schuldgefühle wegen Shi Mei und wollte sich vielleicht damit nicht auseinandersetzen, vor allem mit Mo Ran.
- Er hatte, glaube ich, Angst Mo Ran so etwas zu sagen, weil er befürchtete, er würde ihm nicht glauben und ihn noch mehr hassen. Obwohl ich denke, dass Mo Ran eine Erklärung seitens Chu Wanning sehr viel geholfen hätte, mit der ganzen SItuation umzugehen.
Ja, Chu Wanning hatte damals dieselben Voraussetzungen wie jetzt.
Oh nein....das kann nicht wahr sein. Ist Chu Wanning wirklich Tod? Wie kann man ihm da retten? Vielleicht hilft ein Kuss wie bei Schneewittchen? 🙈 Ich war bei den letzten Kapiteln sehr traurig und habe Tränen vergessen. Arme Chu Wanning, all die Missverständnisse. Das muss wahre Liebe sein, wie er Mo Ran mehr Tod als lebendig in Sicherheit gebracht hat.
AntwortenLöschenJa, Chu Wanning ist wirklich Tod, nein, leider hilft kein Kuss wie bei Schneewittchen. Obwohl es amüsant wäre, wer diesen Kuss ausführen würde und müsste. Ich stelle mir gerade vor, wie ein Xue Meng reagieren würde, wenn er dies tun müsste.
LöschenTränen vergessen? Hast du vergessen zu weinen oder meintest du Tränen vergossen?
Ja, hier hat Chu Wanning endlich mal offen und ehrlich gezeigt, wie wichtig ihm Mo Ran ist und was noch viel wichtiger ist, Mo Ran hat davon erfahren. Und er weiß jetzt endlich die Antwort auf eine Frage, die er Chu Wanning so oft gestellt, aber nie beantwortet bekommen hat, mag Chu Wanning ihn oder schaut er auf ihn herab und nun ja, Chu Wanning schätzt ihn am meisten von allen anderen.